Kapitel 8

Mit einem lauten Krachen ging Dimitrij zu Boden, nachdem er zuvor gegen die Hallenwand gekracht war, die mehrere Meter von uns entfernt war. Ein Stöhnen verließ seine Kehle, und ich erstarrte vor Schreck. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, meine Atmung ging unheimlich schnell. Was war passiert?

Dimitrij rappelte sich langsam wieder auf und ich konnte sehen, dass er sichtlich mitgenommen war. Ein leiser Fluch auf Russisch entwich seinen Lippen. Ich ging in seine Richtung, sehr langsam und vorsichtig. Die Angst pulsierte in meinen Adern und ich wusste nicht, was als Nächstes passieren würde, geschweige denn, was bis eben überhaupt passiert war.

Als Dimitrij sich wieder aufrichtete und mich bemerkte, wie ich langsam auf ihn zuging, um nach ihm zu sehen, zeigte er mir einen Blick, der nicht noch mehr Wut enthalten könnte, als er es gerade tat. Ein düsterer Ausdruck lag in seinen Augen und sein Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. Er sorgte mit seinem wütenden Blick dafür, dass ich stehen blieb. Die Angst, die in mir aufgestiegen war, wurde von einem eiskalten Schauer der Furcht abgelöst. Trotz der ruhigen und geduldigen Art, die er in den letzten zwei Wochen an den Tag gelegt hatte, schien er jetzt außer Kontrolle geraten zu sein. So hatte ich ihn noch nie erlebt.

Sein Blick durchbohrte mich und ich konnte förmlich spüren, wie sich der Raum zwischen uns mit Spannung und Aggression füllte. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging, aber ich fühlte mich plötzlich wie Beute, die von einem Raubtier verfolgt wurde. Noch immer wollte ich wissen, warum er so sauer auf mich war. Ich kann es ja schlecht gewesen sein, die ihn an die Wand geschleudert hatte. Mit welcher Kraft hätte ich das schaffen sollen?

Mit langen, bedrohlichen Schritten kam Dimitrij auf mich zu und meine ohnehin schon unregelmäßige Atmung beschleunigte sich weiter. Vorsichtig wich ich zurück. Dies ging so lange gut, bis ich rückwärts über die Kante der Übungsmatte stolperte und schließlich auf meinem Gesäß landete. Der Aufprall schmerzte leicht, aber meine Aufmerksamkeit war allein auf Dimitrij gerichtet. Noch immer kam er mir bedrohlich näher und ich konnte den Hass in seinem Blick nicht ignorieren. Es war, als ob er mich für etwas verantwortlich machte, das ich nicht einmal verstand. »Wie hast du das gemacht? Was bist du?«, schrie er mich an. Tränen sammelten sich in meinen Augen und bahnten sich anschließend die ersten Wege über meine Wangen bis hinunter zur Matte, auf welcher ich noch immer saß. In diesem Moment fühlte ich mich völlig hilflos und schutzlos gegenüber diesem Mann, den ich in den vergangenen Tagen immer besser zu kennen glaubte und ihm heute endlich anfing, zu vertrauen. Warum hatte ich vor fünf Minuten nicht auf ihn gehört, als er sagte, dass wir für heute Schluss machen. Was war nur über mich gekommen und wieso wurde Dimitrij gegen die Wand geschleudert? War hier etwa noch wer anders am Werk? Ein Eindringling vielleicht? Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, robbte ich ein Stück auf der Matte nach hinten, um den Abstand zwischen ihm und mir zu vergrößern, bloß viel brachte es nicht. Er machte mir in diesem Moment eine so große Angst, dass ich mich instinktiv aufrappelte von der Matte. Es erinnerte mich an so viele schlimme Zeiten bei meinem Onkel. 

Wie aus dem Nichts griff plötzlich eine Hand nach mir. Dimitrij schien die letzten Meter der Distanz zwischen uns in Windeseile überwunden zu haben. Er zog mich mit einem starken Griff zu sich und drückte meinen Körper gegen seinen. Seine Worte hallten in meinen Ohren wider, während ich in seinem eisernen Griff gefangen war. Die Furcht pulsierte in mir und ich konnte die Tränen in meinen Augen nicht zurückhalten. Dimitrij, der vorher so geduldig und verständnisvoll gewesen war, schien sich in einen völlig anderen Menschen verwandelt zu haben. Er drückte mich fest an sich und sein Atem kam in unregelmäßigen, gereizten Schüben über meine Wange. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt und ich konnte die Wut in seinen Augen förmlich spüren.

