Special Nummer Vier


Sammy


In diesem Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Mein Denken ging immer nur in eine Richtung. Niall hatte mir ihr geschlafen – und sie mit ihm.

Der Stich in meinem Herzen tat weh und dennoch war ich froh, dass er ihr Leben gerettet hatte. Nur konnte ich das im Augenblick so schnell nicht verdauen.

Alles um mich herum versank, als ob sich plötzlich ein dichter Nebel um mich legte. Ich hörte nichts mehr, ich sah nichts mehr, sondern riss mich einfach los und lief davon.

Dieses Mal folgte mir niemand.

Als ich nach gefühlten zwei Kilometern keuchend an einer Hausecke stehen blieb, hämmerte es noch immer in meinem Kopf.

Meine Mutter war unglaublich hübsch gewesen, kein Wunder, dass Niall auf sie abgefahren war.

Es tat einfach nur weh, daran zu denken, dass die beiden sich so nahe standen.

Mit Tränen in den Augen stand ich da, blickte den Menschen hinterher, die an mir vorbeirauschten und dachte über den Sinn der ganzen Aktion hier nach.

Da es inzwischen zu regnen begonnen hatte, lief ich Gefahr, klatschnass zu werden, denn ich hatte natürlich keinen Schirm dabei. Wie sollte es auch anders sein?

Anhand des nächsten Straßenschildes wusste ich zumindest, in welcher Gegend ich mich befand.

Planlos lief ich nach rechts und bog dann in eine Seitenstraße ab, um kurz darauf vor einem Pub zu stehen. Sollte ich hineingehen oder nicht?

Schnell kramte ich meine Geldbörse aus der Umhängetasche hervor, um festzustellen, dass sie genau zehn Pfund darin befanden. Zu dumm, dass wir das Geld, welches diese komische Frau an Niall ausgehändigt hatte, noch nicht aufgeteilt hatten.

Jetzt stand ich da und wusste nicht, wie ich meine nächste Mahlzeit finanzieren sollte. Zumindest sollte das Geld für eine Cola im Pub reichen, weswegen ich mich dazu entschloss, dort einzutreten.

Als ich die schwere, dunkle Holztür öffnete, schlug mir ein Schwall warmer Luft entgegen. Dankbar, dass ich nun im Trockenen war, öffnete ich den Reißverschluss meiner Jacke und ging in Richtung Theke.

„Ich hätte gerne eine Cola", rief ich dem Barkeeper zu, der gerade ein helles Bier zapfte.

Er nickte sogleich und machte sich daran, die Cola einzuschenken.

„Das macht eins fünfzig, Miss."

Ein Pfund fünfzig für eine Cola. Ich konnte nicht fassen, wie billig es sich im Jahr 1983 lebte.

Nachdem ich bezahlt hatte, nahm ich das Glas von der Theke und ließ meine Augen durch den Raum wandern. Ich wollte nicht unbedingt am Tresen sitzen, wo jeder mich angaffen konnte.

In der hinteren, rechten Ecke erspähte ich einen Billardtisch, an dem zwei Jungs spielten. Direkt in der Nische daneben stand ein kleiner, runder Tisch mit zwei Stühlen. Dort wollte ich mich niederlassen und nachdenken.

Es war bitter nötig, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen.

Als ich mich dem Tisch näherte, schauten die beiden Jungs kurz auf, widmeten sich dann jedoch sofort wieder ihrem Spiel.

Ich beachtete sie nicht näher, sondern versank in meiner eigenen Welt. An der Cola nippend, versuchte ich die Dinge in meinem Innersten zu entwirren.

Ich liebte Niall – das war Fakt. Ich tat es nach wie vor, selbst nach dem, was ich heute erfahren hatte. Aber genau deshalb tat es auch so weh. Schließlich war ich daran interessiert, eine längerfristige Beziehung mit ihm einzugehen. Selbst der ganze Rummel, den ich wegen seinem Status ertragen musste, schreckte mich nicht davon ab. Er war genauso, wie ich mir meinen Freund vorstellte. Liebevoll, zuvorkommend, aber auch lustig und quirlig.

