Kapitel 7

Das Katz-und-Maus-Spiel hatte erneut begonnen und diesmal war ich es, die versuchte, ihn immer wieder zu berühren. Doch er schien über die Matte zu gleiten, mühelos meinen Angriffen auszuweichen, während ich schon bald außer Atem war. Er lächelte herausfordernd und schien seine Überlegenheit nun wieder zu genießen. Noch einmal versuchte ich es. Ich holte tief Luft, versuchte, ruhig zu bleiben und schloss für einen Bruchteil einer Sekunde die Augen. Ich überlegte, wie ich seinen nächsten Zug vorhersagen konnte. Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf und mit einem Mal übernahm mein innerer Geist die Kontrolle über meinen Körper. Ich fühlte mich wie gesteuert, meine Bewegungen waren plötzlich so ungewohnt fließend und sicher. 

Als ich meine Augen wieder öffnete, war ich mir sicher, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte ihn nur knapp verfehlt und das war näher, als ich ihm je gekommen war. Doch plötzlich taumelte ich, da ich mit voller Wucht ins Nichts gegriffen hatte. Ich stolperte über meine eigenen Füße und wäre beinahe gestürzt, hätte mich der Russe nicht in letzter Sekunde aufgefangen. Er stand nun dicht vor mir und sein Blick war gleichermaßen überrascht und nachdenklich. »Ja, genauso habe ich mich vorhin auch kurz gefühlt«, sagte er und ließ mich langsam wieder los, nachdem er mich auf meine Beine gestellt hatte. Inmitten des unbehaglichen Schweigens und der gespannten Blicke der Männer in der Halle spürte ich, wie der Russe, dessen Name mir noch immer unbekannt war, mich genauer ansah. Seine Augen durchbohrten meine und es schien, als ob er nach Antworten in meinem Gesicht suchte. Doch ich hatte keine Antworten. Alles, was gerade geschehen war, fühlte sich an wie ein seltsamer Traum, aus dem ich jeden Moment erwachen könnte.

Der Russe trat einen Schritt zurück und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du bist wirklich bemerkenswert«, sagte er schließlich, eher zu sich selbst als zu mir. Dann richtete er seinen Blick erneut auf mich. »Kannst du das wiederholen? In einer neuen Trainingsstunde mit mir? Fernab der neugierigen Blicke unseres Publikums.«

Ich wusste nicht, wie ich in diese Lage geraten war, aber ich konnte nicht leugnen, dass meine Neugier geweckt war. Vielleicht konnte ich hier Antworten finden, die mir halfen, die seltsamen Dinge zu verstehen, die mit mir geschahen. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte ich in dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft einen Ort finden, an dem ich wirklich dazugehörte.

In den folgenden Tagen versuchte ich mich weiterhin in mein neues Leben und die ungewohnte Umgebung einzufinden. Die Lagerhalle, die nun mein Zuhause war, hatte etwas Gespenstisches an sich. Das Tageslicht, das durch die großen Fenster hereinfiel, verlieh ihr tagsüber einen leicht düsteren Glanz, während sie nachts in ein Reich der Schatten gehüllt war. Irgendwie fühlte sich alles anders an, seit dem Training mit dem Russen. Ich erfuhr, dass sein Name Dimitrij war. Er war ein Mann von wenigen Worten, aber seine eisigen Augen verrieten eine Tiefe, die mich unruhig machte. Trotz meiner anfänglichen Faszination für sein geheimnisvolles Wesen empfand ich auch eine gewisse Abneigung gegen ihn. Sein Blick schien mich jedes Mal ein Stück weiter zu durchdringen und ich fragte mich, was er in mir suchte. Doch ich war nicht gewillt, ihm freiwillig Einblick in meine Gedankenwelt zu gewähren. Als er mir gestern vorschlug, das ungewöhnliche Training zu wiederholen, lehnte ich ab. Mir war alles zu unheimlich und fremdartig. Mein Onkel hatte mir stets eingeschärft, alles Seltsame für mich zu behalten und dieses Training passte eindeutig in diese Kategorie. Ich hatte bereits genug von mir gezeigt und wollte nicht weiterhin im Mittelpunkt stehen.

