Special Nummer Drei
Lizzy
Nachdem Niall gegangen war, saß ich alleine im Wohnzimmer, bei einem Glas Wein und einer Tüte Chips.
Manchmal mochte ich ungesundes Essen, das hatte sich selbst während der letzten dreißig Jahre nicht verändert. Was sich jedoch gewaltig verändert hatte, war mein Spiegelbild. Ich war zwar nicht fett geworden, wie viele andere Frauen meiner Altersklasse, doch die Falten, auf die ich jeden Morgen blickte, wenn ich mein Gesicht schminkte, bewiesen, dass sie Zeit nicht stehengeblieben war.
Da half auch meine gute Figur nicht. Ich war älter geworden.
Trotzdem fühlte ich mich nicht wie fünfzig, vor allem im Moment nicht.
Seit dem Tag, als Niall plötzlich wieder in meinem Leben auftauchte, stand meine Welt Kopf.
Zuerst wollte ich es nicht glauben, hielt es für eine Verwechslung, doch nach und nach begriff ich, dass es sich bei ihm tatsächlich um den jungen Mann handelte, dem ich vor dreißig Jahren in London begegnet war.
Und obwohl ich anfangs wütend und eingeschnappt reagierte, änderte sich dieses Gefühl.
Er wollte mich damals nicht ausnutzen, vielmehr handelte es sich um eine Fügung des Schicksals.
Dreißig Jahre lag es zurück, als wir gemeinsam auf der Matratze in meinem Zimmer in der WG im Westend lagen, Musik hörten, oder er etwas auf der Gitarre spielte.
In these Arms von Bon Jovi, den Song hatte ich niemals vergessen. Natürlich kam es mir damals komisch vor, als dieser erschien, doch ich war gerade auf dem Weg zum Krankenhaus, um Sammy zur Welt zu bringen. Da hatte ich keine Zeit und vor allem keine Muse, um darüber nachzudenken.
Viele Erinnerungen waren langsam verblasst, doch nie ganz verschwunden. Aufgrund des Bildes, welches Zayn damals von uns gezeichnet hatte, vergaß ich auch nie, wie Niall aussah. Und als er plötzlich in unserer Wohnung stand, kam alles wieder hoch.
Jede noch so kleine Begebenheit, die ich gemeinsam mit ihm erlebt hatte.
Den Schock, dass er mit meiner Tochter zusammen war, hatte ich erst verdauen müssen. Mittlerweile fand ich es sogar ziemlich gut, denn Sammy brauchte so einen Kerl wie Niall.
Seine Art hatte sich nicht verändert, wie auch? Für ihn lagen diese Dinge erst drei Monate zurück. Sämtliche Erinnerungen waren frisch und es grenzte wirklich an ein Wunder, wie toll er das alles wegsteckte.
Ich hätte das vermutlich in seinem Alter gar nicht gekonnt.
Nachdenklich nippte ich an dem Rotwein, einem würzigen Merlot. Ich drehte das Glas und betrachtete die satte Farbe, die fast wie Blut wirkte.
Blut war das Elixier des Lebens und Niall hatte damals mein Leben gerettet, indem er mich davon abhielt, zum Harrods zu fahren, damit ich Weihnachtsgeschenke einkaufen konnte. Manchmal ging das Leben echt seltsame Wege.
Wie sauer war ich auf ihn gewesen, als dieser Brief zurückkam, wie enttäuscht, dass die Telefonnummer, die er mir aufgeschrieben hatte, nicht funktionierte. Nur um dreißig Jahre später festzustellen, dass er in jedem Punkt die Wahrheit erzählt hatte.
Niall besaß einen sehr edlen Charakter, mit meinen fünfzig Jahren konnte ich das weitaus besser beurteilen als damals, mit zwanzig.
Zu dieser Zeit sah ich einen süßen Jungen in ihm, jemanden, der mich gern hatte und der meinen körperlichen Makel, die Narbe am Unterbauch, ohne weiteres akzeptierte.
Ihm war nicht bewusst, was er damals damit bewirkte. Niall machte mich zu dem selbstbewussten Menschen, der ich heute war. Ich lernte es, mit dieser Narbe zu leben und sie als einen Teil meines Ichs anzuerkennen.
Als ich Phil mit fünfundzwanzig kennenlernte und er meine Narbe zum ersten Mal sah, da sagte ich ihm knallhart ins Gesicht: „Das ist nur eine Narbe von einer Blinddarm OP. Wenn es dir nicht passt, dass ich nicht makellos bin, kannst du gleich wieder verschwinden. Ich bin nun mal keines dieser perfekten Models."
Und Phil streichelte damals mit seinen Fingern über die Narbe und antwortete: „Du bist perfekt, so wie du bist, Lizzy. Da wird auch diese Narbe nichts dran ändern."
Im Prinzip hatte Niall mir das Gleiche gesagt, doch da er der erste Mann war, der dies tat, besaß seine Aussage einen ganz anderen Stellenwert. Ebenso der Kuss, den er damals darauf platzierte.
Niall machte mich stark.
Und heute? Heute machte er mich jung.
Ich genoss es, mit ihm zusammen zu sein, zu lachen und über vergangene Zeiten zu reden, die für ihn drei Monate und für mich dreißig Jahre zurücklagen.
Es hatte so viel Spaß gemacht, dem heutigen Videodreh beiwohnen zu dürfen und auch die anderen Jungs zu sehen. Sie schienen sich wirklich zu freuen, dass wir uns wieder begegneten und genauso fühlte ich.