Doch nun musste ich mit dem Gedanken leben, dass er eine Zeitreise hinter sich gebracht hatte, die für einige Turbulenzen sorgte.

Wer konnte schon von sich behaupten, die Mutter seiner Freundin kennengelernt zu haben, als sie zwanzig Jahre alt war, also quasi in der Blüte ihres Lebens steckte?

Unvermittelt schreckte ich auf, als plötzlich einer beiden Typen vor mir stand.

„Möchtest du noch etwas trinken? Ich bin auf dem Weg zur Theke und würde dir etwas mitbringen, wenn du willst."

Erschrocken schaute ich auf. Ich hatte nicht erwartet, angesprochen zu werden. Neugierig musterte ich den Typen. Er trug enge, schwarze Jeans, ein Shirt mit dem Schriftzug der Ramones und schwarze Stiefeletten. Um sein rechtes Handgelenk drapierte sich ein breites schwarzes Lederarmband, welches mit Nieten besetzt war.

Er besaß keine Tattoos, zumindest nicht im sichtbaren Bereich seiner Haut und hatte ein sehr gewinnendes Lächeln. Seine braunen Haare standen ein wenig unordentlich von seinem Kopf ab und seine hellbraunen Augen zwinkerten mir freundlich zu.

Falls das ein Versuch war, mich anzumachen, so war es doch einer der netten Art.

„Nein, danke, mein Glas ist noch halb voll", erwiderte ich lächelnd. „Aber nett, dass du gefragt hast."

Erneut zwinkerte er mir zu. „Kein Problem, aber wenn du später vielleicht etwas möchtest, dann sag Bescheid. Mein Kumpel und ich haben heute etwas zu feiern."

Kurz lachte ich auf. „Wirklich? Und was?"

„Wir haben es endlich geschafft, unsere Diplomarbeit für das Studium abzugeben."

„Na, wenn das kein Grund zum Feiern ist", stimmte ich ihm lachend zu.

Inzwischen war auch sein Kumpel an mich herangetreten, dessen blondes Haar ihm in die Stirn fiel. Darunter lugte ein grünes, vorwitziges Augenpaar hervor.

„Hat mein Kumpel sich schon vorgestellt?", erkundigte sich der Blonde.

„Nein, aber das wollte ich gerade tun", erwiderte der Braunhaarige, doch der Blonde kam ihm nun zuvor und reichte mir grinsend seine Hand.

„Ich bin Phil."

Für eine Sekunde erstarrte ich vor Schreck, denn er kam mir unheimlich bekannt vor. Er hatte die Gesichtszüge meines Vaters. Ich kannte die alten Bilder von ihm, auch die aus der Zeit, bevor er meine Mutter kennengelernt hatte. Oh Shit! Das durfte jetzt echt nicht wahr sein!

Mir schwante Schlimmes und es bestätigte sich prompt, als sich der Braunhaarige vorstellte.

„Ich bin Rufus."

Der beste Freund meines Dads und mein Patenonkel, oder sollte ich besser sagen: Mein zukünftiger Patenonkel? Auch Rufus sah sich ähnlich, erst kürzlich hatte ich in den alten Bildern gestöbert, somit war mir seine jünger Ausgabe deutlich in Erinnerung geblieben.

Fast blieb mir der Mund offenstehen, als ich die beiden anstarrte. Bevor es letztendlich peinlich wurde, gab ich ihnen die Hand.

„Freut mich, ich bin Sammy."

„Abkürzung für Samantha?", fragte Phil sofort.

„Ja, so ist es."

Nervös zupfte ich an meiner Jacke herum. Was sollte ich nun tun?

„Wohnst du hier in der Nähe?", erkundigte sich Rufus plötzlich.

„Ähm, mein. Ich komme aus Liverpool."

Am besten, ich erzählte nichts, was man später mit der Zukunft in Verbindung bringen konnte.

„Oh, Liverpool, da waren wir auch schon", sprach Phil, bevor er zu seinem leeren Glas griff, um dieses dann Rufus in die Hand zu drücken.

