Kapitel 4
Es waren einige Tage vergangen, seit Xavier mich in sein Reich aufgenommen hatte. Während ich mich langsam an meine neue Umgebung gewöhnte, plagten mich unzählige Fragen, die ich mir immer wieder stellte. Wer war Xavier Huntley und was trieb ihn dazu, mich hierher zubringen? Die Erinnerungen an jene Nacht, in der das Feuer wütete, hatten sich wieder in meinem Kopf breitgemacht. Wieso hatte er mich gerettet, wo andere Männer ihr Leben lassen mussten? Was war mit meinem Onkel Vincent geschehen? Hatte er überlebt oder war auch er den Flammen zum Opfer gefallen? Um meine Gedanken zu sortieren, hatte ich mich seit meiner Ankunft hier in meinem Zimmer verschanzt und traute mich nur heraus, wenn ich mir sicher war, dass jeder nach Hause gegangen war. Ich hatte Angst, dass mich einer der Männer hier erkennen und meinem Onkel sagen würde, wo ich mich derzeit befand. Ich war mir immer noch nicht sicher, welche Verbindung zwischen Xavier und meinem Onkel Vincent bestand. Wer weiß, vielleicht kannte man meinen Onkel und mich hier auch nicht und all meine Sorgen waren umsonst.
Gelegentlich, wenn niemand in der Nähe war, wagte ich mich aus meinem Zimmer heraus und begab mich ins gemeinschaftliche Badezimmer, welches sich direkt neben meinem Raum befand. Obwohl ich normalerweise kein Fan von Gemeinschaftsbädern war, hatte ich kein mulmiges Gefühl. Es gab keine Wachen, keine Kontrollen und keinen aufdringlichen Glamour. Alles war einfach und funktional gehalten. Da störten mich die anderen Männer keinesfalls, denn sie beachteten mich entweder gar nicht oder hielten ihre Augen immer nur kurz auf mich.
Xavier hatte sich seit einigen Tagen nicht mehr bei mir blicken lassen. Durch meine selbstauferlegte Isolation wusste ich nicht, was in der Lagerhalle täglich vor sich ging. Wollte er mich in Sicherheit wissen oder hatte er schlichtweg andere Aufgaben zu erfüllen? Ich konnte nur spekulieren und mich weiterhin in Geduld üben. Doch ich spürte, dass etwas in der Luft lag. Etwas, das die Ruhe und den Frieden in der Lagerhalle störte. Es war eine unbestimmte Spannung, die sich wie ein Schleier über alles legte. Etwas würde passieren, das war mir klar. Ich wusste nur nicht, was und wann. Ich beschloss, wachsam zu bleiben und auf alles vorbereitet zu sein. Xavier hatte mich gerettet, aber das hieß nicht, dass ich ihm blind vertrauen konnte.
Ich fragte mich oft, welchen Rang Xavier hatte, also wovon genau er der Boss war. Mir war klar, dass es die Mafia gab, denn mein Onkel Vincent wollte ja unbedingt ein Mafiaboss werden. Bisher hatte er es nur bis zum Geldeintreiber geschafft und konnte die Karriereleiter noch nicht weiter erklimmen. Vielleicht war Xavier auch ein Geldeintreiber oder ein kleiner Unterboss? Die Lagerhalle ließ darauf schließen. Ich wusste nicht, was einen Mafiaboss ausmachte, aber Xavier sah auf jeden Fall streng genug aus, um eine hohe Position innezuhaben. Manchmal hörte ich auch Stimmen vor meiner Zimmertür. Männer, die sich unterhielten und über mich sprachen. »Die Frau, die nicht erlaubt ist, aber vom Boss geduldet wird«, hatte einer von ihnen gesagt. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass ich hier nicht wirklich willkommen war. Aber ich wusste, dass es nicht ihre Schuld war. Ich hatte mich verschlossen und undankbar gezeigt, obwohl ich nur traurig und verängstigt war. Ich fragte mich, ob ich jemals einen Ort finden würde, an dem ich wirklich hingehörte.
