Kapitel 29


Ich kann nicht atmen. Das ist alles woran ich denken kann, während ich mich versuche zwischen all den Menschen im Wohnzimmer hindurch zu drängen. Ich kann nicht atmen, weil die Menge um mich herum mich zu zerpressen droht. Unkoordiniert verpasse ich einem Mädchen vor mir einen Stoß, um durch die entstehende Lücke einen Meter weiter zu stolpern. Mich interessiert nicht, dass sie mich dafür böse anschaut. Eigentlich nehme ich es kaum wahr, so sehr schwankt der Raum um mich herum.

Ich wünschte es läge daran, dass ich zu viel getrunken habe. Doch so fühlt es sich nicht an. Es ist viel schlimmer. Als würden die Wände ein Eigenleben entwickeln und abwechselnd auf mich zufallen, um dann wieder Meter entfernt zu sein. Mir ist übel, während ein Druck meinen Kopf zu zerplatzen droht und ich kann Gott verdammt nicht atmen!

Verkrampft schnappe ich nach Luft, zwinge meine Lungen brennend den Sauerstoff aufzunehmen und taumle weiter auf einem Weg raus hier. Hauptsache weg. Weg von der Küche, weg von...

Die Wände neigen sich mir erneut gefährlich zu und ich wäre gefallen, wäre das im Gedränge hier überhaupt möglich. So knalle ich nur gegen den Rücken eines Fremden, den ich nicht erkennen kann, weil meine Sicht zu verschwommen ist. Alles was ich wahrnehme sind Schatten, die mich zu allen Seiten bedrohlich einkesseln und mir jegliche Luft rauben.

Ich muss hier raus. Ich muss hier raus...

Verzweifelt kämpfe ich mich weiter vor, während die Außenwelt dumpfer und dumpfer wird. Übertönt von meinem laut klopfenden Herzen und den hektischen Atemzügen, die mir entkommen.

Gott verdammt, ich habe eine Panikattacke. Obwohl mein Gehirn zu keinem klaren Gedanken fähig ist, steigt diese Erkenntnis irgendwo aus den Tiefen meines Unterbewusstseins herauf. Ich habe eine Panikattacke und stecke ich einer Menge voller Fremder fest.

Eine Mischung aus Schluchzen und Schreien entkommt meiner Kehle, doch selbst ich nehme das Geräusch über die Laute Musik hinweg nur als eine Vibration auf meinen Lippen wahr. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob ich mich noch bewege und wenn ja in welche Richtung, weil mein Sichtfeld sich auf einen kleinen Punkt verengt hat. Alles was ich spüre ist mein Körper, der völlig außer Rand und Band gerät, und bin gefangen in diesen Empfindungen. In dem Brennen meiner Lunge, die nicht genug Sauerstoff in mich pumpen kann, ins Klopfen meines Herzens, das mir aus der Brust springen will, in...

Eine Hand packt mich und unsanft werde ich mitgezogen. Ich erkenne die Person nicht, bin wie blind und taub in meiner Panik. Aber die Hand ist groß und rau und Hoffnung bahnt sich schmerzhaft einen Weg nach oben. Sean. Es muss Sean sein, der mich aus der Menge hinausmanövriert. Nur er würde sich so um mich kümmern. Begierig schnappe ich nach Luft, die endlich wieder normal in mich strömen will. Er hat es sich anders überlegt. Bereut seine Worte. Sean ist für mich da.

Willenlos lasse ich mich die Treppen nach oben führen, während meine Sicht langsam wieder aufklärt. Jetzt sind es nur noch schwarze Punkte, die mir vor den Augen tanzen und nicht eine Wand aus Dunkelheit. Ich nehme den Flur im oberen Stockwerk wahr, die Tür zum Bad, in dem ich vor Stunden mit Kayla gesessen habe, und dass mich Sean in ein anderes Zimmer führt. Er bleibt eine verschwommene Gestalt, weil meine Augen nicht fokussieren wollen. Doch das ist egal. Sobald die Tür sich hinter uns schließt und ich allein mit ihm bin, mache ich einen Schritt nach vorne und umarme ihn so fest wie ich kann. So, dass er nie wieder von mir fort gehen kann.

