Prolog
Der kalte Novemberwind peitschte Megan und George Torres an diesem späten Abend unerbittlich um die Ohren, als sie mit ihrer kleinen Tochter durch die finsteren Straßen gingen. Das nahende Gewitter kündigte sich bereits seit Tagen mit mächtigen Regenschauern an und Megan konnte nicht verhindern, dass ein Schauer über ihren Rücken lief. Ihr Ehemann George legte zärtlich einen Arm um Megans Körper, seine Lippen flüsterten zwischen Trauer und Anspannung, »Ein passenderes Wetter für diese Aktion könnte es nicht geben – kalt und ungemütlich.« Er schaute zu seiner Frau hinunter und sprach sanft, während er sie ansah, »Aber dieser Mann wird niemals erfahren, welch ein besonderes Wesen er sich aneignet. Unsere Tochter ist stark und wird ihren Platz im Leben finden. Sie ist eine Torres, mein Schatz, vergiss das bitte niemals. Unser Blut wie auch unsere Magie fließen durch sie und sie wird den Weg zu uns nach Hause zurückfinden, wenn es an der Zeit ist.«
Eine Träne rollte über Megans Wange, als ihr Blick auf der schlichten, grauen Babyschale ruhte, die George fest mit der rechten Hand umklammert hielt. Sie wussten, dass dies möglicherweise das letzte Mal war, dass sie ihre Tochter bei sich hatten. Das Mädchen schlief tief und fest und träumte womöglich gerade von den idyllischsten Momenten auf dieser Welt. Sie bekam nicht mit, was sich derzeit in der Wirklichkeit abspielte. Welche grausamen Taten anderer, die Menschheit zugrunde richteten.
Schon seit einer Stunde schlängelte sich die kleine Familie Torres zu Fuß durch die verzweigten Straßen von New York. Niemals hatten sie auch nur daran gedacht, Vincents schamloses Angebot anzunehmen, sich von einem seiner Handlanger abholen zu lassen, um den Abschied schneller zu überwinden. Megan konnte nicht verstehen, wie Vincent so herzlos sein konnte, ihnen ein solches Angebot zu unterbreiten. Die Eltern wollten die verbleibenden Minuten, die sie mit ihrer Tochter hatten, in Ruhe verbringen und sich vielleicht für immer von ihr verabschieden. Das war das mindeste, was sie für ihr Kind tun konnten. Trotzdem hegte das Ehepaar noch immer einen Funken Hoffnung, dass Vincent bald genug von einem Säugling haben und ihr kleines Mädchen einfach zurückbringen würde. Doch eine leise Stimme flüsterte der jungen Mutter unaufhörlich zu, dass dies in naher Zukunft nicht geschehen würde.
Der gefürchtete Geldeintreiber Vincent Leví hatte den Eltern nur zwei Wochen Zeit gelassen, um sich von ihrem Baby zu verabschieden. Heute, genau zum Ende dieses Zeitraums, würde ihre Tochter ihnen für immer entrissen und in die Obhut eines grausamen Mannes übergeben werden, um die hohen Schulden von George zu begleichen. Es war ein schreckliches Gefühl, das die Eheleute plagte. Denn sein eigen Fleisch und Blut gab man nicht einfach so ab, um Schulden zu tilgen. Doch sie hatten keine Wahl. Auch nach mehreren Jahrzehnten hätten sie es als Geringverdiener nicht geschafft, das Geld an Vincent Leví zurückzuzahlen und ihre Schulden somit zu begleichen. Sie waren gezwungen, ihr Kind freiwillig abzugeben oder sie würden den skrupellosen Geldeintreiber auf die gesamte Familie aufmerksam machen und alle gefährden.
In Stille wanderten Megan und George durch die dunklen Straßen, die nur durch die gelegentlichen Blitze des nahenden Gewitters und alten Straßenlaternen erleuchtet wurden. Der Gedanke, ihr kleines Mädchen in die Hände eines unbarmherzigen Mannes zu geben, schnürte Megan die Kehle zu. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Baby leiden würde, ohne ihre liebevollen Umarmungen und ihre Fürsorge. Doch sie wussten, dass sie keine andere Wahl hatten. Sie hatten alles versucht, um Vincent von seinem Plan abzubringen, aber es war aussichtslos. Megan wusste, wie grausam das freiwillige Abgeben des eigenen Kindes in den Ohren anderer klingen musste, sie konnte selbst kaum glauben, dass sie dazu fähig sein sollte. Doch ein Leben lang auf der Flucht zu sein, war kein Leben für ein Kind, ohne Freunde und Bildung, ein Leben in Angst.
