Kapitel 1
Ich hasse die ersten Sekunden am Morgen. Wenn man noch halb im Schlaf ist und Traum und Realität zu etwas seltsam Konfusem verschmelzen. Manche Menschen lieben diesen Moment. Das Gefühl zwischen den Welten zu schweben und für eine Sekunde einfach da und doch auch nirgendwo zu sein. Für mich ist es das schlimmste Gefühl von allen. Keine Kontrolle zu haben. Gefangen zu sein zwischen dem was war, was ist und was noch sein wird.
In einigen wenigen Fällen klammere ich mich in diesen Sekunden an die Fetzen eines schönen Traumes, in der Hoffnung ihn festhalten zu können. Aber wenn mich mein Leben eins gelehrt hat, dann dass Hoffnungen in neun von zehn Fällen vergebens sind. Sie rauben einem nur die Energie, die man später dann für die Katastrophe, die sich normalerweise stattdessen einstellt, braucht. Und so ist es auch mit guten Träumen. Sie sind nichts weiter als eine Illusion, die zwangsläufig dazu vorbestimmt ist an der Härte der Realität zu zerbrechen.
Heute aber halten diese ersten Sekunden am Morgen etwas anderes für mich bereit. Das, was sie meistens für mich bereithalten: Das Nachhallen eines Alptraums, der mich schweißgebadet und mit der panischen Angst, er könne noch nicht vorbei sein, wenn ich die Augen aufschlage, zurücklässt. Und ich habe keinerlei Kontrolle darüber. Alles was ich machen kann ist mich aus den klebrigen Fäden meiner eigenen Erinnerungen Stück für Stück zu befreien, während Sekunden sich zu Minuten dehnen und ich einmal mehr diese Momente der Schwäche verfluche. Der wache Teil von mir weiß zwar, dass all das nur in meinem Kopf ist, aber mein träumendes Ich befindet, dass man so viel Hass, Ekel und Scham auf sich selbst nicht nur erfinden kann. Und natürlich hat er damit auch recht. Manche Dinge kann man wach nur einfach besser vor sich selbst verbergen.
Mit zusammengebissenen Zähnen reiße ich die Augen auf und starre im Dunklen an die Decke, die sich irgendwo über mir befinden muss. Mit wild klopfenden Herzen zwinge ich meinen Körper dazu ruhig liegen zu bleiben, anstatt aufzustehen und so schnell wie möglich wegzurennen. Ich weiß, dass das wovor er fliehen will, nichts ist, dem ich entkommen kann. Das wäre genauso sinnvoll, wie vor seinem eigenen Schatten wegzurennen. Also nehme ich stattdessen einen tiefen Atemzug nach dem nächsten und schließe all das, was mein Herz in Aufruhr versetzt, wieder in den hintersten Winkel meines Verstandes. Ein mentaler Wettstreit, den ich Morgen für Morgen aufs Neue bestreite. Wie gut ich meinen Job gemacht habe wird sich aber erst im Laufe des Tages zeigen.
Danach bleibe ich trotzdem liegen und warte die letzten Minuten, bis mein Wecker klingelt. Wieso ich weiß, dass es gleich so weit ist? Weil jeder Morgen gleich verläuft. Kurz vor sieben Uhr bin ich wach. Egal ob ich eine Vorlesung habe oder eigentlich ausschlafen könnte. Das heißt nicht, dass ich mich nicht umdrehen und wieder weiterschlafen kann, aber so sicher wie ein Uhrwerk wecken mich meine eigenen Gedanken jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit. Und da mich an diesem wunderschönen Montagmorgen – man beachte den Sarkasmus – eine Zivilrechtvorlesung um acht Uhr erwartet, hat es keinen Sinn nochmal zu schlafen zu versuchen. Stattdessen muss ich warten. Und wenn es eine Sache gibt, die ich abgrundtief nicht leiden kann, dann ist es zu warten. Nichts zu tun. Einfach nur mit mir und meinen Gedanken allein zu sein. Wenn man ein ganzes Leben hat, über das man am liebsten nicht nachdenken will, ist das das grausamste was man jemandem antun kann.
Ich versuche meinen Kopf leer zu halten, während ich meine Atemzüge zähle, um ein Gefühl für die vergehende Zeit zu haben. Aber es gibt ein paar Erinnerungen, die wie auf die Innenseite meiner Augenlider festgebrannt sind. Ich muss nicht an sie denken. Sie sind ein stetiger Begleiter. Und sobald es nichts gibt, um mich davon abzulenken, spielen sie sich ungewollt ab. Dann bin ich mal wieder in der siebten Klasse auf dem Wanderausflug. Allein, weil Row mit Fieber zu Hause bleiben musste...