Zittrig hole ich Luft, nehme seinen Geruch auf... und fange aus tiefster Seele an zu weinen. Denn dieser Mann, der schützend seine Arme um mich legt, riecht nicht wie Sean. Und es ist auch nicht Seans Stimme, die mir beruhigende Worte zu murmelt. Ich weiß, dass mir die Stimme vertraut ist, kann sie über mein lautes Schluchzen jedoch nicht zu ordnen. Trotzdem lasse ich mich in die Umarmung fallen. Weil es sich gut anfühlt, gehalten zu werden, egal wer der Unbekannte ist. Seine Arme sind stark genug mich zu stützen, während ich zusammenbreche, und mehr muss ich nicht wissen.

Es vergehen Minuten, in denen Tränen unerbittlich über meine Wangen strömen. Mein Hals fühlt sich rau und wund an, als die Schluchzer verebben und einem Schluckauf weichen. Allerdings wäre es gelogen zu sagen, das Heulen hätte etwas gebracht. Dass ich mich jetzt besser fühle. Mein Körper hat nur einfach keine Kraft mehr so weiterzumachen. Also vergrabe ich weiter das Gesicht im T-Shirt des Unbekannten und versuche das Hicksen in den Griff zu kriegen. Semi-erfolgreich. Doch zumindest kann ich so Zeit schinden, um mit der Erkenntnis fertig zu werden, wen ich gerade mit Rotz und Tränen überschwemmt habe. Genauso wie damit, in welchem Zimmer ich mich befinde.

Lee.

Es ist zwar Monate her, aber ich erkenne den Raum von unserer gemeinsamen Nacht wieder. Das schlichte Bett, was kaum mehr als ein Lattenrost ist. Der vollgestellte Schreibtisch und die generelle Unordnung in jeder Ecke. Wirklich, ich frage mich, ob Lee überhaupt noch Kleider im Schrank hat, so viel Klamotten liegen auf dem Boden. Und auch wenn dieser Gedanke völlig unpassend im Anbetracht der Situation ist, muss ich kichern, was sich in Kombi mit dem Schluckauf ziemlich witzig anhört.

Ich merke wie Lees Hand, die bisher meinen Rücken auf und ab gestreichelt hat, innehält und im nächsten Moment werde ich ein Stück zurückgeschoben. Unter angeschwollenen Liedern blicke ich zu ihm hoch und kann noch immer nicht mit meiner komischen Kicher-Hicks-Mischung aufhören. Das lässt ihn schief Grinsen, während er mit einem Daumen, die nassen Spuren auf meinem Gesicht wegwischt.

„Hey, da ist sie ja wieder. So gefällt mir das schon viel besser."

Als hätten Lees Worte mich daran erinnert, wie mies es mir eigentlich geht, verebbt das Kichern und ich kann nichts weiter tun, als ihn anzustarren. Seinen Lockenkopf und seine funkelnden Augen, die immer etwas auszuhecken scheinen. Ich war die letzten Monate so bemüht, nie zu lange zu ihm zu blicken, dass ich verwundert feststellen muss, dass ich sein Gesicht anders in Erinnerung hatte. Irgendwie jünger und spitzbübischer. Eigentlich ist es eh ein Wunder, Lee so gegenüberzustehen, nachdem ich alles darangesetzt habe, ihm immer wieder aus dem Weg zu gehen. Nachdem ich teils wirklich unhöflich war und ihm so gar keinen Grund gegeben habe, mich tröstend im Arm zu halten.

„Was machst du hier?"

Meine Stimme klingt rau und ungläubig, was dazu führt, dass auch Lees Lächeln verblasst. Ein seltener Anblick.

„Für jemanden da sein, der das gebraucht hat."

Das ist... kitschig. Trotzdem tut es gut die Worte zu hören und ich schiebe es auf den Alkohol, dass meine Augen sofort wieder zu brennen anfangen. Lee, der mich noch immer an meinen Armen festhält, lässt seine Daumen in kreisenden Bewegungen über meine Haut fahren. Eine kleine Geste, die mir trotzdem nicht entgeht und meinen Hals zuschnürt. Alles was ich rausbekomme ist ein leises: „Wie?" Aber er scheint trotzdem zu verstehen, was ich wissen möchte.

„Ich habe gesehen, wie du dich mit Sean unterhalten hast. Und es sah nicht so aus... als wäre das Gespräch gut verlaufen."