Das quietschende Geräusch des Lagerhallentores durchbrach die Stille des heutigen Vormittages und riss mich aus meinen Gedanken. Eine unerwartete Unruhe hatte den Ort erfasst und ich konnte laute, aufgeregte Stimmen hören, die sich im Inneren der Halle vermischten. Neugierig wie ich war, wollte ich unbedingt wissen, was los war. Ich sprang von meinem Bett auf und hechtete zur Zimmertür, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Als ich die Tür vorsichtig öffnete, bot sich mir ein verstörendes Bild. Unten konnte ich eine Gruppe von Männern sehen, die hektisch durcheinander liefen und aufgeregt miteinander sprachen. Einer von ihnen brüllte, »Holt den Arzt und alarmiert den Boss! Er ist verletzt!« Ich konnte förmlich die Panik in seiner Stimme spüren und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich beschloss, einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen und setzte einen Fuß auf das Metallpodest, welches die Lagerhalle von drei Seiten umgab. Meine Hand klammerte sich fest an das Geländer, als ich den verletzten Mann sah, der auf dem Boden zusammengebrochen war. Sein Körper zitterte vor Schmerzen und er blutete aus einer Schusswunde im Bauch. Die Männer um ihn herum versuchten verzweifelt, ihm zu helfen, indem sie ihn auf den Rücken legten und seine Wunde mit Tüchern abdeckten, um die Blutung zu stoppen. In diesem Moment wurde das Lagerhallentor erneut aufgerissen und Xavier stürmte wutentbrannt herein. Sein Gesicht war von Ärger und Besorgnis gezeichnet. Er schrie, »Was zum Teufel geht hier vor sich?« und stellte sogleich die nächste Frage, »Weiß man schon, wer auf Jack geschossen hat?«
Doch keiner seiner Männer konnte ihm eine Antwort geben und Xavier wurde immer ungeduldiger. Gerade als er die nächste Frage stellen wollte, hörte man Jack heftig husten. Ein anderer Mann in der Gruppe rief besorgt, »Boss, er verliert immer mehr Blut! Wo bleibt der Doc?« Doch Xaviers Antwort war ernüchternd, »Der wird nicht kommen können, Karimi ist heute nicht in der Stadt. Wir werden selbst mit dem Problem klarkommen müssen.« In diesem Moment war die Lage auf einmal unübersichtlich und die Unruhe in der Lagerhalle erreichte ihren Höhepunkt. Wer hatte auf Jack geschossen und warum? Diese Frage geisterte nun auch mir im Kopf herum. Waren all diese Männer doch gefährlicher, als ich dachte? Was würde mit ihm geschehen, wenn der Doktor nicht kommen konnte? Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sich hier gerade etwas Großes und Gefährliches abspielte.
Doch dort unten lag ein Schwerverletzter und niemand konnte ihm helfen? Niemand außer mir höchstwahrscheinlich. Doch hatte ich wirklich vor, zu helfen und somit Aufmerksamkeit zu erregen? Das sollte mir in diesem Moment eigentlich egal sein, denn der Mann brauchte dringend Hilfe und ich konnte nicht zulassen, dass er unversorgt blieb. Der Anblick des Schwerverletzten ließ mein Herz rasen. Adrenalin schoss durch meine Adern, als mir klar wurde, was ich gerade vorhatte. Es war eine riskante Entscheidung, denn ich wusste, dass ich damit das Interesse an mir wecken würde. Als ich die Stufen hinuntereilte, spürte ich die Augen der Männer auf mir ruhen. Die Metallstufen gaben laut unter meinen Füßen nach, als ich meinem inneren Drang folgte, einem Fremden zu helfen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Teil von mir wollte zurückweichen und sich von dem Chaos fernhalten, aber mein instinktiver Überlebensmechanismus setzte ein und trieb mich weiter vorwärts. Ich konnte ihre abschätzigen Blicke förmlich spüren, aber ich ließ mich nicht beirren. Ich hatte gelernt, dass es in dieser Welt nicht auf äußere Erscheinungen ankam, sondern auf das, was man konnte; und ich konnte helfen.
