Kapitel 6
Gemeinsam hatten wir Xaviers Räumlichkeiten verlassen und er hatte mich vor wenigen Augenblicken in mein Zimmer zurückbegleitet. Auf dem Weg hierher konnte ich sehen, wie unten einige Männer unter Anleitung eines breitschultrigen Mannes Nahkampfsituationen trainierten. Das Hallentor war komplett hochgezogen worden und ließ frische Luft und viel Licht hinein.
Ich hatte mich auf das Bett gesetzt, nachdem Xavier wieder in sein Büro zurückgekehrt war. Da meine Zimmertür noch geöffnet war, drangen gedämpfte Stimmen und der dumpfe Klang von Körpern, die auf Matten geworfen wurden, zu mir hinauf. Doch sie kümmerten mich nicht weiter. Stattdessen versank ich, wie so oft, in meinen wirren Gedanken. Sollte ich nicht vielleicht doch einfach gehen oder war dies das Leben, das mir zugeteilt worden war?
Die Information, dass Xavier Huntley ein Mafiaboss war, lastete schwer auf mir. Er hatte mein Zuhause mit voller Absicht zerstört, weil mein Onkel ihm mehr als einmal im Weg stand. Das war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass mit diesem Mann nicht zu spaßen war. Doch trotz all dieser Dinge musste ich ihm auch dankbar sein. Dankbar dafür, dass er mich gerettet hatte aus dieser Hölle, welche sich zwanzig Jahre lang mein Leben nannte. Ein Konflikt, der in mir tobte, denn ich fragte mich, ob ich einem Mafiaboss mehr trauen konnte als meinem eigenen Blut. Wo doch beide solch gefährliche Männer waren.
Die Tage verstrichen und ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich versuchte, einfach durch die kommenden Tage zu schlittern. Xavier war für ein paar Tage geschäftlich verreist, so teilte man es mir mit. Jeden Morgen fand ich frische Kleidung und ein liebevoll zubereitetes Frühstück auf meinem Schreibtisch. Auch abends erschien immer eine ältere Dame, um mir Abendessen zu bringen. Doch ich ignorierte sie stets, wollte bislang nicht zu viele Bindungen hier aufbauen, wusste weiterhin nicht so recht, ob ich lange bleiben würde. Als ich am vierten Tag erwachte und bemerkte, dass Xavier immer noch nicht da war, hörte ich Männerstimmen durch meine geschlossene Zimmertür. Sie schienen unten im Erdgeschoss der Lagerhalle wieder einmal zu trainieren.
Ich beschloss kurzerhand, mich anzuziehen und mein Zimmer zu verlassen. Ich setzte mich auf die oberste Stufe der Metall-Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss führte, wenn man es denn so nennen konnte, und schaute den Männern beim Training zu. Der breitschultrige Mann schien, wie auch vor einigen Tagen bereits, das Sagen zu haben. Kaum hatte er einen der Männer angeschrien, fuchtelte er wild mit den Armen und zerriss einen anderen förmlich emotional. Nach einigen Minuten verließ er die Halle durch das wieder geöffnete Hallentor und verschwand um die Ecke. Die Männer trainierten unverdrossen weiter. Keiner von ihnen konnte älter als 35 sein, aber die meisten waren sicherlich älter als ich. Mit meinen zwanzig Jahren hatte ich das Gefühl, kaum Erfahrungen gemacht zu haben und blickte mit gemischten Gefühlen auf die kommenden Jahre. Doch in dieser Sekunde schob ich meinen inneren Kampf des Bleibens oder Gehens beiseite und konzentrierte mich auf die Bewegungen der Männer, welche so viel Testosteron verströmten in ihren anmutigen und zugleich angsteinflößenden Bewegungen.