Ein Stechen fährt durch meine Brust, als ich an Sean denke. Den unerbittlichen Gesichtsausdruck, den er hatte, während er mir mit seinen Worten den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Was habe ich mir nur dabei gedacht, ihn darauf anzusprechen? Was habe ich mir nur dabei gedacht mir einzubilden, da könnte mehr sein? Woher auch immer mein Körper die Flüssigkeit nimmt, meine Augen sind erneut Tränenverhangen, als ich Lee mit einem Nicken auffordere, weiterzureden.

„Ich bin dir gefolgt, als du aus der Küche geflohen bist. Du sahst einfach so aus als... als sollte man dich gerade nicht allein lassen."

Lee zuckt mit den Schultern und ich erkenne das Unbehagen in der Geste. Als würde er sowas nicht oft machen und hätte Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Natürlich ist es nicht leicht so etwas zu hören. Aber er hat recht. Wäre Lee nicht dagewesen und hätte mich aus der Menge gezogen, wäre weiß Gott was passiert. Auch jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht jeden Moment einfach zusammenklappe. Ich bin schwach und erbärmlich. Mein wahres Inneres, wenn man einmal die aufgesetzte Arroganz durchdrungen hat.

Meine Unterlippe fängt unkontrolliert an zu zittern und Entsetzen blitzt in Lees Augen auf. Unbeholfen reibt er mir über die Schultern, was so lieb ist, das es meinen Zustand nur noch verschlimmert.

„He, nicht wieder weinen! Das war nicht böse gemeint. Ich bin mir sicher anderen ist es auch gar nicht aufgefallen..."

Vehement schüttle ich den Kopf und versuche mich in den Griff zu bekommen. Aber alles an mir fühlt sich verwundbar an. Es erinnert mich schrecklich an die Zeit auf den Schultoiletten, wenn all der Hass und die gehässigen Kommentare mir meine letzte Würde genommen haben. Trotzdem soll Lee nicht denken, er habe etwas falsch gemacht. Es liegt nicht an ihm. Es lag nie an den anderen. Es ist alles meine Schuld. Weil ich schlicht und ergreifend kein Mensch bin, der für andere von Wert ist. Kein Mensch, den man mag oder gar liebt.

„D...Du hast nicht Falsches gesagt. Es tut mir Leid. Geh runter und genieß deine Party. Wie ich hörte, habt ihr einiges zu feiern."

Ich versuche mich an meinem üblichen Lächeln, aber es ist wohl nicht sonderlich überzeugend, wenn man bedenkt, dass ich inzwischen am ganzen Körper zittere. Lee nimmt es mir jedenfalls nicht ab. Er runzelt die Stirn und macht keine Anstalten mich loszulassen.

„Ich gehe ganz sicher nicht runter, wenn es dir so offensichtlich schlecht geht. Wenn du das von mir denkst, muss ich einen wirklich miesen Eindruck hinterlassen haben."

Die Worte lassen mich zusammenzucken, denn Lee macht keinen Hel daraus, das ihn der Gedanke betrübt. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie es auf ihn wirken muss, dass ich nach unserer Nacht nicht mehr mit ihm reden wollte. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass er sich Vorwürfe machen könnte und ich schäme mich schrecklich dafür.

„Nein, so meine ich das nicht. Es ist nur...", hilflos zucke ich mit den Schultern und lasse den Blick schweifen, um nicht länger in Lees Augen schauen zu müssen. „Das hier ist es nicht wert."

Die Wahrheit in meinen Worten lässt meine Stimme fast versagen. Niemand sollte Zeit damit verschwenden sich mit meinen zerbrochenen Scherben zu beschäftigen. Sean hat Recht. Es ist nicht seine Aufgabe. Und auch von sonst niemand anderem. Es ist es nicht wert, Bemühungen in etwas so zerbrochenes wie mich zu stecken. Meine Sicht verschwimmt erneut, während sich mein Herz zu einem schmerzenden Knoten zusammenballt.

„He", Lee rüttelt mich ordentlich durch, trotzdem schweift mein Blick nur wie benommen zu ihm. „Das stimmt nicht. Du bist es wert, dass man sich um dich kümmert ."

Ein trauriges Lachen steigt in meiner Kehle hoch und ich umklammere mit einer Hand so fest mein anderes Handgelenk, das rote Striemen davon zurück bleiben werden. Aber der Schmerz ist alles was mich noch im Hier und Jetzt hält.

„Versprochen, das bin ich nicht. Und das war ich es auch noch nie."