Aber das ist vielleicht auch gar nicht so schlimm, denn ich bin bereits vollends damit ausgelastet den Berg hochzukommen, ohne dass der Abstand zwischen mir und der restlichen Klasse zu groß wird. Meine Lunge fühlt sich an, als würde sie gleich implodieren, aber ich lächle trotzdem jedes Mal, wenn die Lehrerin einen beunruhigten Blick zu mir wirft. Ich will kein Aufsehen verursachen, nur weil wir wegen mir eine Pause machen müssen. Eigentlich bin ich froh, dass bisher die anderen mehr damit beschäftigt sind mit ihren Freunden zu quatschen, als wie sonst mich mit Hänseleien zu versehen. Mein Blick schweift den Weg entlang, der sich den Berghang immer weiter hochschlängelt, und allein die Vorstellung das Ganze selbst noch hochlaufen zu müssen, lässt meine Beine protestieren. Gott, ich will mich einfach nur hinsetzen... In der Hoffnung, dass es etwas hilft packe ich mein Trinken aus – einer dieser super süßen Billig-Limonaden, die ich aber absolut liebe. Das Getränk als Alibi nutzend bleibe ich stehen und versuche gleichzeitig einmal durchzuschnaufen. Ich hätte einfach so tun sollen, als hätte ich mich bei Row angesteckt. Dann könnte ich jetzt ganz gemütlich in meinem Bett liegen und Gray's Anatomy weiterschauen, anstatt mich diesen verfluchten Berg hoch zu quälen. Wie kommt man denn überhaupt auf die Idee mit Jugendlichen einen Wanderausflug zu machen? Wirklich, mit der Zeit kann man ja wohl Sinnvolleres anfangen.
So vertieft in meine Gedanken ist mir gar nicht aufgefallen, dass die ganze Gruppe inzwischen ein gutes Stück weitergegangen und halb hinter einer Baumgruppe verschwunden ist. Nur zwei Gestalten kann ich noch sehen und mein Herz beginnt schneller zu klopfen, bei der Vorstellung hier inmitten des Waldes verloren zu gehen. Also beeile ich mich meine Flasche wieder einzupacken und laufe, noch bevor ich den Rucksack wieder schließen konnte, los. Keine gute Idee, wie sich herausstellt, denn im nächsten Moment purzelt auch schon ein Teil des Inhalts aus der Tasche raus und verstreut sich über den Boden. Fluchend bleibe ich stehen und bücke mich schnaufend, um die dämliche Regenjacke aufzuheben, ohne die mich meine Mutter nicht aus dem Haus lassen wollte. Und die natürlich absolut überflüssig war, da keine einzige Wolke am Himmel zu sehen ist. Aber Mütter haben natürlich immer recht.
Ich habe das dumme Ding gerade in den Rucksack zurück gestopft und will weitergehen, da lässt mich die Reflexion von etwas silbernem innehalten. Verwundert schaue ich auf den Boden, doch dann schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht, als ich die kleine Verpackung Oreo Kekse sehe, die da liegt. Es sind die richtig guten, die nochmal mit Schokolade ummantelt sind. Eigentlich hatte ich sie mir für später eingepackt, wenn wir den Gipfel von diesem verfluchten Berg erreicht haben. Aber wenn ich sie jetzt schon einmal draußen habe...
Ich laufe weiter, ohne auf den Weg zu achten, weil ich versuche mit meinen schwitzigen Händen die Verpackung aufzureißen. Und genau gleichzeitig mit dem siegreichen Lächeln, weil ich es endlich hinbekommen habe, erklingt ihre Stimme.
„War ja klar, dass man dich wieder beim Essen findet. Und darauf nimmt Mrs. Malory extra Rücksicht, unglaublich."
Erschrocken schaue ich auf und bremse geradeso rechtzeitig ab, um nicht genau in Joyce und einer ihrer Anhänger hineinzulaufen, die sich, die Arme vor der Brust verschränkt, mitten auf den Weg gestellt hat. Mit einem abwertenden Blick auf mich schmeißt sie sich ihre blonden, perfekt gestylten Haare hinter die Schulter.