Dimitrij ließ jedoch nicht locker. Er klopfte immer wieder an meine Tür und stand im Türrahmen, als wäre er ein Schatten, der mich nicht verlassen konnte. Er versuchte, mit mir über Gott und die Welt zu reden, als ob er mein Vertrauen gewinnen wollte. Ihm war dabei herzlichst egal, dass ich ihn weder ansah noch kein Wort mit ihm wechselte. Mein Schweigen war meine stärkste Verteidigung. Es war ein Schutzschild, den ich um mich errichtet hatte und den ich nicht so leicht durchbrechen lassen würde. Weder von Finn, noch von Dimitrij oder von Xavier. Doch mit jedem wortlosen Abblitzen in den kommenden Tagen, tauchte der Russe immer häufiger in meiner Umgebung auf.

An einem regnerischen Abend, als ich wie so oft seit Xavier abwesend war, allein in meinem Zimmer saß und in ein Buch vertieft war, hörte ich erneut das leise Klopfen an meiner Tür. Ein Seufzen entwich meinen Lippen, aber ich stand auf und öffnete sie widerwillig. Dimitrij stand davor und seine Augen waren heute weniger eisig, sondern hatten einen warmen Glanz. Er schien zu lächeln, als er mich ansah. »Wie ich sehe, liest du das Buch, welches ich dir bei meinem letzten Besuch mitgebracht habe«, sprach er und deutete mit seinem Blick auf das Buch, welches ich noch immer in der Hand hielt. »Kann ich hereinkommen?« Seine Stimme war ruhig und sanft, ganz anders, als ich es von ihm kannte. Ich trat einen Schritt beiseite und ließ ihn eintreten. Er schaute sich interessiert in meinem spärlich eingerichteten Zimmer um. Bisher hatte er sich nicht weiter als bis zum Türrahmen getraut. Er setzte sich auf meinen einzigen Stuhl und sah mich nachdenklich an.

»Du weißt, du kannst mit mir sprechen, wenn du möchtest. Du musst nicht immer schweigen«, sagte er und versuchte, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Genervt setzte mich auf mein Bett und wartete darauf, dass er mir sagte, was er dieses mal wollte. Dimitrij seufzte leicht und fuhr fort, »Du bist interessanter, als du denkst. Ich habe selten jemanden getroffen, der so tief in sich selbst verschlossen ist.« Sein Blick war durchdringend und ich konnte nicht anders, als mich unbehaglich zu fühlen. Daher konzentrierte mich stattdessen wieder auf das Buch in meinen Händen und versuchte, weiterzulesen.

Doch Dimitrij war hartnäckig und begann, über verschiedene Themen zu sprechen, als ob er die Stille durchbrechen wollte. Ich ignorierte seine Worte wie jedes Mal. Er erzählte von seiner Vergangenheit, von den Ländern, die er bereist und von den Abenteuern, die er erlebt hatte. So viel bekam ich mit, doch mein Kapitel in diesem spannenden Buch war einfach viel interessanter als sein Gerede. Ich verstand wirklich nicht, warum er das machte. Warum er sich einen Narren an mir gefressen hatte und mich nicht mehr in Ruhe ließ.

Plötzlich stand er auf und trat näher zu mir. Sein Blick war intensiv, als er mich ansah. »Warum tust du das?«, fragte er leise. »Warum ignorierst du mich so sehr, wenn ich dir doch nur ein guter Trainingspartner sein will und zumal auch dein bester Zuhörer werden könnte?« Ich blickte auf und traf seinen Blick. In seinen Augen lag eine Mischung aus Verwirrung und Entschlossenheit. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, aber ich konnte ihm immer noch keine Antwort geben. Ehe ich mich versah, hatte er mein Zimmer wieder verlassen und mir eine gute Nacht gewünscht. 