Als ich endlich bei dem Verletzten ankam, wurde ich von einem Mann zurückgewiesen, »Das hier ist nichts für kleine Mädchen. Geh lieber wieder auf dein Zimmer.« Ich drängte mich zwischen den Männern hindurch, merkte, dass sie mich nicht in der Nähe des Verletzten wissen wollten und beugte mich zu dem zitternden Jack herunter. Genervt schlug ich die Hände des Mannes weg, der versuchte, die Blutung zu stoppen, er machte alles falsch. Sein Protestieren blendete ich aus. Obwohl ich wusste, dass alle Augen auf mich gerichtet waren, ignorierte ich die Kommentare und Bemerkungen um mich herum und konzentrierte mich nur auf das, was ich tat. Ich hatte gelernt, wie man Wunden versorgt, als ich noch ein Kind war und bei meinem Onkel aufwuchs. Er hatte beibringen lassen, wie man sich selbst verteidigt und wie man in kritischen Situationen überlebte. Doch warum ich all dies lernen musste, verriet er mir nie. Vorsichtig zog ich das Tuch von dem Bauch des Verletzten Jack. Meine Augen weiteten sich leicht, als ich feststellte, dass Jacks Oberteil bereits Blut-durchtränkt war.
Ich musste schnell handeln, um dem Schwerverletzten zu helfen. Meine Gedanken rasten, als ich mich daran erinnerte, wo ich den Erste-Hilfe-Kasten gesehen hatte. Auf meiner nächtlichen Erkundungstour vor einigen Tagen hatte ich ihn zufällig entdeckt. Zielstrebig lief ich zur rechten Ecke der Lagerhalle, wo einige Tische und Stühle standen. Unter großem Zeitdruck suchte ich nach dem Kasten. Meine Augen suchten jeden Winkel ab, bis ich ihn schließlich fast direkt neben der Treppe an der Wand hängen sah. Ohne zu zögern, riss ich ihn mit einem kräftigen Ruck von der Wand.
Ich eilte zurück zu Jack und lauschte dabei dem knirschenden Geräusch des sich schließenden Lagerhallentores, das von Xaviers lauten Anweisungen übertönt wurde, doch ich blendete es aus. Sofort begann ich damit, die Wunde zu versorgen, ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verlieren. Ich desinfizierte die tief klaffende Schusswunde mit Alkohol und legte sterile Tücher darauf, um die Blutung zu stoppen. Die Schmerzensschreie von Jack durchdrangen die Halle, aber ich ließ mich davon nicht einschüchtern. Mein Onkel Vincent hatte immer betont, dass ich für etwas Besseres geboren wurde, dass ich besondere Fähigkeiten besitze, die mir in der normalen Welt nicht viel nützen würden. Jetzt schien ich allen, vorrangig mir selbst, zu beweisen, dass er recht hatte. Ich fühlte Xaviers Augen auf mir ruhen, als er sich zu mir herunterbeugte und meine Arbeit beobachtete. Seine Augen waren zusammengekniffen und sein Blick undeutbar. »Du bist keine gewöhnliche Frau«, sagte er schließlich. »Wo hast du gelernt, wie man solche Wunden erstversorgt?« Ich hatte keine Zeit für eine Antwort, ich wollte ihm auch keine geben. Ich wusste, dass ich irgendwann mit der Sprache herausrücken musste, aber jetzt war nicht der richtige Moment. Ein Fehler von mir und der verletzte Mann vor mir konnte sterben. Gekonnt ignorierte ich seine Frage und überprüfte stattdessen Jacks Puls und Atmung. Ich war erleichtert zu sehen, dass beides sich stabilisierte. Xavier nickte anerkennend und sprach, »Ich sehe, dass du weißt, was du tust. Danke für deine Hilfe, Kleine.« Seine Worte klangen fast ehrfürchtig, als hätte ich ihn auf eine Weise beeindruckt, die er nicht erwartet hatte.