„Na komm Schweinchen, etwas schneller. Alle anderen warten schon auf dich."
Ich hasse diese herablassende Art. Als wäre sie die Prinzessin der Welt. Und auch wenn ein kleiner Teil von mir flüstert ‚lass es einfach, mach es nicht noch schlimmer', will sich der Großteil von mir das nicht bieten lassen. Meine Mom würde das jetzt meinen Löwenstolz nennen und auch wenn ich nicht an diesen Sternzeichen-Quatsch glaube, stelle ich mir doch gerne vor, wie der Löwe in mir gerade die Zähne fletscht.
„Mir ist was runtergefallen, aber lieb, dass ihr deswegen wartet."
In dem Versuch ihre Geste nachzuahmen werfe auch ich meine blonden Haare zurück, was in dem eher unstylischen Pferdeschwanz wahrscheinlich aber nicht annähernd die gleiche Wirkung hat. Das zumindest lässt Kims unterdrücktes Kichern vermuten, die wie immer ganz brav hinter Joyce hinterherdackelt. Für einen kurzen Moment will Beschämung in mir aufkommen, aber ich zwinge mich selbst dazu, das Kinn noch ein Stück höher zu heben und mir von dieser blöden Kuh gar nichts sagen zu lassen. Im Gegensatz zu Kim denke ich wenigstens für mich selbst, anstatt meine Seele an so jemanden wie Joyce verkauft zu haben.
„Oh ja, ich kann mir schon vorstellen, was dir runtergefallen ist." Mit einem verächtlichen Lachen deutet Joyce auf die Kekse in meiner Hand. „Aber Schätzchen, lass dir von mir einen Tipp geben: Du hättest sie lieber auf dem Boden liegen lassen sollen. Würde deinem fetten Arsch guttun."
Damit hat sie mich mal wieder an meinem wunden Punkt erwischt. Und das weiß sie auch ganz genau. Das erkenne ich an dem Funkeln in ihren Augen, als Joyce noch einen Schritt auf mich zukommt. Reflexartig stolpere ich einen Schritt zurück, während mir die Röte in mein Gesicht steigt und mir wie immer nichts einfällt, was ich darauf erwidern soll. Ich bin normalerweise nicht auf den Mund gefallen. Und erst recht lasse ich mir von so Leuten wie Joyce nichts bieten. Aber es ist nun mal nicht nur Joyce, die so Dinge zu mir sagt. Wie oft habe ich im letzten Jahr ‚du fette Kuh' gehört? Wie oft hat mir die Cafeteriadame mit einem kritischen Blick den zweiten Schokopudding ausgehändigt? Ich weiß nicht was ich sagen soll, weil es nichts gibt, was ich dagegen sagen kann. Und das reißt mir den Boden unter den Füßen weg, um mich zu verteidigen. Und das geradezu wortwörtlich, als Joyce noch einen Schritt macht und gleichzeitig nach den Keksen zu greifen versucht. Eigentlich will ich ihr nur ausweichen, aber zu sehr auf sie konzentriert, um noch meine Umgebung im Blick zu haben, stolpere ich dabei über eine Wurzel. Mit einem Schrei verliere ich das Gleichgewicht und sehe nur noch den abfallenden Hang, auf den ich zustürze, bevor die Welt sich zigmal überschlägt. Alles was ich machen kann ist schützend die Arme um meinen Kopf zu legen, während ich auf dem abfallenden Waldboden immer weiter rolle. Steine drücken sich schmerzhaft in meinen Rücken, schürfen mir Arme und Beine auf, bevor ich hart gegen einen Baum schlage und mit einem Wimmern liegen bleibe. Von weiter oben höre ich Joyce entsetzte und besorgte Stimme: „Mrs. Malory! Oh Gott! Mrs. Malory! Wir brauchen Hilfe! Die arme Alexis, sie ist den Abhang hinabgestürzt!"
Ich weiß nicht, ob es der Schmerz oder die Wut ist, die mir die Tränen in die Augen treiben. Doch alles was ich denken kann ist, wie ich meinem Spitznamen gerade wohl alle Ehre gemacht habe. Eine fette Kuh, die einmal ins Rollen gekommen von nichts mehr gebremst werden kann. Das wird der nächste Lacher für die ganze Klasse. Und Joyce wird auch noch wie die Heldin dastehen. Die Kekse in meiner zur Faust geballten Hand sind nur noch Krümel.
