Kapitel 3


Zarte Klänge und beruhigend wirkender Gesang drangen an meine Ohren. Ich fragte mich, was genau es war, denn es wurde auf einer Sprache gesungen, die ich noch nie gehört hatte und doch wusste ich genau, was sie sangen. Ich verstand jedes Wort, ohne genau hinzuhören. Was war das nur? Träumte ich etwa noch?

Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Ein mir unbekannter kleiner Raum umgab mich. Ein sanfter Schein des Tageslichts fiel durch das Fenster und beleuchtete das Zimmer. Es sah aus wie ein gewöhnliches Schlafzimmer, doch es gab keine persönlichen Gegenstände, keine Familienbilder an den Wänden oder Blumen auf der Fensterbank. Nur ein kleiner Schreibtisch, auf dem eine Tischlampe stand und ein Schrank zierten den Raum. Vorsichtig stand ich von dem Bett auf, drehte mich nach links und schritt zur Zimmertür. Meine Hand zitterte, als ich den Griff umfasste und die angelehnte Metalltür ein weiteres Stück öffnete. Vorsichtig spähte ich durch den Türspalt, doch da kam mir die gesamte Tür schon entgegen. Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen und schreckte zurück, als die Tür ganz aufging und ein Mann in einem weißen Kittel hereinkam. Er erstarrte, als er mich im Raum stehen sah und sein Gesicht wurde augenblicklich kreidebleich. »Was machst du hier? Du solltest im Bett liegen!«, sagte er in panischem Tonfall und fuhr fort, »Komm, leg dich hin. Ich werde dich jetzt erst einmal untersuchen. Du wurdest schwer verletzt, als der Boss dich in meine ärztliche Obhut gegeben hat. Erstaunlicherweise sind alle deine Wunden in so kurzer Zeit aber schon fast verheilt.« Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich erinnerte mich vage daran, von einem Mann getragen worden zu sein, wie ich mich an seine Brust drückte und Schutz suchte, aber warum ich in diese Situation geraten war, wusste ich nicht mehr. An mein früheres Leben im Allgemeinen konnte ich mich jedoch einwandfrei erinnern. Auf den Befehl des Arztes hin ließ ich mich zurück auf das Bett fallen und legte mich auf den Rücken.

Während ich meinen Blick starr zur Zimmerdecke richtete, drang die Stimme des Mannes im weißen Kittel nur gedämpft zu mir durch. Doch dann bemerkte ich, wie er begann, vorsichtig eine weiße Schicht von meinem linken Arm abzuwickeln. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass meine Unterarme von Mullbinden umwickelt waren. Fest und stabilisierend, aber auch angenehm locker zierten die Verbände meinen rechten sowie meinen linken Arm. Der Arzt hatte seine Untersuchungen in dem Moment abgeschlossen, als die Zimmertür erneut aufging und eine junge Frau auf leisen Sohlen zu uns hineinhuschte. Ich setzte mich in meinem Bett auf und konnte meine Augen nicht von ihr lassen. Ihre Schönheit ging weit über die aller Frauen hinaus, welche ich bisher kennengelernt hatte. Zugegeben, derzeit gab es nicht viele Frauen in meinem Umfeld, also konnte ich schwer eine zuverlässige Aussage über ihre Anmut treffen und noch schwieriger einen Vergleich aufstellen, doch für mich ganz persönlich gab es keine schönere Frau als sie. Die junge Frau musste ungefähr in meinem Alter sein, ihre Körperhaltung wirkte jedoch äußerst reserviert.

»Ich habe hier einige Kleidungsstücke für die junge Dame«, sagte sie mit leiser und zugleich zarter Stimme. Ich beobachtete jede Ihrer Bewegungen, bis sie die Kleidung auf dem Schreibtisch ablegte, der hier im Raum stand. Noch immer nichtssagend folgten meine ausdruckslosen Augen ihr, bis sie den Raum wieder verlassen hatte. Lautes Gebrüll war vor der Tür zu hören, »Was machst du hier? Verschwinde, du hast hier nichts zu suchen!« Die Tür zu meinem Zimmer wurde erneut aufgestoßen. Instinktiv vergaß ich, zu atmen, da ich wusste, dass dies nicht die Stimme meines Onkels Vincent war. Zugleich hatte ich noch nie eine Stimme mit so viel Hass gehört. Der Raum schien plötzlich kleiner zu werden, je mehr der Mann mit der hasserfüllten Stimme eintrat. Auch der Arzt stand noch immer neben meinem Bett, doch ihm schien all das nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil, er fing an, mir gut zuzureden, »Habe keine Angst, er wird dir nichts tun. Er war es, der dich zu mir gebracht hat.«