„Wolltest du nicht etwas zu trinken holen?"

„Stimmt, ich bin gleich wieder da."

Nun stand ich mit der jüngeren Ausgabe meines Vaters alleine da. Ich musste zugeben, er sah echt nicht schlecht aus und wirkte sehr nett und lustig.

„Was machst du denn hier in London, wenn du ansonsten in Liverpool lebst?", wollte er wissen.

Dann kramte er eine Packung Zigaretten hervor.

„Willst du auch eine?"

„Nein, danke, ich rauche nicht."

Erst jetzt fiel mir auf, dass noch andere Leute im Pub diesem Laster frönten. Herrschte hier denn kein Rauchverbot? Das war ja schrecklich ignorant den Nichtrauchern gegenüber!

Allerdings konzentrierte ich mich nun darauf, Phil, oder besser gesagt, meinem Vater, eine Antwort zu erteilen.

„Ich besuche meinen Onkel. Er wohnt in Knights Bridge."

„Oh, in der Gegend der Reichen."

Die Stimme hinter mir gehört Rufus, der mit zwei Bieren und einer Cola in der Hand, aufgetaucht war.

„Hier, für dich, Sammy. Auch wenn du nichts wolltest, du sollst nicht verdursten. Und um mich in euer Gespräch einzumischen, irgendwann werde ich ein Haus in Knights Bridge besitzen. Das ist mein Traum."

„Dann träum weiter", erwiderte Phil mit einem frechen Grinsen.

Dieses wäre ihm sicher vergangen, wenn ich ihm erzählt hätte, dass Rufus später ein tolles Haus in Knights Bridge sein Eigen nennen konnte und außerdem der Besitzer mehrere Bars, unter anderem einer Table Dance Bar, sein würde. Da ich jedoch nicht annahm, dass die beiden mir glauben würden, verhielt ich mich lieber still.

„Also Sammy, hast du heute noch etwas Schönes vor?", wollte Phil wissen.

„Ähm, eigentlich nicht."

„Super, da könntest du ja mit mir ins Kino gehen, oder? Rufus hat nämlich später keine Zeit, seine Patentante feiert heute Geburtstag."

Moment mal, wollte mein Vater mich gerade anbaggern, indem er mich ins Kino einlud? Das durfte jetzt echt nicht wahr sein!

Für einen Moment unterlag ich der Versuchung ja zu sagen, nur um zu sehen, wie weit er gehen würde, doch dann verwarf ich den Gedanken daran. Ich war mit Niall zusammen und Phil war mein Vater, der gerade seine eigene Tochter angrub.

Wie verkehrt war diese Welt?

Hektisch schaute ich auf meine Armbanduhr.

„Ich glaube, ich muss gehen, Jungs. Meine Cousine wartet auf mich."

Eine Notlüge war in dieser Situation wohl erlaubt, wenn nicht sogar angebracht.

Ich stürzte aus dem Pub, als seinen tausend Teufel hinter mir her und als ich endlich stehen blieb, erkannte ich, dass ich mich am Leicester Square befand.

Da es inzwischen aufgehört hatte zu regnen, blieb ich einfach stehen und lehnte mich an die nächste Hausmauer, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Woher sollte Phil wissen, dass wir miteinander verwandt waren? Dass ich sein eigenes Fleisch und Blut war? Genauso wenig konnte Niall damals wissen, dass das Mädchen, dessen Leben er gerettet hatte, sich als die Mutter seiner zukünftigen Freundin entpuppte.

Er hatte es nicht absichtlich getan. Er wollte mir nicht wehtun.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und lauschte dem Rauschen des Windes.

Meine Mutter lebte. Sie lebte hier und jetzt, in London im Jahr 1983 und auch im Jahr 2013. Sie war noch am Leben, weil Niall verhinderte, dass sie das Harrods Kaufhaus aufsuchte, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen.

Wenn er das nicht getan hätte, wäre sie bei diesem Bombenattentat ums Leben gekommen. Sie wäre nicht mehr hier und ich zwangsläufig auch nicht. Niall hatte sie gerettet und somit mein Leben erst möglich gemacht.