Kurz überlegten die Eltern sogar, ihr Kind vor einer Polizeiwache abzulegen, aber sie waren sich sicher, dass Vincent Leví das kleine Mädchen eines Tages finden würde und sie würde für die Fehler ihrer Eltern bezahlen müssen.
Ein weiterer Blitz erhellte den Abend und ein ohrenbetäubender Donner folgte ihm unmittelbar nach, der die Eltern aus ihren wirren Gedanken riss. Sie bogen vom Gehweg ab und schritten durch ein Tor, das von Wildpflanzen überwuchert war, in den Central Park. Im Tageslicht hätte dieser Zugang zum Park romantisch gewirkt, aber in dieser Nacht fühlte es sich eher wie das Tor zur Hölle an. Sie folgten dem spärlich beleuchteten Weg, bis sie in der Ferne einige Gestalten sahen, die auf sie warteten. Die Anspannung stieg, als sie näher kamen. In der Gruppe der Menschen, die auf sie warteten, waren alle bewaffnet und trugen dunkle Kleidung. Vincent war nirgends zu sehen, aber Megan spürte, dass er in ihrer Nähe sein musste. Ein Mann trat aus der Gruppe hervor und sprach sie an. Mit einem tiefen, unheilvollen Ton fragte er, »Seid ihr die Torres?«
Bevor einer der beiden antwortete, dachten sie erneut über ihre Handlungen und die Fehler nach, die sie in diese missliche Lage gebracht hatten. George hatte auf qualvolle Weise erfahren, was passiert, wenn man mit den falschen Leuten um viel Geld spielt, verliert und sich immer weiter verschuldete. Besonders, wenn man von Anfang an mit Geld spielt, das man nicht besaß. Vincent hätte ihm, seinem einst treuen Leibwächter, die Schulden einfach erlassen können, aber der Geldeintreiber tat niemandem einen Gefallen, auch nicht seinen eigenen Männern gegenüber. Megan hatte auf ihre Weise gelernt, dass das Vertrauen, das sie in ihren Mann gesetzt hatte, nicht mehr vorhanden und ihr Herz gebrochen war. Ihre Eltern hatten ihr damals oft gesagt, dass George kein guter Mann für sie sei. Ihr Vater konnte als Polizeibeamter in die Akte von Megans Liebhaber sehen und hatte ihr vor vielen Jahren mehrfach erklärt, dass George für niemanden Gutes tat und sogar bereits mehrere Jahre im Gefängnis verbracht hatte. All das hatte Megan ignoriert. Sie liebte ihren heutigen Ehemann und sie würden gemeinsam über diesen Schmerz hinwegkommen. Immerhin war George nach der Geburt ihrer Tochter kürzergetreten, war keine unnötigen Risiken mehr eingegangen und war zu ihrem kleinen Mädchen genauso liebevoll wie zu seiner geliebten Ehefrau. Er hatte von Jahr zu Jahr immer weniger für seinen Boss Vincent riskiert.
Megan fasste sich als Erste ein Herz und antwortete mit zitternder Stimme auf die Frage des Mannes, »Ja, wir sind hier wegen unseres Kindes. Wo ist Vincent?«. Für die Gruppe von dunkel gekleideten Männern, schien das die richtige Antwort gewesen zu sein, denn binnen Sekunden zogen sie ihre geladenen Handfeuerwaffen und richteten sie zielgenau auf die kleine Familie. Obwohl Megan Angst hatte, bemühte sie sich, es zu verbergen, damit ihr Kind ihre Schwäche nicht spürte. Die Männer kesselten die Eltern und ihr Kind schnell ein, um ihnen keine Chance zum Entkommen zu geben. Dies sorgte dafür, dass nun auch der Geldeintreiber höchstselbst zu sehen war. Vincent trat einen Schritt vor und vervollständigte den Kreis an Verbrechern. Er war Megan und George so nah wie schon lange nicht mehr und in diesem Augenblick fasste die Mutter einen Entschluss. Sie würde um ihr Leben kämpfen, um das ihres Mannes und das ihres Kindes, koste es, was es wolle. Sie würde alles tun, um ihr Kind zurückzuholen.