„Alexis...", bevor Lee weitersprechen kann, reiße ich mich mit aller Macht von ihm los. Keine Ahnung, ob die Wut, die mit einem Mal in mir aufkommt, gegen ihn oder mich gerichtet ist, aber sie macht meine Stimme schrill, als ich ihn unterbreche.

„Lee, wem willst du hier etwas vormachen? Ich bin nicht mehr als ein billiger One Night Stand, das solltest du doch am besten wissen. Ich bin gut zum Spaß haben. Vielleicht lohnt es sich auch ein paar Mal mehr mit mir ins Bett zu gehen, aber mehr nicht."

Ein Bild von Sean steigt in mir auf und ich habe das Gefühl als würde mit dem nächsten Atemzug meine Brust zerreißen. Sean... er hat es mir doch von Anfang an gesagt. Er hat mir von Anfang an klar gemacht, wo mein Platz ist, welchen Stellenwert ich habe. Wie konnte ich nur so dumm sein mir trotzdem mehr Hoffnungen zu machen? Ich hätte es besser wissen müssen.

Es ist der Ernst in Lees Stimme, der meine wütende Verzweiflung durchbricht, als er beginnt zu reden.

„Was auch immer Sean zu dir gesagt hat, er verdient eine ordentliche Trachtprügel, wenn dich das so denken lässt." Mit verhangenem Blick schaue ich zu ihm auf und der fast böse Ausdruck auf seinem Gesicht, lässt mich erschaudern, so wenig will es zu dem sonst so scherzhaften Lee passen. Seine Augenbrauen düster zusammengezogen starrt er mich an, als wolle er mir die Worte ins Gedächtnis brennen.

„Du bist nicht nur ein One-Night-Stand. Ich hätte mich gefreut dich danach noch besser kennenzulernen. Und ich habe es all die letzten Wochen versucht, nicht weil du ein hübsches Mädchen bist- und das bist du Alexis - nein, weil ich dich sehen durfte, wie du im Umgang mit Row bist. Wenn du nicht dein wahres Ich hinter einem arroganten Lächeln versteckst. Und dieses Mädchen ist verdammt beeindruckend."

Ich kann so wenig fassen, diese Worte zu hören, das es tatsächlich für einen Moment den Schmerz in meiner Brust stillt. Stattdessen schnaube ich ungläubig und streiche mir unbehaglich eine Strähne hinters Ohr. „Ach ja, und was soll an ihr beeindruckend sein?"

„Zum Ersten", zwei Finger heben mein Kinn an, sodass ich den Blick wieder auf Lee richten muss. „Zum Ersten ist dieses Mädchen verdammt schlau und willensstark. Wäre sie nicht die ganze Zeit so darum bemüht, einen bestimmten Eindruck bei anderen zu hinterlassen, bin ich mir sicher hätte man jede Menge Spaß mit ihr. Denn neben ihrem Dickkopf besitzt sie auch eine ordentliche Portion Mumm und das ist eine Kombi, die man bei den vielen Püppchen hier am College nur selten antrifft."

Lee wirft mir ein schiefes Grinsen zu und obwohl es mich nicht berühren sollte, wächst eine kleine Knospe Licht in mir. Ich sage nichts, in der Hoffnung, dass Lee weiterspricht.

„Diese Alexis hat zudem Humor und eine felsenfeste Meinung. Die steht ihr zwar manchmal selbst im Weg, aber mich würde es sehr interessieren, wie sie zu so manchen Themen stehst. Generell würde es mich interessieren ein wirkliches Gespräch mit ihr zu führen. Ich kenne keinen Menschen, der so viel und doch so wenig von sich zeigt wie du, Alexis. Und wenn Sean so dumm ist, die Chance nicht zu ergreifen, dich besser kennenzulernen, dann ist er es auch nicht wert, dass du dir den Kopf über ihn zerbrichst."

Die Erinnerung weshalb es mir so schlecht geht, lässt mich kurz zusammenzucken, während der Rest von Lees Worten sich wie Balsam auf meine Seele legt. Mit großen Augen schaue ich ihn an und vielleicht mag es naive Hoffnung sein, die ich schon morgen bereue, aber für heute will ich ihm glauben schenken.

„Meinst du das ernst?"