Als mein Wecker auf dem Nachtisch neben mir um Punkt sieben Uhr losgeht, blinzle ich schon fast überrascht und der Film vor meinem inneren Auge bricht endlich ab. Völlig gefasst setze ich mich in meinem Bett auf und greife nach meinem Handy, um das Klingeln auszuschalten. Von der tiefen Scham und Demütigung, die mein jüngeres Ich damals empfunden hat, ist nur ein kleiner Funke zu spüren, den ich schnell ganz auslösche. Dieser Teil meines Lebens ist so gut wie möglich in eine große Kiste gesperrt und ich werde den Teufel tun, sie zu öffnen. Schlimm genug, dass das Kettenschloss um sie in den letzten Monaten schon oft genug versagt hat. Das Kinderbild von Row und mir hat ein großes Leck in meine Verteidigungswälle geschlagen und ich bin immer noch Tag für Tag dabei es zu reparieren. Eine mühsame Arbeit, die den Winter lang und düster gemacht hat. Aber auch daran will ich nicht denken. Will nicht wieder in die finsteren Gedankenspiralen kommen. Nicht an einem Montagmorgen. Sonst könnte ich gleich wieder die ganze Woche in die Mülltonne treten. Also ziehe ich stoisch die Schultern zurück, atme noch einmal im Schutz der Dunkelheit tief durch und knipse dann die Nachttischlampe an, um mich dem neuen Tag zu stellen.
Silvia, meine Mitbewohnerin, bewegt sich grummelnd auf der anderen Seite des Zimmers und dreht sich von dem Lichtschein weg. Sie ist noch weniger ein Morgenmensch wie ich, aber da auch sie in einen Kurs muss schnappe ich mir ein Kissen und werfe es nach ihr.
„Aufstehen."
Mehr sage ich nicht und viel mehr wird man aus mir auch nicht rausbekommen, bis ich meinen ersten Kaffee hatte. Also überlasse ich es meiner Mitbewohnerin selbst aus den Federn zu kommen und stehe auf. Sobald man unter der Bettdecke hervorkommt, merkt man, dass es erst Februar ist und die Kälte noch immer in den Zimmern sitzt. Deswegen ist mein erster Handgriff zur Heizung, die unter dem Fenster, das zwischen Silvias und meinem Bett liegt, befestigt ist, bevor ich mit bibbernden Zähnen in meine Hausschuhe schlüpfe und zum Kleiderschrank schlurfe. Den Rollladen lasse ich gleich unten. Draußen ist es eh stockfinster und der Anblick ist zu deprimierend. Gott, ich bin sowas von bereit für den Sommer. Diese düsteren Monate einfach hinter sich zu lassen und mit guten Erinnerungen zu überschreiben. Vielleicht ist es lächerlich sich an eine Jahreszeit zu klammern, als wäre es der rettende Anker. Aber irgendwas tief in mir sagt, dass etwas Sonne und das Gefühl von Freiheit alles ist was ich brauche. Mit heruntergelassenen Fenstern einfach im Auto durch die Gegend fahren. Musik an, Gedanken aus.
Seufzend schüttle ich die Vorstellung ab, bevor die Sehnsucht zu groß wird, und sogleich senkt sich wieder das Gewicht der Realität auf meine Schultern. So schnell wird das mit dem Sommer nichts. Und mit der Freiheit erst recht nicht. Stattdessen hole ich einen dicken Strickpulli und ein enge blaue Jeans aus dem Kleiderschrank, zusammen mit frischer Unterwäsche. Eine heiße Dusche wird den Start in den Tag bestimmt erleichtern.
Das Wohnhaus erwacht so langsam zu Leben als ich auf den Flur hinaustrete, um zu den Gemeinschaftsduschen zu kommen. Von überall sind Türen zu hören, die auf und zu gemacht werden, müde Begrüßungen und schlurfende Schritte. Die Geräuschkulisse veranlasst mich wie von automatisch mich aufrechter hinzustellen und mein übliches Halblächeln aufzusetzen, dass ich mir in den letzten Jahren angewöhnt habe. Von dem kleinen fetten Mädchen ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen gibt es nur noch die selbstbewusste Alexis, die einfach ihr Ding macht, egal was andere sagen.