»George, mein Lieber, lange nicht mehr gesehen. Schau dir das Gesicht deiner Frau an, sie plant doch schon wieder etwas. Eine gefährliche Frau wie eh und je.« George reagierte nicht auf Vincents lachende Begrüßung und starrte abwesend in die tiefschwarze Nacht. Der Gauner wandte sich jetzt an Megan, mit einem gefährlichen Tonfall in der Stimme, »Megan, wie schön, dich auch mal wiederzusehen und eure Tochter habt ihr ebenfalls mitgebracht. Ich freue mich, das Mädchen endlich kennenzulernen. Ich bin natürlich in gewissermaßen ihr Onkel, wenn auch nur platonisch. Denkst du, sie wird genauso bildhübsch werden wie du und mir dadurch lange Zeit Geld einbringen? Schade, dass ich dich nie dazu überreden konnte, in einem meiner Clubs anzufangen zu arbeiten. Ihr hättet viel Geld verdienen können, aber dein lieber Ehemann hatte leider von vornherein etwas gegen meinen Vorschlag. Auch nach so vielen Jahren ist das wirklich jammerschade, denn du würdest bei meiner Kundschaft selbst heute noch hervorragend ankommen. Sie würden dich reihenweise für ein paar Minuten im privaten Raum buchen. Also hoffen wir mal, dass eure Tochter so schnell es geht erwachsen wird.« Megan war wie in Trance. Die Wut hatte sich mit jedem von Vincents Wörtern vergrößert und sie stürmte auf Vincent zu, bereit, ihm für seine abfälligen Worte büßen zu lassen. So hatte er nicht mit ihrer Familie zu reden. Doch in dem Moment, als sie ihm gefährlich nahe kam, sah sie das Aufblitzen von Metall im Mondlicht. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille.
Megan wurde von ihrem Mann aufgefangen, als sie zusammenbrach und einzelne Tränen vor Schmerzen über ihr Gesicht liefen. Die Welt um sie herum verschwamm, während sie mit aller Kraft versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben und ihren Verstand zu sammeln. Sie konnte spüren, wie das Blut aus ihrer Wunde rann und auf den Boden tropfte. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch ihre Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Ihr Mann hielt sie fest, versuchte, sie zu beruhigen. Doch sie konnte nicht mehr sprechen, hörte das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren, ihre Atmung wurde flacher und flacher. In diesem Moment wusste sie, dass sie sterben würde und dass sie ihrem Mann und ihrem Kind nicht mehr helfen konnte. Sie hatte wieder einmal eine falsche Entscheidung getroffen, aber zumindest konnte sie sich nicht mehr mit dem Gedanken quälen, ihr Kind aus finanziellen Gründen abgegeben zu haben. Mit letzter Kraft richtete sie ihre Augen auf ihren Mann. Sie sah seine verzogenen Gesichtszüge. Er weinte, ja er schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie hörte, wie er ihren Namen rief und dass sie jetzt nicht sterben solle, sie sollte bei ihm bleiben, doch es war zu spät. Kurz vor ihrem letzten Atemzug schaute sie zu der Babyschale mit ihrer liebsten Tochter drin, welche auf dem Boden stand und murmelte etwas auf einer fremdartigen Sprache. Sie wird sich immer an die schöne Zeit mit ihrer Familie erinnern, auch wenn diese viel zu kurz war. Megan machte an diesem Abend ihren letzten Atemzug.