Mit so viel Ernsthaftigkeit wie möglich nickt Lee und ich lasse mich breitwillig erneut in eine Umarmung ziehen. Es tut einfach gut und mir ist es egal, ob am Ende alles eine Lüge ist, ich möchte mich einfach nicht mehr wie eine Ertrinkende fühlen. Mit einem letzten Schniefen versiegt ein Teil des Schmerzes und hinterlässt eine erschöpfte Taubheit.

„Du bist gut so wie du bist, Alexis. Du musst niemandem etwas vorspielen oder den Erwartungen anderer gerecht werden. Ich hoffe das kannst du irgendwann auch selbst sehen."

Ja, das würde ich mir auch wünschen. Aber das sage ich nicht. Ich sage nichts, sondern genieße einfach die Leere in meinen Kopf, bis Lee mich irgendwann sanft von sich schiebt. Er lächelt schief und ich erwidere es schwach.

„So, und jetzt würde ich sagen gehen wir zu Row und den anderen und haben Spaß!"

Der abenteuerlustige Tonfall passt schon wieder viel besser zu dem Lee, den ich kenne, und ermuntert mich ebenfalls die Schultern zurückzunehmen und so gut wie möglich zum Normalzustand zurückzukehren. Ich weiß zwar nicht, ob ich Row mal wieder meinen emotionalen Balast aufladen will, aber genauso wenig will ich Lee seine Chance nehmen, aus dieser Situation zu fliehen. Es muss auch so schon unangenehm genug für ihn gewesen sein. Also nicke ich einmal, während das aufgesetzte Lächeln auf meinem Gesicht sich schon fast wieder wie immer anfühlt.

Ganz vorsichtig, als wäre ich ein Kleinkind, bei dem er Angst hat, es könne davonlaufen, nimmt Lee mich an die Hand. Ich lasse mich von ihm mitziehen und auch wenn ich sonst nur ungern die Kontrolle abgebe, ist es erholsam nicht nachzudenken, sondern einfach mitzulaufen. Zumindest bis Lee unten am Treppenabsatz angekommen zurück ins Wohnzimmer und damit zurück in die Menge will. Meine Instinkte schreien so unvermittelt auf, dass ich mich gegen Lees Griff stemme und mich keinen Zentimeter weiter bewege. Ich kann nur die Menschen vor mir anstarren und besorgt merken, wie die Enge in meine Brust zurückkehrt. Ich kann da nicht rein.

Lee bleibt ebenfalls stehen und wirft mir einen fragenden Blick zu. Über den laut wummernden Bass ist es zu schwer sich zu unterhalten, also versuche ich ihm mit einem kräftigen Kopfschütteln klarzumachen, was in mir vorgeht. Mir ist es egal, wie lächerlich das von außen wirken muss. Als wäre ich ein kleines Mädchen. Aber allein der Gedanke dort hin zurückzugehen versetzt mich in Panik. Die Enge, Menschen die rücksichtslos tanzen und kein Weg schnell dort rauszukommen.

Irgendwas an meinem Gesichtsausdruck muss überzeugend genug gewesen sein, dass Lee meine Entscheidung akzeptiert. Er beugt sich so nah wie möglich zu mir, trotzdem ist es schwer ihn über die Musik hinweg zu verstehen. „Ich schau wo die anderen sind und komme dann mit ihnen hier her. Wir können ja etwas rausgehen. Frische Luft tut immer gut."

Am liebsten hätte ich ironisch aufgelacht, denn wir wissen beide, dass keiner Interesse daran hat, in die Kälte rauszugehen. Es ist ein Versuch, mir mein erbärmliches Verhalten weniger unangenehm zu machen und obwohl ich dafür dankbar sein sollte, macht es mich in erster Linie sauer auf mich selbst. Jetzt bin ich selbst in der einen Sache schlecht, die ich sonst so gut kann: Feiern. Was bleibt dann überhaupt noch von mir übrig?

Wieder einmal wird mir nur allzu klar, weshalb Sean die Linie so deutlich gezogen hat. Wieso niemand etwas mit mir zu tun haben will. Doch ich will nicht, dass Lee etwas von diesen Gedanken mitbekommt. Er muss sich jetzt schon denken, dass ich völlig gestört bin. An seiner Stelle würde ich auch möglichst schnell Reißaus nehmen. Also nicke ich nur mit zugeschnürtem Hals und nutze die Chance, als er sich mit einem letzten Lächeln abwendet und in die Menge verschwindet. Sobald ich ihn nicht mehr sehen kann, drehe ich um und mache mich durch den Flur auf den Weg zur Haustür. Die Party ist für mich definitiv vorbei.