Für eine Sekunde gerät der vielleicht schon fast arrogante Ausdruck auf meinem Gesicht ins Wanken, als ich den mit Dampf gefüllten Duschraum betrete und von einigen abschätzenden Blicken begrüßt werde. Vor ein paar Monaten hätte mir das absolut nichts ausgemacht. Ich hätte das Kinn noch ein Stück höher gehoben, mit einem ebenso kritischen Blick geantwortet und hätte mir vielleicht sogar ein Lächeln verkneifen müssen. Denn damals wusste ich, dass diese Blicke einzig und allein auf meinem Ruf beruhten. Dass in jedem von ihnen ein Hauch Neid mit drin lag, wenn auch tief begraben unter Geringschätzung und Moralvorstellungen, die mir nicht weniger egal sein könnten. Die meisten Leute verstecken sich hinter sozialen Konventionen, tuen auf schockiert und entrüstet, wenn man sich nicht so verhält, wie sie es für angebracht halten. Aber ich nenne das Freiheit. Und wenn ich Lust habe einen Jungen nach dem anderen um den Finger zu wickeln - und noch wichtiger: Wenn ich es auch kann - wieso sollte ich es dann nicht auch tun? Besser als bis über beide Ohren verknallt hinter meinem Schwarm in der Vorlesung zu sitzen, mich aber nie zu trauen ihn anzusprechen und dann völlig niedergeschmettert zu sein, wenn er irgendwann eine andere als Freundin hat. Das ist doch lächerlich. Wenn man etwas will, dann sollte man es sich auch nehmen.
Aber dieses Selbstbewusstsein, dass mich gegen all diese Blicke immun gemacht hat, hat Risse bekommen, seitdem ich nicht mehr weiß, dass sie mich nur deswegen verachten. Jetzt meine ich bei manchen von ihnen, statt Neid Spott zu entdecken. Ein herablassendes Lächeln, weil sie wissen, wer sich hinter dem selbstsicheren Auftreten versteckt: Nichts weiter als eine hässliche Kuh, die sich in hübsche Kleider gezwängt hat, um zu verbergen, dass man nun mal nicht dem entkommt, wer man ist.
Deswegen hasse ich Carly und das was sie getan hat. Es ist nicht, dass das Bild an sich so schlimm wäre. Gott, es sind zwei lächelnde Kinder, wenn man sich darüber lustig machen will, bitteschön! Manche Menschen sollen ja nichts Besseres zu tun haben. Aber sie hat mir damit meinen Neustart weggenommen. Die Möglichkeit unabhängig von meiner Vergangenheit zu sein und alles was passiert nur darauf zurückführen zu können, wer ich momentan bin. Und nicht wer ich vor fünf Jahren war.
Ich weiß, dass ich nicht den gesündesten Weg eingeschlagen habe, um mit dem was in meiner Schulzeit passiert ist zurecht zu kommen. Verdrängen lässt die Probleme nur doppelt so schlimm zurückkommen. Das hat meine Therapeutin immer gerne gesagt. Aber ich bin nun mal ein Sturkopf und wenn ich mich mit etwas nicht auseinander setzen will, tue ich es auch nicht. Das war allerdings noch um einiges leichter, als kein Foto meine Vergangenheit wieder hat auferstehen lassen und sie mir nun auf Schritt und Tritt folgt.
Aber an diese neue Situation muss ich mich nun mal so langsam gewöhnt haben. Es reicht, dass ich den gesamten November und Dezember komplett neben der Spur war. Verunsichert, entblößt, wieder völlig... hilflos. Als hätte nicht ich mein Leben in der Hand. Als wäre nichts unter meiner Kontrolle, so wie früher mein Appetit.
Es hat ein neues Jahr und die dazugehörige Silvesterparty gebraucht, um mir wieder bewusst zu machen, dass trotzdem ich diejenige bin, die bestimmt wer ich jetzt bin. Und auch wenn die meisten diesen Ruf vielleicht nicht mögen, ich bin gern die Partyqueen mit mehr Männergeschichten als Freunde, um sie zu erzählen. Es ist nämlich meine Entscheidung das zu sein. Und für etwas verurteilt zu werden, was man auch wirklich getan hat, macht mir nichts aus. Zumal es schlicht und ergreifend Spaß macht.
Mir also zurück ins Gedächtnis rufend, dass jeder hier drin gerne ja mal versuchen kann mich runterzumachen, gehe ich mit kühlen abschätzenden Blicken an ihnen vorbei auf eine der leeren Duschen zu.
Meine Tage folgen eigentlich immer der gleichen Routine.