George umklammerte seine Frau noch fester, seine Tränen flossen unaufhaltsam. Er hatte gerade seine große Liebe verloren und wusste, als Nächstes würde sein Kind leiden müssen. Sein Verstand war in Aufruhr und er wusste nicht, was er tun sollte. Doch bevor er seine Gedanken ordnen konnte, sprach der Mann, der gerade das Leben von Megan beendet hatte. Seine Stimme klang kalt und bestimmend, »Ich bitte dich, George. Hat sie dir wirklich so viel bedeutet? Zuneigung hat in unserem Geschäftsbereich nichts zu suchen. Aber du musstest dich ja unbedingt verlieben, eine Familie gründen und mich, deinen Boss, links liegen lassen.« Vincent hielt einen Moment inne, bevor er weiter sprach, »Ich gebe dir zwei Möglichkeiten. Entweder du arbeitest wieder für mich oder du verschwindest aus der Stadt. Mach dir um deine Frau und dein Kind keine Sorgen. Deine Frau werde ich entsorgen und dein Mädchen wird in meiner Obhut sein. Doch bedenke mein lieber, in beiden Fällen wirst du deine Tochter nie wieder sehen. Was sagst du? Für welche Option wirst du dich entscheiden?« George wusste, dass er keine Wahl hatte. Aber er wusste auch, dass er niemals wieder für diesen Mann arbeiten konnte. Er war schon immer ein Feigling gewesen, wusste bereits damals nicht, wieso Vincent ausgerechnet ihn zu einem seiner Leibwächter machte, wo er doch gar nicht so gut in diesem Bereich war.
George Torres schüttelte den Kopf und erhob sich langsam, während er Megans leblosen Körper sanft auf den Boden legte. Es war ein Fehler gewesen, für Vincent zu arbeiten, das hatte er nun nach all den Jahren begriffen. »Ich werde die Stadt binnen sieben Tagen verlassen. Ich hoffe, du weißt, was du einem Freund damit angetan hast«, sprach der Vater des kleinen Mädchens. »Zu schade, aber wer weiß, vielleicht nimmt das Kind eines Tages deinen Platz an meiner Seite ein. Ich hoffe, sie wird nicht so töricht und feige sein wie du«, antwortete Vincent Leví mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. Er hatte wohl gehofft, dass George sich anders entscheiden würde.
Vincent nickte einem seiner Mitarbeiter zu und befahl ihm dadurch, sich die Babyschale mit dem Kind zu nehmen. Der Mann im Kapuzenpullover gehorchte und trat auf George zu, um den Griff der Schale zu ergreifen. Mitsamt Baby ging dieser wortlos zurück zu dem Geldeintreiber. Ohne einen Blick auf den Vater zu werfen, betrachtete Vincent das schlafende Baby, nickte zufrieden und sagte zu George, ohne ihn anzusehen, »Es war mir eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen. Wenn du dich in den nächsten Tagen umentscheiden solltest, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst, mein lieber.« Dann wandte Vincent Leví sich ab.
Der Vater blickte seinem kleinen Geschöpf ein letztes Mal hinterher. Seine tote Frau wurde derweilen von einigen Männern in einen Kofferraum gelegt. Er sah, wie Vincent Leví auf einen schwarzen Transporter zuschritt, die Seitentür öffnete und die Babyschale im Inneren des Autos verschwinden ließ. Danach öffnete er die Beifahrertür, drehte sich jedoch ein letztes Mal zu George um, »Solltest du nach dem Verlassen der Stadt jemals versuchen, Kontakt zu ihr aufzunehmen, werde ich das Mädchen umgehend töten. Sie hat ohnehin keinen Mehrwert für mich, bis sie etwas größer ist und mir Geld einbringen wird.« Daraufhin stieg er ein und schlug die Beifahrertür zu. Auch die anderen Männer, welche zuvor im Kreis um die junge Familie gestanden hatten, stiegen allesamt in ihre Autos. Die ersten Wagen rollten über den großen runden Platz im Central Park, vorbei an George, direkt zu einer privaten Zufahrtsstraße, die hinaus aus dem Park führte. Nur wenige Augenblicke später fuhr auch der Transporter mit dem Geldeintreiber und seiner Tochter langsam an dem zurückgebliebenen George vorbei. Er sah, wie Vincent den Fahrer anwies, das Fenster herunterzulassen und anzuhalten, »Ach und George, wie genau habt ihr die Kleine eigentlich genannt?«
»Timea.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top