Selbst hier stehen die Menschen in Grüppchen, trotzdem kann man sich noch halbwegs normal bewegen. Ein einziges Mal stoße ich mit einem Kerl zusammen, als dieser plötzlich nach hinten taumelt und ich nicht mehr rechtzeitig halten kann. Allerdings befürchte ich, war das genau der falsche Kerl dafür.

„He, was soll'n das?" Augen mit riesigen Pupillen wenden sich zu mir und es dauert einen Moment, bis ich die typische Geste erkenne, mit der der Kerl die Nase hochzieht. Verdammt. Kurzgeschorene Haare, ein Tattoo, das aus dem Halsausschnitt herausragt, und wenn mich nicht alles täuscht, hat der Kerl gerade eine Line gezogen. Ich sollte hier schleunigst wegkommen.

„Sorry, ich..."

„Heeeeey, Alexis!", jemand umarmt mich so überraschend von der Seite, dass ich im ersten Moment zusammenzucke. Erst danach erkenne ich Heather, die sich mit verhangenem Blick und breitem Lächeln von mir löst. „Kein Stress, Flynn sie ist 'ne Freundin."

Ach ja, Freundin? Ich verkneife mir den trockenen Kommentar, als ich sehe, wie Flynns Gesicht sich entspannt und statt Wut Neugierde erscheint. Es kommt zwar selten vor, aber er gehört zu den Männern, bei denen ich drauf hätte verzichten können, dass sein Blick über meinen Körper wandert. Auf der anderen Seite ist es besser abgecheckt zu werden, als in einen Streit mit jemanden zu geraten, der völlig drauf ist.

Apropos drauf, Heather scheint mir auch näher an den Sternen zu fliegen, als auf dem Erdboden zu stehen. Sie hat sich inzwischen bei mir untergehakt und merkt nicht einmal, wie ich sie kritisch taxiere. Stattdessen zieht sie nur einen Schmollmund und redet mit Flynn weiter. „Das war der letzte Stoff, was sollen wir denn jetzt den ganzen Abend machen?"

Abgelenkt von seiner Vollkörper-Betrachtung zuckt Flynn mit den Schultern und schaut zu Heather. „Die Party ist sowieso nur was für Loser. Diese Sportler-Furtzies denken doch echt sie wären die Größten, nur weil sie ans College gehen. Die Weicheier würden keine Minute ohne das Geld von Mammi und Papi überleben."

Flynns Blick streift geringschätzig durch das Haus und in mir kommt in mulmiges Gefühl auf. Wenn er nichts für Studenten übrighat, was treibt er dann hier?

Als wäre das alles nur ein Scherz lacht Heather und ich frage mich, wie ich es eigentlich geschafft habe von meinem emotionalen Breakdown hier hineinzugeraten. Egal wie, ich sollte schauen, dass ich schnellstens wieder fort komme.

„Ich muss dann so langsam weiter. War schön dich mal wieder zu sehen, He..." Weiter komme ich nicht, denn Heather, die wohl nicht mitbekommen hat, dass ich gerade mit ihr geredet habe, springt erfreut hoch und brüllt so laut, dass selbst die Musik kein Problem ist: „He, Elisa! Schau mal wen ich gefunden habe!"

Gequält schließe ich für einen Moment die Augen. Na das war das letzte, was ich jetzt gebraucht habe. Doch ich ergebe mich meinem Schicksal und kratze die Reste meiner Würde zusammen, als ich Elisa entdecke, die überrascht zu uns schaut. Sie mustert mich und zum ersten mal kommt in mir die Frage auf, ob man mir meine Heulattacke eigentlich noch ansieht. Ich befürchte ja, denn über das Gesicht meiner Ex-Freundin huscht ein schadenfrohes Lächeln, bevor sie sich zu uns schlängelt. Mein Gesichtsausdruck verhärtet sich. Oh nein, sie werde ich ganz gewiss nicht auch noch auf mir herumtrampeln lassen.

Mit einem zuckersüßen Lächeln erreicht uns Elisa und ich werde so selbstverständlich in eine Umarmung gezogen, dass ich am liebsten gekotzt hätte. Stattdessen erwidere ich die Geste und tackere mir mein Barbie-Lächeln ins Gesicht.