Auf meinem Weg zur juristischen Fakultät gehe ich am Campus Café vorbei und hole mir meine dringend nötige Portion Koffein. Allein der Duft nach gerösteten Bohnen, kaum dass man den auch schon am Morgen gut gefüllten Laden betritt, lässt die Lebensgeister in mich zurückströmen. Und dass man hier drin nicht bibbernd die Arme um sich schlingen muss macht das Café schon fast zu meiner Oase.
Mit einem Seufzen bleibe ich kurz im Eingang stehen und lockere meine verspannten Schultern, die ich draußen in der Kälte dauerhaft bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Dann lasse ich aus Gewohnheit den Blick über alle Anwesenden schweifen. Die Studenten haben sich in einer ordentlichen Schlange vor dem Tresen aufgestellt und befinden sich alle in unterschiedlichen Stadien des Schlafwandelns. Ein Kerl mit wuscheligem Lockenkopf kippt sogar fast vorneüber, bevor er geradeso rechtzeitig aus seinem Halbschlaf aufwacht und sich wieder fängt. Der Anblick will mir fast ein Kichern entlocken, bis der Kerl sich verlegen am Kopf kratzend umdreht, ob jemand sein Foppa bemerkt hat... und mir klar wird, dass der Lockenkopf niemand geringeres als Lee ist. Das lässt mir das Lächeln auf den Lippen gefrieren.
Ein Teil von mir weiß, dass es nicht fair ist Lee die Schuld für meinen Zusammenbruch zu geben, in dieser einen Nacht, die wir zusammen verbracht haben. Er hat absolut nichts falsch gemacht und ich einfach nur einen Sprung in der Schüssel. Aber ihn zu sehen ruft einfach immer noch diese Szenen in mir hervor... zumal es mir auch unglaublich peinlich ist. Ich weiß bis heute nicht genau, was er in dieser Nacht mitbekommen hat. Oder was Gray ihm vielleicht erzählt hat. Aber egal wie, es ist eine Erinnerung an meine Schwäche und es gibt nichts auf der Welt was ich mehr hasse. Schwäche gibt es in meinem Leben nicht. Zumindest nicht, solange ich ihr einfach aus dem Weg gehen und sie ignorieren kann. Und das kann ich bei Lee. Zumindest hier, ohne Row und Gray, die, ob ich es will oder nicht, dafür sorgen, dass wir öfter mal als eine Gruppe unterwegs sind.
Ich rette den letzten Rest des Lächelns auf meinen Lippen und wende mich gerade rechtzeitig ab, als Lee mich entdeckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht gesehen hat, wie ich ihn davor angestarrt habe. Und wenn doch, lässt die Art wie ich, ohne auch nur in seine Richtung zu blinzeln, an ihm und auch der gesamten restlichen Schlange vorbeigehe, keinen Zweifel daran, dass ich kein Interesse an Small Talk oder sonst irgendetwas habe. Und es ist nicht so, als hätte Lee nicht schon oft genug das Gespräch mit mir gesucht. Mindestens seitdem klar ist, dass unsere beiden besten Freunde so schnell wohl nichts mehr auseinanderbringen wird, war er stets bemüht nett zu mir zu sein. Und auch wenn da diese kleine Stimme in mir ist, die mich dazu drängen will auf dieses Freundschaftsangebot einzugehen, ist mein Stolz viel zu groß, um dem nachzugeben. Lee hat mich in den intimsten und verletzlichsten Momenten gesehen. War dabei, als Row und ich uns nach dem Zickenkrieg mit Carly in die Arme gefallen sind und saß mit im Auto auf dem Rückweg nach all dem Drama, als nicht mehr viel von der selbstbewussten Diva übrig war, für die mich alle halten. Und allein, dass er mich in diesen Momenten der Schwäche gesehen hat, lässt einfach nicht zu, dass er von mir mehr als eine kalte Schulter zu sehen bekommt. Ich kann es einfach nicht.
Also richte ich mich stattdessen noch ein bisschen mehr auf und stolziere mit einem Hüftschwung vor an die Theke, von dem ich weiß, welchen Effekt er auf jedes männliche Wesen hat. Genauso wie das flirtende Lächeln, welches sich inzwischen schon fast automatisch auf meinen Lippen einstellt.
„Hi Matt."