Er widmete sich wieder seinen Männern und wies zwei von ihnen an, bei Jack und mir zu bleiben. Alle anderen Anwesenden sollten eine Großversammlung einberufen. Wie viele Mitarbeiter hatte Xavier denn, wenn diese hier die Versammlung erst einberufen sollten? Eine Frage, die mich während der Wundversorgung beinahe aus dem Konzept brachte. Das bemerkte ich, als der Verletzte stark zischte. Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und konzentrierte mich wieder auf seine Verletzungen. Nach meiner Erstversorgung musste die Kugel unbedingt chirurgisch entfernt werden, doch so etwas konnte ich nicht, weshalb ich hoffte, dass der Verletzte bald in ein Krankenhaus kam. Er schien zu spüren, dass ich mich nicht wohlfühlte, weil mich immer noch die zwei Männer intensiv beobachteten, welche Xavier uns zugeteilt hatte. »Keine Sorge«, flüsterte Jack mit heiserer Stimme. »Ich habe schon schlimmeres durchgemacht.« Seine Worte beruhigten mich ein wenig und ein Anflug eines Lächelns war für den Bruchteil einer Sekunde auf meinem Gesicht erkennbar. Ich nahm mir die Verbandsrollen aus dem Erste-Hilfe-Kasten, riss die sterilen Papierverpackungen auf und löste die Klammern um die Verbände herum. Mit meinen zarten Fingern wickelte ich vorsichtig die drei einzelnen Verbände um seinen Bauch, in der Hoffnung, dass sie hielten, bis Jack operiert werden konnte. Da sprach er erneut zu mir, »Kennst du eigentlich die beiden Herren hier, die auf uns aufpassen oder besser gesagt, die dich nicht aus den Augen lassen?« Ich reagierte nicht auf seine Frage. »Das sind Collin und Spencer. Die beiden haben richtig was drauf. Vielleicht bringen sie dir tapferen kleinen Mädchen ja mal was bei.« Ich warf nur einen schnellen Blick auf unsere beiden Aufpasser und schaute dann wieder auf meine Hände, mit welchen ich gerade die Klammern der Verbände schloss. Zum Glück war ich nicht darauf angewiesen gewesen, Collin und Spencer um Hilfe zu bitten, denn Jack hatte es selbst geschafft, seinen Rücken leicht anzuheben, damit ich den Verband um diesen herum wickeln konnte. Auch wenn mir dabei sein schmerzverzerrtes und erschöpftes Gesicht nicht entgangen war, war ich Jack sehr dankbar.
Ich stand auf und blickte auf das Werk, das ich gerade vollbracht hatte. Es war nicht perfekt, aber das war auch nicht mein Ziel gewesen. Ich hatte den Verletzten vorübergehend verarztet und das war alles, was jetzt zählte. Mein Onkel würde zwar nicht stolz auf das Ergebnis sein, aber das war mir in diesem Moment gleichgültig. Unsere beiden Aufpasser hatten anscheinend bemerkt, dass ich fertig geworden war, denn sie griffen vorsichtig nach Jacks Schultern und Beinen und hievten ihn auf die Trage, welche vorhin scheinbar jemand neben uns gestellt hatte. Sie hatten ihn in kürzester Zeit durch die Tür links neben der Treppe getragen und befanden sich nun im hinteren Teil der Lagerhalle – dem Bereich, den ich bisher noch nicht erkundet hatte. Als ich mich umdrehte, merkte ich, dass ich inzwischen ganz allein war. Ich entschied mich, die Gelegenheit zu nutzen, dass ich mein Zimmer verlassen hatte und zog das Lagerhallentor mit aller Kraft ein Stück nach oben, sodass ich darunter durchschlüpfen konnte. Als ich ins Freie trat, blendete mich die grelle Sonne. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, meine Umgebung wahrzunehmen. Es war das erste Mal, dass ich bei vollem Bewusstsein draußen war. Ich erinnerte mich an die Verbrennungen durch das Feuer an meinen Armen, schob vorsichtig die Ärmel des Pullovers nach oben, doch es war nichts mehr von den Verletzungen zu sehen. Genauso war es auch immer, wenn ich mich beim Training früher verletzte. Alles heilte in Windeseile. Eines muss man sagen. Ich war ein wirklich seltsamer Mensch, wenn man mal genauer darüber nachdachte.
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