Mein Blick haftete an dem Mann, der nun unmittelbar vor mir stand und ich versuchte, meine Nervosität zu verbergen. Seine Erscheinung war äußerst beeindruckend. Seine Schultern waren breit und seine Statur imposant. Blonde wuschelige Haare, strenge Augen, schmale Lippen und ein flüchtiger Drei-Tage-Bart. Ich konnte nicht anders, als mich klein und schwach zu fühlen im Vergleich zu ihm, zumal ich noch auf dem Bett saß und er mich um einige Köpfe überragte. Dieser Fremde betrachtete mich ununterbrochen. Es schien fast so, als konnte er aus meinen Augen lesen, während ich versuchte, vor Nervosität nicht in der Matratze zu versinken. Seine Augen waren kalt und durchdringend, als ob sie jeden Gedanken in meinem Kopf aufspüren konnten. Ich fühlte mich unbehaglich unter seinem Blick, aber ich wagte es nicht, meinen Blick von ihm abzuwenden. Das hätte Schwäche gezeigt. Als er endlich sprach, war seine Stimme tief und rau und ich hatte das Gefühl, dass sie eine gewisse Autorität in sich trug, »Sie können gehen, Doktor Karimi. Vielen Dank.« Als der Arzt den Raum verließ, wurde es still und unheimlich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht, ob ich überhaupt etwas sagen wollte. Er war nicht mein Onkel und sollte er tatsächlich ein Boss sein, wird er auch nicht für Vincent arbeiten. Was, wenn ich mir meine Zukunft hier ruinierte, nur weil ich erzählte, wer ich war? Denn mein Zuhause hatte sich nicht umsonst in ein Flammenmeer verwandelt. Meine Neugier und Furcht kämpften miteinander. In diesem Moment beschloss ich dann jedoch, einfach nichts zu sagen. Nie wieder. Ich würde nicht preisgeben, wer ich war, welche Familienmitglieder ich hatte und wozu ich fähig war. Ich würde mir ein komplett neues Leben aufbauen und niemand wird es mir verderben können. »Wie heißt du, meine Kleine?«, fragte der Mann mich, doch ich antwortete ihm nicht. Stattdessen drehte ich meinen Kopf weg und starrte gedankenverloren und traurig zu dem Fenster auf der anderen Raumseite. Ich werde an meinem Vorhaben festhalten, ich werde ihm keine seiner Fragen zu meinem früheren Leben beantworten. Ich konnte durch die Gardinen sehen, dass die Sonne hinter einer dunklen Wolke verschwunden war und es anfing draußen in Strömen regnen. Leiser Donner ließ mich leicht zusammenzucken. Bei Gewittern war ich schon immer ängstlich und das beginnende Unwetter draußen verstärkte nur meine Verunsicherung. »Dann werde ich wohl mal anfangen. Mein bescheidener Name ist Xavier Huntley. Kannst du dich an mich erinnern? Ich habe dich mit zu mir genommen, nachdem ich dich in den Trümmern sah.« Das Schweigen zwischen uns war eine deutliche Botschaft, dass ich nicht bereit war, ihm zu antworten, als er mich aufs Neue nach meinem Namen fragte. Ich wusste, dass ich ihm nicht trauen konnte, obwohl er freundlich und hilfsbereit wirkte. Ich wusste nicht, was seine Absichten waren und ob er mich jemals gehen lassen würde. Vielleicht war er wie mein Onkel und würde mich für seine Zwecke benutzen.