»Was bist du?« wiederholte er mit bebender Stimme und schüttelte mich leicht. Die Angst schnürte mir die Kehle zu und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nicht, wie ich auf seine Frage antworten sollte, hatte keine Erklärung für das, was gerade passiert war. Ich war doch einfach nur ich!

Sein Griff wurde fester und unbarmherziger und ich stöhnte fast geräuschlos auf vor Schmerz. Sein Gesicht, nur Zentimeter von meinem entfernt, wurde von der Wut verzerrt, die sich in seinen Augen spiegelte. Er schien nach einer Antwort zu suchen, nach einer Erklärung für das Unbegreifliche. Doch ich konnte ihm keine bieten. Ich konnte nicht einmal für mich selbst verstehen, was geschehen war. All die Gefühle, die ich in den letzten Minuten durchlebt hatte, wirbelten in meinem Inneren durcheinander.

Mein Schweigen wurde zu meiner größten Schwäche, denn in diesem Moment sehnte ich mich nach Worten, nach einer Möglichkeit, ihn zu beruhigen und zu erklären, dass ich keine Kontrolle über das Geschehene hatte. Doch ich blieb stumm. Der Russe schien meine Stille als Trotz oder Verschlossenheit zu interpretieren, denn sein Griff wurde nur noch härter. Ein scharfer Schmerz durchzuckte mich und ich rang nach Atem. »Ich will eine Antwort von dir haben. Rede endlich!« 

Plötzlich lässt er mich los und ich falle abrupt zu Boden. »Wenn du spielen willst, dann lass uns spielen, kleiner Dämon. Lauf, bevor ich dich kriege!«, waren seine letzten Worte an mich.


Schweißgebadet wachte ich auf und saß kerzengerade im Bett. Es war ein Traum. Nur ein verdammter Traum. Nach dem Training gestern mit Dimitrij, hatte ich mich ins Bett gelegt und muss direkt eingeschlafen sein. Ich hatte die Übung nicht mehr hinbekommen und wir hatten unser Training beendet, erinnerte ich mich. Alles, was eben geschehen war, war keine Realität gewesen. Ich ließ mich schwer atmend auf mein Bett zurücksinken und starrte zur Decke. Dimitrij, der mich gestern noch so geduldig trainiert hatte, war in diesem Albtraum zu einem wütenden, unberechenbaren Raubtier geworden. Sein Blick hatte mir Furcht eingejagt und seine Worte hatten mich schier erdrückt. Als er mich losgelassen und zu Boden gestoßen hatte, war ich in einem Zustand ausgelöster Panik aufgewacht. Der Traum hatte sich so real angefühlt, dass ich immer noch zitterte.

Auch als mir von der älteren Dame wie so oft in den vergangenen Wochen Frühstück gebracht worden war, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen und mich zu beruhigen. Es war nur ein Traum gewesen, sagte ich mir immer wieder. Doch die Gefühle, die er in mir ausgelöst hatte, hingen noch immer schwer in der Luft. Ich fühlte mich verletzlich und ausgeliefert, und die Bilder aus dem Traum verfolgten mich wie ein düsterer Schatten. 

Es war spät am Nachmittag, als ich immer noch auf meinem Bett lag und versuchte, mich zu beruhigen. Die Sonne schien durch das Fenster, und der Raum war in ein warmes, goldenes Licht getaucht. Normalerweise hätte ich längst aufstehen müssen, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden. Die Angst, die der Traum in mir ausgelöst hatte, saß noch immer tief.

Plötzlich hörte ich Schritte im Flur und das leise Murmeln von Stimmen. Jemand schien in die Richtung meines Zimmer zu gehen auf der Plattform. Ich horchte auf und lauschte aufmerksam. Die Schritte kamen näher und ich erkannte Dimitrijs tiefe Stimme. Er schien mit jemandem zu sprechen. Ich sah zur Tür, die sich nach einem kurzen Klopfen langsam öffnete.

Xavier betrat den Raum, gefolgt von Dimitrij. Ich zog reflexartig die Decke enger um mich, als ob sie mir Schutz bieten könnte. Mein Blick traf den von Dimitrij und ich konnte in seinen Augen eine Mischung aus Verwirrung und Besorgnis erkennen. Die Panik musste mir in mein Gesicht geschrieben sein, denn auch Xavier beäugte mich streng. Xavier trat näher, sein Gesicht besorgt. »Was ist passiert? Bist du in Ordnung?« fragte er leise. Ich antwortete nicht, sondern starrte sie nur stumm an. Dimitrij musterte mich aufmerksam und trat ebenfalls näher, als wollte er mich genauer in Augenschein nehmen und ja nichts verpassen. Seine Augen verengten sich leicht, als er mich genauer ansah.