Die nächsten Tage vergingen quälend langsam und Dimitrij ließ noch immer nicht locker. Er tauchte immer wieder in meiner Nähe auf, sprach mit mir und versuchte, meine Beachtung zu erlangen. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber es wurde zunehmend schwerer. Trotz meiner Abwehrmaßnahmen schien er immer mehr über mich herauszufinden. Über meinen Charakter. Irgendwie verschwand auch meine Abneigung gegen ihn mit jedem Mal ein wenig. Doch jedes Mal, wenn jemand der anderen Männer in der Nähe war, verstummte auch Dimitrij mit einem Mal. Als wolle er nicht, dass jemand sieht, wie er redet. In solchen Momenten war er auch nicht mehr der liebe Dimitrij, sondern der, vor dem man Angst haben sollte. Er wurde wieder zu dem Mann, der sich bei unserem ersten Treffen aus der Dunkelheit hievte und ins Licht trat. Für mich war es unheimlich anstrengend den lieben und dann schlagartig wieder den bösen Dimitrij auszuhalten.


Eine weitere Woche war vergangen, seitdem ich mich erfolglos bemüht hatte, Dimitrij zu ignorieren. Somit war die Trainingseinheit gute zwei Wochen her. An diesem ruhigen Abend, als die anderen bereits das Gelände verlassen hatten und die untergehende Sonne den Himmel in ein tiefes Rot tauchte, entschied ich mich für einen Spaziergang. Die kühle Herbstluft fühlte sich erfrischend an und ich hoffte, dass ein Spaziergang mir half, meine Gedanken zu ordnen.

Doch schlagartig wurde meine Ruhe durch einen festen Griff gestört. Von hinten wurde ich gepackt und zu Boden geworfen. Der Aufprall auf das feuchte Gras war schmerzhaft und ich wollte mich gerade aufraffen, als ich bemerkte, wer mich festhielt. Dimitrij. Was machte er denn noch hier? Er drückte meine Handgelenke in das feuchte Gras und sprach ernst, »Ich habe dir ja gesagt, wir setzen unser Training fort. So langsam habe ich auch wirklich keine Geduld mehr, dich davon zu überzeugen.« Seine Stimme klang ungeduldig und seine eisigen Augen durchbohrten mich regelrecht. Ich wandte den Kopf ab, unfähig, ihm in die Augen zu sehen. Mit einem Mal verschwand sein Gewicht von mir und er zog mich auf die Beine. Sanft führte er mich an meinem Handgelenk in mein Zimmer. Ohne ein weiteres Wort öffnete er meinen Schrank und begann nach geeigneter Trainingskleidung zu suchen. »Hier, zieh das an«, sagte er schließlich bestimmend und reichte mir eine schwarze dünne Stoffhose und ein schlichtes T-Shirt. »Es sind bereits alle weg. Nur noch wir beide dürften hier sein. Wir beginnen auch ganz langsam. Doch du wirst heute damit anfangen, dich mir zu öffnen und mit mir trainieren.« Seine Worte klangen fordernd und ich spürte eine gewisse Zielstrebigkeit in seiner Stimme. 

Ich betrachtete die Kleidung, welche der Russe mir in die Hand gedrückt hatte. Die Idee, das Training zu starten, beunruhigte mich zutiefst. Ich nickte zögerlich, Dimitrij verließ das Zimmer, um mir etwas Privatsphäre zu geben und ich begann, mich umzuziehen. Als ich fertig war, ging ich zu meiner Zimmertür. Er wartete davor wie ein Wachhund. Ohne Murren folgte ich ihm. Im Erdgeschoss verschwand er in einen kleinen Raum und kam wenige Augenblicke später mit einer der Trainingsmatten zurück, welche er auf den kühlen Hallenfußboden legte und auseinanderklappte, um die Fläche zu vergrößern. Er schien sich Mühe zu geben, seine rauen Kanten zu glätten, während er die Atmosphäre um sich herum lockerte. Sein Blick war nicht mehr so durchdringend und kalt wie zuvor. Stattdessen lag in seinen Augen eine unerwartete Sanftheit.

»Wir beginnen mit den Grundlagen«, sagte er leise und trat zur Seite, um Platz für mich zu schaffen. »Du musst lernen, dich geschickt zu bewegen, um deinem Gegner näherzukommen. Es ist wie ein Tanz, bei dem du die Kontrolle über deinen Körper behältst. Auch wenn mich deine Vorstellung bei unserem letzten Treffen auf solch einer Matte beeindruckt hat, glaube ich nicht, dass du in dem Moment wusstest, was du tust.« Ich sah ihn skeptisch an, immer noch misstrauisch, aber seine veränderte Art und die Beruhigung der Atmosphäre um uns herum führten dazu, dass ich mich leichter entspannte. Langsam betrat ich die Trainingsmatte und sah zu Dimitrij auf, da er zwei Köpfe größer war als ich. Sein Lächeln war schwach, aber es war da, als er mir half, mich auf die richtige Haltung zu konzentrieren.