Xavier sprach weiter, während ich ihm nur mit halbem Ohr zuhörte. Er erzählte mir von dem Ort, an dem wir uns befanden und dass ich hier tun und lassen könne, was ich wollte. Doch ich konnte nicht vergessen, dass ich hier auch mehr oder weniger wieder gefangen war und dass ich immer noch auf der Hut sein musste. Mein Onkel hatte mich zu einem emotionalen Wrack gemacht, wie ich so langsam feststellen musste. Ich traute niemandem, nicht mal meinem Retter. Dabei hätte ich ihn doch einfach fragen können, ob er mich in der nächsten Stadt aussetzen würde. Meine Vergangenheit war eine Bürde, die ich nicht leichtfertig aufgeben konnte, aber ich war entschlossen, ein neues Leben zu beginnen und meine Zukunft in die Hand zu nehmen. Seine Gesichtszüge wurden weicher, er schaute mich beinahe mitleidig an, »Lege dich wieder hin und schlaf etwas. Du benötigst scheinbar noch Ruhe.« Daraufhin verließ er mit festem Schritt den Raum und ich ließ mich ein weiteres Mal auf den Rücken fallen, versank dabei tief in meinem Kopfkissen. Ich hörte seine sich entfernenden Schritte auf dem Flur, bis das Geräusch langsam verklungen war. Die Tür zu meinem Raum hatte er bloß angelehnt. Ich war allein in diesem Zimmer, allein mit meinen Gedanken und Erinnerungen. Meine Blicke schweiften umher und ich nahm alles in mir auf, was in diesem Zimmer zu sehen war. Eines Tages musste ich Antworten finden, aber im Moment war ich einfach nur müde und erschöpft von allem. Schließlich schloss ich meine Augen. Ich fragte mich, ob ich jemals in der Lage sein würde, ein normales Leben zu führen. Ich wusste es nicht, aber ich hatte immerhin einen Funken Hoffnung in mir. 


Als ich meine Augen wieder öffnete, war es dunkel im Raum. Die einzige Lichtquelle war das schwache Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Ich fühlte mich ein wenig besser. Langsam setzte ich mich auf und sah mich um. Der Raum war genauso wie zuvor. Ich schwang mich aus dem Bett und ging zu dem kleinen Fenster. Es wirkte industriell und ließ sich schwer öffnen. Eine Weile hatte ich gebraucht, um es endlich aufzubekommen, denn es klemmte ziemlich stark, so als ob es nie geöffnet werden würde. Die kühle Luft streifte meine Haut und ich atmete tief ein. Nachdenklich betrachtete ich den nächtlichen Himmel und die leuchtenden Sterne. Es war ein seltsames Gefühl, hier zu sein, weit weg von allem, was ich kannte. Auch von hier aus sah ich zwar auf Bäume, doch es war lange kein so dichter Wald wie um das Grundstück von meinem Onkel Vincent herum. Ich beschloss, mich im Zimmer genauer umzusehen. Es war es quadratischer Raum. An der einen Seite befand sie die Zimmertür, links davon ein kleiner Kleiderschrank. Gespannt öffnete ich ihn. Leer. An der Zweiten stand dann mittig von der Wand direkt das Bett. Es war auf jeden Fall größer als mein altes. Ich schätzte es auf eine Breite von eineinhalb Metern. Quer zu dem Bett war an der nächsten Wand das kleine Fenster angebracht, unter welchem direkt der Schreibtisch stand. Also wirklich viel gab es hier nicht. Dadurch, dass ich dem Rat des Arztes und dem von Xavier gefolgt war und mich schlafen gelegt hatte, war ich nun mitten in der Nacht hellwach. Ich fröstelte, als der kalte Wind durch das Fenster hereindrang. Schnell schloss ich das Fenster wieder und entschloss mich, auf eine nächtliche Erkundungstour zu gehen.