Dann, ohne ein Wort zu sagen, streckte Xavier seine Hand aus, um mich zu berühren, als ob er mich beruhigen wollte. Doch als seine Hand mich sanft am Arm traf, fuhr ein Blitz der Panik durch meinen Körper. Der Albtraum war so lebhaft und real gewesen, dass ich fürchtete, dasselbe würde geschehen, wenn Xavier mich anfasste. Ich wollte niemanden wehtun.

Ich zuckte zusammen und wich zurück, meine Augen weit aufgerissen vor Furcht. Dimitrij und Xavier tauschten einen verstörten Blick aus und zogen sich dann zurück. Die beiden Männer sprachen leise miteinander, während ich weiterhin jede ihrer Bewegungen genau beobachtete, meine Knie eng an meinen Körper gezogen. Schließlich wandte sich Xavier wieder mir zu. »Was ist los?«, fragte er besorgt. »Dimitrij erzählte mir von deinen Fortschritten in den letzten zwei Wochen, die ich abwesend war und sagte mir auch, dass bis gestern Abend noch alles in Ordnung war.«

Jedoch konnte ich nicht sprechen. Ich konnte die Worte nicht finden, um zu erklären, was in meinem Albtraum geschehen war und warum er mich so zutiefst erschüttert hatte. Stattdessen schloss ich die Augen und versuchte, mich in meiner eigenen Welt zu verstecken, weit weg von den Erinnerungen an den Albtraum und der Furcht vor dem, was er mir über Dimitrij gezeigt hatte, auch wenn ich wusste, dass es nicht die Realität gewesen war.

Die Matratze gab neben mir nach. Jemand hatte sich darauf gesetzt und befand sich nun unmittelbar neben mir. »Geh nur Dimitrij, mach deinen Job und ich kümmere ich mich um die kleine.« Kurz darauf hörte ich, wie meine Zimmertür geschlossen wurde.

Xavier starrte mich besorgt an, während ich mich immer noch in meinen eigenen Gedanken vergrub und keinen Laut von mir gab. Ein Nicken oder Kopfschütteln wäre genug gewesen, um ihm zu zeigen, dass ich in Ordnung war, aber auch das ging gerade nicht. »Komm schon, sprich mit mir«, bat er sanft und legte eine beruhigende Hand auf meine Schulter. Doch die Berührung fühlte sich an, als ob sie durch meinen Körper elektrische Schocks jagte. Ich zuckte zurück. »Ist in der letzten Nacht etwas passiert, von dem ich wissen sollte, kleines? Du weißt, dass das hier meine Männer sind, ich habe das Sagen und ich werde davon Gebrauch machen, sollte einer von ihnen schuld an deinen derzeitigen Gefühlen sein.« Theoretisch hatte er nicht unrecht. Irgendwie war Dimitrij ja schuld an dieser Situation. Hätte ich mich gestern Abend nicht auf sein Vorhaben eingelassen, wäre es gar nicht erst so weit gekommen.

Xavier wechselte das Thema, »Ich habe gehört, dass vor zwei Wochen das Training meiner Männer etwas aufgemischt und du gestern Abend mit Dimitrij ein wenig geübt hast. Er klang sehr zufrieden mit dir, als er es mir vorhin erzählte. Das war auch eigentlich der Grund, warum ich hergekommen war, mit ihm.« Er weckte mein Interesse an dieser bisher komplett einseitigen Konversation. Wollte er mir mitteilen, dass ich es doch bitte zu unterlassen habe, seine Mitarbeiter abzulenken? Das musste es sein!

»Ich möchte, dass du dich weiterhin in diese Gemeinschaft integrierst. Ich war zwei Wochen lang abwesend, du hättest einfach gehen können, doch du hast es nicht getan. Zeige mir, dass du hier bleiben möchtest und ich dir vertrauen kann. Dimitrij wird dein Trainingspartner und ich habe dir eine kleine Aufgabe zur Beschäftigung mitgebracht. Wenn du also der Meinung bist, dass alles in Ordnung ist, dann erscheine in einer halben Stunde bitte in meinem Büro.« Unsicher, was ich davon halten sollte, sah ich ihn endlich an. Er stand bereits auf, warf mir noch einen warmen, gütigen Blick zu und verließ mein Zimmer.

Ich wäre zwar mit seinem Vorschlag einverstanden, doch dass ich noch einmal mit Dimitrij trainieren musste, war mir ein Dorn im Auge. Ich hatte die Wahl. Ich durfte einfach gehen, wenn ich wollte. Niemand würde mich aufhalten.

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