Heiße Tränen rannen über meine Wangen, als ich den Zusammenhang vollends realisierte.

Alles hatte seine Richtigkeit, ich durfte ihm nicht böse sein oder ihm gar an den Kopf werfen, dass er mich betrogen hatte. Das alles geschah lange vor meiner Geburt und Monate bevor Niall und ich uns kennenlernten (zumindest nach unserer Zeitrechnung).

Was hätte ich darum gegeben, jetzt bei Niall zu sein, ihm zu sagen, was ich im Augenblick fühlte? Ich musste unbedingt nach Knights Bridge zurück. Dort konnte ich auf ihn und Louis warten, denn vielleicht suchten sie noch nach mir.

Mein schlechtes Gewissen plagte mich, als ich in Richtung U-Bahn Station lief. Es dauerte eine Weile, ehe ich herausgefunden hatte, welche Linie derzeit zu meinem Ziel fuhr und als ich schließlich an der Haltestelle ausstieg, schlotterten meine Beine gewaltig.

Hoffentlich war er nicht böse auf mich, weil ich einfach auf und davon gelaufen war.

Je näher ich der Straße kam, in die ich abbiegen musste, desto nervöser wurde ich. An der besagten Ecke blieb ich stehen, holte ich erstmal tief Luft und schaute dann nach vorne.

Mein Herz begann zu rasen und mein Mund wurde trocken, als ich Niall und Louis erblickte, die direkt auf mich zugelaufen kamen.

„Sammy!" Niall löste ich von seinem Freund und eilte mir entgegen.

„Niall!"

So schnell mich meine Füße trugen, rannte ich auf ihn zu. Der Tränenschleier verhinderte zwar die freie Sicht nach vorne, doch das war mir egal. Ich wollte nur zu ihm.

„Sammy! Gott sei Dank! Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert."

Seine Umarmung zu spüren, löste jede Menge Gefühle in mir aus, doch das erste, was ich schluchzend hervorbrachte war: „Meine Mum..., sie ist meine Mum, sie darf nicht sterben..."

Nialls Lippen befanden sich ganz dicht an meinem Ohr, als er flüsterte: „Sie ist nicht gestorben, weil ich sie retten durfte."

Alles in mir drehte sich, doch Niall hielt mich fest in seinen Armen. Ich wollte nicht, dass er mich losließ, ich wollte bei ihm sein und ihm sagen, was ich gerade fühlte.

„Danke".

Meine Stimme zitterte so sehr, dass ich mich selbst kaum verstand. „Danke, dass du sie gerettet hast."

Nialls Hände fuhren zärtlich an meinem Rücken entlang, als er mir ins Ohr flüsterte: „Ich bin froh, dass ich es getan habe, sonst wärst du nämlich nicht auf der Welt."

Als er das aussprach, wurde mir erneut bewusst, wie alle Ereignisse miteinander verknüpft waren, die Gegenwart und die Vergangenheit. Alles ergab einen Sinn und verdeutlichte mir, dass wir uns nie hätten kennenlernen dürfen, wenn er meine Mum nicht gerettet hätte. Irgendwie waren wir wohl füreinander bestimmt und Niall hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er mich wirklich liebte, ungeachtet der Tatsache, was im Jahr 1983 geschehen war.

„Niall?", wisperte ich leise.

„Ja?"

„Ich liebe dich. Egal, was in der Vergangenheit passiert ist."

Unsere Lippen legten sich zärtlich aufeinander und wir versanken in einem endlosen Kuss, der irgendwann durch Louis' Bemerkung unterbrochen wurde.

„Soll ich heute Nacht auf der Couch im Wohnzimmer schlafen?"

Einen größeren Gefallen hätte er uns mit seiner Frage nicht tun können.

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Das ist ja nochmal gut gegangen! Doch bald geht es wieder zurück in die Gegenwart und da wartet Lizzy auf Niall...

Danke für eure tollen Kommentare. Es ist super, diese zu lesen und zu spüren, wie ihr mitfiebert.

LG, Ambi xxx

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