Mit Bedacht darauf, keinen Lärm zu verursachen, öffnete ich die Zimmertür. Jemand musste sie, während ich geschlafen hatte, ganz geschlossen haben. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, niemand zu sehen. Neugierig trat ich auf den Flur hinaus, nur um ernüchternd festzustellen, dass ich mich nicht auf einem Flur, sondern auf einem Metallpodest befand. Es zog sich über drei Wände und verband so die oberen Räume miteinander. Mir gegenüber war in die vierte Wand ein großes Tor eingelassen. Eine breite Treppe befand sich fast direkt vor mir und führte nach unten. Bei genauerer Begutachtung meiner Umgebung erkannte ich, dass ich mich in einer großen Lagerhalle befand. Für Details war es jedoch zu dunkel. Vorsichtig setzte ich mich auf dem Podest in Bewegung und spürte die kalten Metallstreben unter meinen nackten Füßen. Ich ging langsam zu der Treppe. Als ich an dieser ankam, gab es jedoch zwei Treppen. Eine links von mir, ich hatte sie zu Anfang gar nicht gesehen, die ein Stockwerk höher führte und eine rechts von mir, welche ins Erdgeschoss herunterführt. Ich ging die breite Treppe hinunter und bemerkte, dass die Halle tatsächlich riesig war. An einer Wand erstreckten sich Regale, die bis zur Decke reichten, vollgepackt mit Kisten und Kartons. Unten angekommen, schlenderte ich ein wenig durch die dunkle Halle. Es war niemand hier, der mich dabei hätte erwischen können und sagte Xavier nicht auch zu mir, dass ich mich frei bewegen durfte? Dann würde ich das jetzt auch in die Tat umsetzen. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse und betrachtete die hintere Wand der Lagerhalle, an welcher sich mittig auch die Treppe nach oben befand. Auf beiden Seiten nahe der Treppe gab es jeweils eine Tür. Ich schritt erst auch die Rechte zu, doch diese war verschlossen. Also machte ich mich auf den Weg zu der anderen. Die zweite Tür war deutlich breiter und konnte geöffnet werden. Unter einem leisen Quietschen drückte ich sie auf und huschte hinein. Doch hier war es so stockfinster, dass ich meine Hand vor Augen nicht mehr sah. Das brachte nichts, ich hatte keine Taschenlampe und hatte auch keine Lust einen Lichtschalter zu suchen. Ich seufzte leise und beschloss, dass es Zeit war, wieder in mein Zimmer zurückzukehren. Vielleicht konnte ich noch ein paar Stunden Schlaf bekommen, bevor man hier wieder seiner Arbeit nachging. Wo ich gerade beim Thema war, was genau wurde hier eigentlich gearbeitet? Vielleicht würde ich es morgen ja herausfinden. Ich ging zurück zu der Treppe und stieg die Stufen hinauf. Als ich wieder oben auf dem Podest angekommen war und sich direkt vor mir die Treppe ins Obergeschoss befand, beschloss ich, mir das nächste Stockwerk ein anderes Mal anzusehen. Kurze Zeit später schloss ich die Tür zu meinem Raum hinter mir. Die Gardine schien zwar mühevoll angebracht worden zu sein, doch Licht hielt sie nicht ab, weshalb der Raum noch immer vom Mondlicht erhellt wurde.

Ich legte mich auf das Bett und versuchte, mich zu entspannen, aber ich konnte nicht aufhören, über die seltsame Umgebung und über den seltsamen Gesang der so vertraut wirkenden und dennoch unbekannten Sprache nachzudenken. Doch eines nach dem anderen. Eine Lagerhalle, aufgeteilt in mehrere Stockwerke und Zimmer, meines eingeschlossen. Doch dieser Raum sah überhaupt nicht aus, als würde er sich in einem Lagerhaus befinden. Es gab richtige Wände und es sah eigentlich recht wohnlich aus. So stellte ich mir eine Lagerhalle von innen nicht vor. Lediglich das kleine Fenster und die Tür aus Metall deuteten auf den industriellen Stil hin. Was nun die wunderschöne Musik betraf, werde ich wohl noch weiter darüber nachdenken müssen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und ich konnte einfach nicht abschalten. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein und aus, aber es half nichts. Ich drehte mich von einer Seite auf die andere und versuchte, mich in eine bequeme Position zu bringen. Doch ich konnte einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Zeit verging und die Dunkelheit wich allmählich dem Licht. Die ersten Sonnenstrahlen begannen, den Boden zu küssen, als ich endlich müde genug war, um einzuschlafen. Ich sank in einen tiefen, erholsamen Schlaf und wachte erst Stunden später wieder auf. Die Sonne stand hoch am Himmel und ich spürte, wie die Wärme durch das Fenster auf mein Gesicht fiel. Ich war erleichtert, dass ich endlich schlafen konnte, aber ich hatte das Gefühl, dass noch eine Menge Überraschungen auf mich warten würden, während ich hier war.

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