Ich beobachtete fasziniert, wie einer der Männer, ein schlanker, aber kräftiger Typ mit kurzem Haar, auf seinen Trainingspartner zustürmte und einen gezielten Schlag in dessen Magen platzierte. Der andere Mann taumelte zurück und versuchte, sich zu fangen, während der Angreifer sofort zum nächsten Vorstoß ansetzte. Doch der Verteidiger konnte sich schnell wieder zusammenraffen und blockte den nächsten Angriff mit seinem Unterarm ab. Es war atemberaubend zu sehen, wie sie sich immer wieder gegenseitig attackierten und dann wieder verteidigten, dabei schnelle und präzise Bewegungen ausführten und wie gut sie ihre Körper beherrschten, um ihre Bewegungen zu perfektionieren. In meinem alten Zuhause bei meinem Onkel war ich von solchen Aktivitäten ausgeschlossen gewesen. Die Begründung lautete, dass ich nur eine Ablenkung wäre und ich für meine spätere Position an Vincents Seite keine Kampferfahrung benötigen würde.
Plötzlich wurde ich von einigen der trainierenden Männer auf der Treppe entdeckt. Sie beendeten ihre Übungen und sahen zu mir hinauf. Einer von ihnen, mit einem aufmerksamen Blick und einem freundlichen Lächeln, rief herauf, »Hey, du da oben! Warum setzt du dich nicht in Bewegung und kommst zu uns? Du kannst sicherlich etwas von unserem Training mitnehmen.«
Ein anderer stellte sich neben ihn und verschränkte die Arme, als er scherzhaft sagte, »Ja, wir sind auch harmlos und tun dir mit Sicherheit nicht weh.« Die übrigen Männer hielten in ihrem Training inne und lachten über diese Bemerkung. In diesem Moment war ich mir nicht ganz sicher, ob sie sich über mich lustig machten oder über den Spruch des Mannes, aber ich fühlte mich unbehaglich.
Doch dann intervenierte der junge Mann, der das Gespräch angestoßen hatte. »Ach kommt, hört doch auf, sie zu ärgern. Das war eine ernst gemeinte Frage. Wenn sie länger hier bleibt, dann muss sie doch wenigstens etwas bei uns lernen. Wir können eine so wunderschöne Frau doch nicht einfach in die Weltgeschichte hinauslaufen lassen.« Er versuchte, die Stimmung zu beruhigen. Doch ein anderer Mann winkte ab, »Vergiss es, die kommt da nicht runter«, und wandte sich wieder dem Training zu. Die Männer schienen mich nun wieder zu ignorieren. Auch der junge Mann, welcher dieses Gespräch ins Rollen gebracht hatte, drehte sich indessen wieder um und trainierte weiter. Obwohl keiner mir mehr Beachtung schenkte, wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Meinen Blick ließ ich über das gesamte Erdgeschoss der Halle wandern, doch konnte niemanden ausmachen. Da ich erstens, keine graue Maus sein wollte, und ich zweitens, genug von dem Gefühl der Beobachtung hatte, entschied ich mich für meinen nächsten Schritt.
Entschlossen erhob ich mich von der Treppenstufe und begann die ersten Stufen hinunterzugehen. Das Knarren der Treppe hallte durch die Halle und einer nach dem anderen dreht sich erneut in meine Richtung. Sie grinsten, als ich schließlich unten ankam. »Na, sieh mal einer an. Die Süße ist gar nicht so schüchtern, wie gedacht!« Ein Murmeln untereinander in der Gruppe war vernehmbar, als ich immer näher an sie herantrat. Keinesfalls mit festen Schritten, sondern wie ein scheues Reh, begab ich mich zu ihnen.
Der junge Mann, der mir zuerst angeboten hatte, mit ihnen zu trainieren, kam auf mich zu und streckte mir freundlich seinen Arm entgegen. »Komm, ich schleuse dich an den hungrigen Wölfen vorbei und wir beide trainieren eine Runde.« Entschieden ergriff er meine Hand und führte mich zielstrebig zu den ausgelegten Matten auf dem Boden, um schwere Verletzungen zu vermeiden. Während wir zwischen den neugierigen Blicken der Männer hindurchgingen, fühlte ich mich leicht unwohl. Er wählte eine große Matte in der Ecke der Lagerhalle, wo nicht zu viele Blicke und trafen. Der junge Mann schien entschlossen, mir einige Dinge zu zeigen, und platzierte mich in der Mitte der Matte.