Einer der Baristas schaut bei dem Klang meiner Stimme auf und mir tut es schon fast ein bisschen Leid, als ich sehe wie er sofort zu strahlen anfängt. Doch was auch immer von meinem Anstand die letzten Jahre übrig geblieben ist, es ist auf jeden Fall nicht genug, um mich davon abzuhalten für eine Abkürzung zu meinem ersten Kaffee am Morgen ein bisschen zu flirten.
„Oh wow, ist das ein neues Abzeichen auf deiner Schürze?"
Als wäre ich wirklich völlig begeistert von dem aufgestickten Abzeichen lehne ich mich leicht über den Tresen und tippe Matt auf der Höhe des kleinen Stoffstückes gegen die Brust, sobald er, einen halbfertigen Kaffee noch in der Hand, zu mir rüber kommt.
„Ja, wir hatten am Wochenende doch unsere Fortbildung. Ich bin jetzt offiziell befähigt dir jede Kaffeekreation zu zubereiten, die dein Herz begehren könnte."
Das Zwinkern, das Matt mir bei seinen Worten zuwirft, soll sexy wirken, aber dafür ist er einfach... zu nett mit seinem etwas zu breiten Lächeln und den etwas zu langen Haaren, die in alle Richtungen abstehen. Trotzdem gehe ich darauf ein und werfe mir mit einem Lachen die Haare hinter die Schulter, wie ich es auch machen würde, wenn er ein heißer Kerl in einer Bar wäre, den ich mir für den Abend ausgesucht habe. Nur dass es halt nicht er ist, den ich haben will, sondern der Kaffee, von dem er gerade gesprochen hat.
Mit einem verführerischen Lächeln stütze ich mich auf der Theke ab und beuge mich ein Stück vor, als wäre das nächste was ich sage etwas Privates nur zwischen uns beiden. Die Art wie auch Matt sich daraufhin leicht zu mir beugt verrät, dass er absolut auf die Masche anspringt. Was mich nicht überrascht. Nicht nur, weil das inzwischen fast ein tägliches Ritual zwischen uns geworden ist, sondern weil ich ziemlich gut darin geworden bin Männer zu lesen. Zu wissen, wer ich sein muss und wie ich mich verhalten muss, um bei ihnen genau das zu erzielen, was ich möchte. Es ist wirklich nicht schwer. Man muss nur einmal dahinter kommen mit was für einem Typ Kerl man es zu tun hat. Und dann wird man einfach genau zu der Frau, die sie haben wollen.
Matt gehört zu dem Typus Kerl, der dir auf dem ersten Date alte Platten vorspielt und mit voller Begeisterung über die großen Musiker des letzten Jahrhunderts erzählt. Er gehört zu den Träumern und Optimisten, die im jeden das Gute sehen. Er würde nie jemandem etwas Böses tun, also denkt er, dass auch niemand ihm jemals etwas Böses wollen würde. Er gehört zu den wirklich Guten, will für einen da sein und wüscht sich nur etwas Besonderes mit jemandem zu teilen. Und genau das ist das Gefühl was man ihm geben muss: Vertrautheit. Als hätten wir eine einzigartige Verbindung.
Deswegen schaue ich ihm offen in die Augen, als würde ich vor ihm nichts verbergen, während ich mit dem süßesten Lächeln und dem unschuldigsten Tonfall sage: „Wirklich? Würdest du denn für mich eine dieser neuen Kreationen machen?"
Matts Augen blitzen freudig auf, als hätte er nur darauf gewartet, bevor er mit einem strahlenden Lächeln nickt.
„Klar! Lass dich überraschen, das ist wirklich der Oberhammer, was wir gelernt haben. Du wirst begeistert sein!"
Als würde ich seine Aufregung teilen lache ich und beobachte, wie er den halb fertigen Kaffee, den er eigentlich gerade am Zubereiten gewesen war, einfach abstellt, um sich sogleich ans Werk zu machen. Kurz will mich ein schlechtes Gewissen überkommen, wegen dem armen Studenten, der jetzt wohl oder übel etwas länger auf seine Portion Koffein wird warten müssen. Aber der Anflug dieses Gefühls ist genauso schnell wieder verflogen.