„Oh mein Gott, Süße! Haben wir dich lang nicht mehr gesehen. Ich habe schon befürchtet, bei dir wäre etwas passiert. Hast du etwa geweint?" Besorgt mustert mich Elisa, aber dieses Schauspiel kann sie sich sonst wohin stecken.

„Nein, mir geht's bestens." Ohne große Geste, aber doch eindeutig, gehe ich auf Abstand und werde dafür böse angeblitzt.

„Eli, wir haben gerade gesagt, wie laaaaangweilig die Party ist." Wieder setzt Heather einen Schmollmund auf und ausnahmsweise bin ich dafür dankbar, denn damit wird Elisas Aufmerksamkeit von mir abgelenkt. Es ist nur ein Sekundenbruchteil, aber ich sehe genau, wie sie kurz das Gesicht verzieht, bevor sie sich ihrer angeblich besten Freundin zuwendet.

„Ja das stimmt. Wirklich was passieren tut hier nicht. Lasst uns weiterziehen."

Es ist lächerlich, dass es mir einen Stich versetzt, dass dieses uns mich nicht mehr miteinbezieht. Vor ein paar Monaten wäre das noch anders gewesen. Da hätten wir gemeinsam Spaß gehabt und ich hätte einen Abend lang einfach meinen Kopf abgeschaltet. Auf der anderen Seite hingen wir damals auch nicht mit so zwielichtigen Gestalten wie Flynn ab.

Heathers Gesicht erhellt sich und fast als hätte sie meine Gedanken gelesen, zieht sie an meiner Hand und meint ganz aufgeregt: „Das ist eine super Idee! Kommst du mit Alexis? Bitte, bitte? Dann ist es wie in alten Zeiten!"

Überfordert schaue ich in Heathers riesige Augen, die mich kaum fokussiert bekommen. Sie ist völlig zugedröhnt und ich habe keine Ahnung, wie ich schonungsvoll und doch deutlich klar machen kann, dass ich nicht mitkommen werde. Allerdings scheint mir das Elisa sowieso abnehmen zu wollen.

„Ach Heather, Alexis hat jetzt doch ihre tollen Eishockey-Freunde. Da wird sie wohl kaum mit uns mitkommen wollen." Ihr Tonfall gibt dem Satz einen Beiklang, als wäre ich diejenige, die den Kontakt abgebrochen hat. Und dem traurigen Ausdruck auf Heathers Gesicht nach, glaubt sie daran. Mir wäre der Mund fast offen stehen geblieben, als mir klar wird, was Elisa wahrscheinlich schon seit Wochen abgezogen hat. Ihr abfälliger Blick huscht kurz zu mir und am liebsten hätte ich ihr deftig eine verpasst. Sie hat mich zur Bösen gemacht!

„Was? Du bist eins dieser Puck Bunnys? Süße, versprochen andere Männer haben mehr zu bieten."

Mein Zorn auf Elisa hat mich schon fast wieder vergessen lassen, dass Flynn auch noch bei uns steht. Er blickt in einer Mischung aus Missgunst und Arroganz zu einer Gruppe nicht unweit von uns und mich würde es nicht wundern, wenn dort ein paar der Eishockeyspieler stehen. Und weil ich dumm und selbstzerstörerisch bin, folge ich seinem Blick.

Es ist wie ein Eimer Eiswasser, der über mich gekippt wird. Innerhalb von Sekunden weicht mir jegliches Blut aus dem Gesicht und hinterlässt kalte Taubheit. Sean. Da steht er und unterhält sich in einer Gruppe mit Mädchen, als wäre nichts passiert. Als wäre er nicht erst vor ein paar Stunden auf meinem Herz herumgetrampelt, gerade als ich endlich den Mut hatte, es überhaupt jemandem zu schenken. Als wäre ihm die Zeit mit uns nichts wert gewesen.

„Ich habe dir doch von Anfang an gesagt, dass es nie mehr als etwas Körperliches sein wird."

Der Schmerz kehrt mit einer solchen Wucht wieder, dass ich mich frage, wie ich mich auf den Beinen halten kann. Aber mein Körper scheint auf Autopilot geschalten zu haben, als ich mechanisch den Kopf abwende und ein bittersüßes Lächeln auf meine Lippen zaubere.

„Wisst ihr was, ich komme mit euch."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top