»Hast du schon mal gekämpft, oder ist das dein erstes Mal?«, fragte er ruhig und aufmerksam. Mir fiel auf, dass ich bislang nicht einmal seinen Namen kannte. Die anderen Männer näherten sich langsam, um zuzuhören. Vielleicht sollte ich gestehen, dass ich nie zuvor gekämpft hatte, sondern immer nur Schläge eingesteckt hatte, aber es schien bereits zu spät zu sein. »Okay, ich vergaß, du sprichst nicht so gerne. Ähm, ich bin übrigens Finn, falls dir das hilft«, bemerkte er und schmunzelte. »Beginnen wir mit einer ganz einfachen Übung, in Ordnung? Wir schauen einfach mal, was du mit deinen Reflexen anstellen kannst.« Er wollte gerade weiterreden, als er unterbrochen wurde.
Ein bedrohlicher Satz, begleitet von einem russischen Akzent, durchbrach die Stille der Trainingshalle, »Hör auf so viel zu reden und geh beiseite.« Die Worte trafen wie ein eiskalter Schauer auf mich, obwohl sie an meinen neu ernannten Trainingspartner gerichtet waren. Die Dunkelheit hatte ihn bis zu diesem Moment vor meinen Blicken geschützt, aber jetzt trat er aus dem Schatten in das leichte Licht der Halle. Ein Mann von atemberaubender Attraktivität, mit kurzen, braunen Haaren und einem Gesicht, das von markanten Zügen geprägt war, bewegte sich auf mich zu. Seine Schritte waren bedacht und klangen wie das unaufhaltsame Pochen eines düsteren Herzschlags in der Stille. Seine Präsenz war erdrückend und unheimlich faszinierend zugleich. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden, doch war ich nervös, atmete flache.
Während er sich näherte, konnte ich seinen Blick förmlich auf meiner Haut spüren. War er der Grund, warum ich mich auf der Treppe beobachtet gefühlt hatte? Wieso hatte ich ihn eben von meinem sicheren Beobachtungsposten nicht entdeckt? In diesem Moment verspürte ich eine Mischung aus Furcht und Neugier. Sein Blick schien mich zu durchdringen und seine finsteren Augen hielten mich gefangen. Warum bat er Finn beiseitezutreten, wollte lieber er mir Dinge beibringen? All diese Fragen tanzten in meinem Kopf, während ich da stand und auf den geheimnisvollen Mann starrte, der mir mittlerweile gegenüberstand. Keinesfalls, dachte ich mir. Auf gar keinen Fall möchte ich diesen Mann als Trainingspartner. Seine Aura sorgte eher dafür, dass ich schreiend wegrennen möchte. Einfach ganz anders als Finn, welcher bereits die Matte verlassen und sich zu den anderen gesellt hatte. Somit war meine Chance nein zu sagen und mich wieder dem lieb aussehenden Finnyboy zuzuwenden, verstrichen.
Eine Minute verging in quälender Stille, während der Unbekannte und ich einander anstarrten. Seine finsteren Augen durchbohrten mich förmlich und ich fühlte mich, als ob ich bis auf die Seele entblößt wäre. Ich verfluchte meine eigene Mutlosigkeit und meine Unfähigkeit zu sprechen. Gerade jetzt wäre doch ein guter Moment, um einfach mal ein Wort zu sagen. Freundlich ein 'Danke, aber nein danke' hervorbringen, mich umdrehen und gehen. Warum brachte ich keinen Ton hervor, der mir vielleicht helfen könnte, aus dieser unheimlichen Situation zu entkommen? Die anderen dieser Gruppe, welche eben noch interessiert zu gesehen hatten, hatten ihre Blicke geändert. Sie sprühten Respekt und Spannung gleichermaßen aus.