Stattdessen folge ich einer alten Gewohnheit und nutze die Zeit, um mir die anderen Leute im Café genauer anzuschauen. Ich scanne die Leute ab, sortiere sie nach Uninteressant und Interessant, bevor ich mich auf die wenigen konzentriere, von denen ich glaube, dass sie meiner Aufmerksamkeit wert sind. Da wäre natürlich einmal Lee, der aber glücklicher Weise in der Schlange ansteht, die von einem anderen Barista am anderen Ende der Theke bedient wird. Dadurch steht ein ganzer Haufen Studenten zwischen uns beiden, sodass ich kaum mehr als seinen Lockenkopf sehen kann. Dann sind da noch zwei Footballer, die mit ihrer breiten Statur unter den anderen Normalos rausstechen. Ich kenne sie, habe schon auf der ein oder andere Party mit ihnen gesprochen, aber um ehrlich zu sein bilden sie sich für meinen Geschmack zu viel auf ihren Sportlerstatus ein, dafür dass sie die meiste Zeit nur auf der Ersatzbank sitzen. Von daher halten auch sie nicht lange mein Interesse. Stattdessen bleibe ich bei einer dreier Gruppe Mädchen hängen. Sie sind hübsch, wenn auch auf diese das-liebe-Mädchen-von-nebenan-Art. Aber das ist wohl kaum der Grund, wieso sie mir aufgefallen sind. Das liegt eher daran, dass zwei von ihnen zu mir hinüberstarren als hätte ich ihnen Salz statt Zucker in ihren Kaffee gekippt. Oder als wären sie absolut nicht damit einverstanden, dass ich hier eine Sonderbehandlung bekomme.
Die Brünette von ihnen, die ganz an der Spitze steht, zieht genervt die Nase kraus, als sich unsere Blicke treffen. Ich weiß was sie von mir denkt. Was für eine eingebildete Tusse. Nutzt die Kerle einfach aus. Aber das ist das Schöne, wenn man sich seine schlechten Seiten selbst eigesteht. Wenn man sie mit voller Absicht auslebt. Mir ist es scheiß egal was dieses Mädchen von mir denken mag. Genau genommen lässt mich ihre Verachtung mich nur noch etwas stärker fühlen, was genau das ist was ich für den Start in die Woche brauche. Denn wenn sie mich verachten und doch nichts sagen oder machen, denken sie ich bin außerhalb ihrer Reichweite. Und dann können sie mir auch nichts anhaben.
Neben mir wird ein Becher abgestellt und noch in der Sekunde, in der ich mich wieder zu Matt umdrehe, liegt auch schon wieder das süße Lächeln auf meinen Lippen, sodass auch ich als das liebe Mädchen von nebenan durchgehe.
„Hier bitteschön, das ist ein hazelnut-choco-Macchiato, natürlich mit Mandelmilch und kalorienreduziert, wie du es immer trinkst. Das besondere daran ist die Röstung der Bohnen, die wir ganz neu haben..."
Matt gleitet in seine üblichen Ausschweifungen über Kaffeesorten und was weiß ich alles ab, denen ich nur mit halbem Ohr zuhöre, um im richtigen Moment die richtigen Laute von mir zu geben. Das Ganze lass ich etwa eine Minute so laufen, bis ich ihm eine Hand auf den Arm lege, um ihn mitten im Satz zum Stoppen zu bringen. Als würde ich es bedauern lächle ich entschuldigend und erkläre ihm, dass ich so langsam los muss zu meiner Vorlesung. Und weil Matt nun mal wirklich zu den Guten gehört, wirkt er im nächsten Moment total zerknirscht, als hätte er etwas Falsches gemacht. „Sorry, ich wollte dich nicht aufhalten. Ich hoffe der Kaffee schmeckt dir."
Am liebsten hätte ich gesagt, er solle sich nicht so einen Kopf machen, immerhin war ich hier diejenige, die ihn ausnutzte, aber stattdessen nahm ich nur einen großen Schluck von dem warmen und tatsächlich himmlisch schmeckenden Getränk und sage dann wohl die ersten Worte heute zu ihm, die vollkommen aufrichtig gemeint sind. „Das ist göttlich Matt, vielen Dank!"
Das Kompliment bringt ihn zum Strahlen und tatsächlich ist es dieses Mal nicht bewusst aufgesetzt, als ich zurücklächle. Und vielleicht gerade deswegen beeile ich mich dem Moment schnell zu entkommen, indem ich mich mit einem Winken verabschiede und das Weite suche. Mit einem weiteren Schluck von dem Macchiato streife ich das ehrliche Lächeln wieder von meinem Gesicht und ersetze es mit einer bittersüßen Variante davon, als ich der Brünetten, die mich noch immer verächtlich beobachtet, beim Verlassen des Cafés provokativ zuproste.
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