»Versuche, dich leichtfüßig zu bewegen«, sagte er und führte mich in einige einfache Schritte ein. Er gab klare und präzise Anweisungen, während er mir half, meine Bewegungen zu koordinieren. Obwohl ich immer noch frustriert und verwirrt darüber war, wie ich in diese Situation geraten war, fand ich mich bald damit ab, dass ich nicht länger fliehen konnte. Wir übten die Grundlagen des Trainings immer wieder an diesem Abend. Dimitrij war geduldig und einfühlsam, immer darauf bedacht, dass ich mich nicht überforderte. Seine Hände waren warm, wenn er mich korrigierte und ich begann, mich auf seine Berührungen einzulassen, um meine Bewegungen zu verfeinern.

Es waren bereits zwei Stunden vergangen, seitdem Dimitrij und ich mit unserem ersten richtigen Training begonnen hatten. Der Tag neigte sich dem Ende zu und die Dämmerung kroch langsam über den Himmel. In dieser Zeit hatte er mir viele neue Übungen gezeigt, aber die letzte schien einfach nicht zu klappen. Ich fühlte mich frustriert und ungeduldig, als ich immer wieder scheiterte. Dimitrij versuchte, mich zu beruhigen. »Es ist in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Du lernst schnell, aber manchmal braucht es Zeit, um neue Sachen zu beherrschen«, sagte er mit einem besänftigenden Ton.

Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu entspannen. Doch die Frustration nagte weiter an mir. Ich wollte es so sehr schaffen, aber es schien, als würde sich meine eigene Ungeduld gegen mich wenden. Ich zwang ihn dazu, diese Übung wieder und wieder mit mir zu machen, indem ich jedes Mal einfach erneut auf ihn losging. Noch immer konnte ich nicht verstehen, warum diese eine Übung so schwer für mich war, wenn doch die vorherigen so gut gelaufen waren. Dimitrij trat nach der erneut gescheiterten Übung einen Schritt näher an mich heran und legte eine beruhigende Hand auf meine Schulter. Sein Blick war sanft, und er lächelte mir ermutigend zu. »Du schaffst das. Konzentriere dich und versuche es noch einmal. Du musst den Rhythmus finden.«

Ich nickte und versuchte, mich zu sammeln. Noch einmal schloss ich die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte, mich auf die Übung zu konzentrieren. Ich visualisierte die Bewegungen, die ich machen sollte und versuchte, den Rhythmus zu erfassen. Doch trotz meiner Bemühungen schien es, als wäre eine unsichtbare Barriere zwischen der richtigen Ausführung der Übung und mir. »Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Du hast dich heute endlich auf mich eingelassen und konntest etwas lernen. Das muss erst einmal reichen, es ist schon spät«, versuchte er mir klarzumachen. Doch ich wollte noch nicht, ich konnte einfach nicht aufhören, hatte irgendwie die Kontrolle über meine Gefühle und mich verloren. Plötzlich spürte ich, wie die Wut in mir hochstieg. Die Frustration und Enttäuschung über meine Unfähigkeit entluden sich in einem plötzlichen Wutausbruch. Wie ein kleines Kind trat ich frustriert gegen den Boden, drehte mich von ihm weg und atmete laut, versuchte mich wieder in den Griff zu bekommen. Mein Körper fühlte sich wie gelähmt an. Dimitrij versuchte erneut, mich zu beruhigen. Die plötzliche Veränderung in meinem Verhalten hatte mir Angst gemacht. Ich merkte genau, wie Dimitrij immer näher kam und spürte plötzlich eine Gefahr in ihm. Doch in dem Moment, als er nach meiner Hand greifen wollte, drehte ich mich zu ihm um. Die Energie und Wut, welche sich bis eben in mir angesammelt hatte, war mit einem Mal völlig weg.

In diesem Moment geschah etwas Unverzeihliches.

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