Schritte. Schnelle Schritte. Bestimmende und zielstrebige Schritte. Ich spürte, wie seine Hand meine Schulter nur knapp streifte, bevor er in die Leere taumelte. Ein erstickter Ausruf entrang sich seinen Lippen, während ich mich ruckartig umschaute. Mit einem Mal befand ich mich an einer völlig anderen Stelle auf der Matte. Verwirrt starrte ich auf die Stelle, wo ich bis eben noch gestanden und wo ich bis eben auf diesen Schönling gestarrt hatte, bis er mich aus heiterem Himmel angriff. Wie konnte das geschehen sein? Hatte ich tatsächlich seinen Angriff in letzter Sekunde gespürt und war ihm rein instinktiv ausgewichen?
Der Russe stöhnte überrascht auf, als er zum Stehen kam und sich zu mir umdrehte. Sein Blick war verwirrt und misstrauisch. »Das ist durchaus interessant. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet«, murmelte er. »Wie konntest du so schnell deine Position wechseln?« Doch ich antwortete ihm nicht. Mein Atem ging schnell und unregelmäßig und mein Herz raste in meiner Brust. Total verängstigt starrte ich ihn an, wusste nicht, was mit mir selbst in den letzten Sekunden passiert war. Meine Augen hatte ich unbewusst weit aufgerissen.
Diesmal schlenderte der Russe auf mich zu, seine Schritte langsamer und überlegter. In letzter Sekunde versuchte er, meinen Arm zu greifen, aber erneut griff er ins Leere. Ein Raunen ging durch die Menge der sonst so fleißig trainierenden Männer. Was zur Hölle geschah hier nur gerade? Was war los mit mir, dass ich scheinbar mühelos Angriffen ausweichen konnte, die jeden anderen zu Boden geschickt hätten? Auch der Russe war abermals überrascht und schien langsam an seiner Überlegenheit zu zweifeln. »Möchtest du mir deinen Namen verraten, Kleines? Ich würde ihn gerne nutzen, wenn ich dir mitteile, dass du verloren hast.« Er begann damit, mir noch mehr Angst zu machen, als ich ohnehin schon hatte. Sollte er tatsächlich versuchen, einen Treffer zu landen und mich nicht nur am Arm zu packen, dann bräche er mir mit Sicherheit den ein oder anderen Knochen. Nervös schweifte mein Blick über die kleine Menge an Zuschauern. Doch ein Blick in ihre Augen verriet mir, dass sie genauso unruhig waren wie ich.
Mein Blick ging wieder zu dem Russen zurück, welcher noch immer langsamen Schrittes auf mich zukam. Es war fast wieder wie am Anfang, als er aus der Dunkelheit trat. Er wurde ungeduldig, das sah ich an seinem finsteren Blick. Er war der Wolf und ich war immer noch das scheue Reh, das bisher scheinbar einfach nur Glück gehabt hatte. Doch er atmete tief durch, sichtlich bemüht, seine Fassung zu wahren.
Plötzlich und nur noch einen Meter von mir entfernt, blieb der anmutende Russe stehen und begann abermals mit mir zu sprechen. Seine tiefe Stimme drang an mein Ohr, »Niemand kann mir sonst ausweichen und ich kann nicht begreifen, wie ein kleines und harmloses Mädchen, wie du, das anstellt. Daher hier mein neuer Vorschlag. Wir drehen das Spiel einfach mal um. Anstatt auszuweichen, sollst du versuchen, an mich heranzukommen, während ich versuchen würde, auszuweichen. Wenn du es schaffst, mich zu berühren, hast du gewonnen. Was meinst du?«
In diesem Moment wollte ich lieber nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn ich verlieren würde.
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