Ich fühlte mich mit ihnen auf eine sonderbare Art und Weise verbunden, aber am meisten tat ich das mit Niall.
Nur alleine die Tatsache, dass immer noch kein ganzer Bic Mäc in meinen Magen passte und er sich das gemerkt hatte, ließ mich heftig schmunzeln.
Es war eine verrückte Zeit damals in den Achtzigern und Niall gehörte dieser für eine Momentaufnahme an. Eine Woche hatten wir zusammen verbracht, waren auf einem Konzert von U2 gewesen, einer Band, die es heute noch gab.
Immer wieder sah ich uns auf der Matratze in meinem kleinen Zimmer liegen und wenn ich meine Augen schloss, so wie jetzt, konnte ich sogar spüren, wie er mich damals geküsst hatte.
Verdammt! Ich musste loslassen! Ich war keine Zwanzig mehr und doch gab er mir oft das Gefühl, dass ich jung war.
Ein Teil von mir fühlte sich in seiner Gegenwart so frei und unbeschwert, der andere Teil jedoch wusste, dass ich Sammys Mutter war und somit auch seine hätte sein können.
Sammy war mein Ein und Alles, ein absolutes Wunschkind, geboren im Juli 1993, drei Monate vor Niall. Dennoch durfte ich ihn mit Zwanzig, in der Blüte meines Lebens, kennenlernen.
Diese verrückte Zeitreise trug die Schuld daran und Niall wollte herausfinden, wie es genau funktionierte. Es interessierte mich brennend, ob auch ich hätte in die Zeit zurückreisen können.
Erneut nahm ich einen Schluck Wein. Das Glas war fast leer und so schenkte ich nach, bevor ich mich erhob, um eines der älteren Fotoalben herauszuholen.
Phil und Rufus lachten mir entgegen. Ich hatte die beiden damals zusammen kennengelernt. In einem Pub, in London, welches ziemlich verrucht war.
Sie spielten Billard und tranken Bier, während ich mit Crissy an der Theke hockte. Ich konnte mich noch genau an den Moment erinnern, als Rufus Nachschub holte und fragte, ob wir nicht mitspielen wollten. Das war der Beginn unserer Freundschaft.
Rufus war Phils bester Freund und er wurde auch mein bester, da Paul nach Amerika auswanderte.
In Phil hingegen verliebte ich mich. Nicht sofort beim ersten Treffen, doch je öfter wir uns sahen, desto mehr fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Er war witzig und charmant, brachte mich zum Lachen, ähnlich wie Niall es früher getan hatte.
Als ich erneut nach dem Weinglas griff, das aus der Sammlung meiner schon lange verstorbenen Großmutter stammte, erinnerte ich mich plötzlich an einen Rat, den sie mir gegeben hatte, und den ich beherzigte.
„Einen Mann mit Geld findest du schnell, aber einen, der dich regelmäßig zum Lachen bringt, nach dem musst du suchen."
Ich suchte nicht, doch ich fand ihn in Phil, den ich schließlich heiratete. Wir bekamen Sammy, die unser Glück perfekt machte.
Dass ihr Ex-Freund ihr so übel mitgespielt hatte, lag mir als Mutter schwer im Magen. Wer sah sein Kind schon gerne leiden?
Und genau deswegen lag es mir sehr am Herzen, dass es zwischen Niall und Sammy gut funktionierte. Er würde sie nicht hintergehen, wie ihr Ex das getan hatte. Sicher konnte man für niemanden die Hand ins Feuer legen, aber bei Niall hatte ich das Gefühl, dass er es ernst mit Sammy meinte. Er behandelte sie mit großem Respekt.
Lächelnd klappte ich das Fotoalbum wieder zu, um es an seinen Platz zu legen. Anschließend holte ich die Zeichnung hervor, die ich Niall vor einigen Tagen hatte zeigen wollen. Doch wir wurden durch Phil gestört, was fatale Folgen hätte haben können. Niemand durfte von unserer gemeinsamen Vergangenheit wissen.
Das war alleine Nialls und meine Angelegenheit und machte uns irgendwie zu Verbündeten.
Bei unserem nächsten Treffen wollte ich ihm die Zeichnung präsentieren, die so unendlich viel für mich bedeutete. Eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, die ich jedoch für immer in meinem Herzen eingeschlossen hatte. Genauso wie Niall.
Er bedeutete mir etwas und ich wollte ihn nicht verlieren.
Wenn das Schicksal es schon vorgesehen hatte, dass wir nicht zusammenbleiben konnten, weil einer von uns zum falschen Zeitpunkt geboren war, so wollte ich ihn wenigstens als guten Freund behalten.
Und niemand besaß das Recht, einem vorzuschreiben, wie groß der Altersunterschied zwischen guten Freunden sein durfte. Die Chemie musste passen und das tat sie bei Niall und mir auf jeden Fall.
Wir lachten über die gleichen Sachen und vermutlich hätten wir auch über die gleichen weinen können.
Die Dinge waren gut so, wie sie im Moment waren. Ich hatte Niall nicht gesagt, wie sehr ich ihn damals geliebt hatte. Das würde er mit seinen Zwanzig Jahren nicht verkraften.
Junge Männer in seinem Alter waren noch nicht gefestigt. Obwohl sie laut Gesetz in die Volljährigkeit fielen, befand sich ihre Gefühlswelt noch im Schwanken. Diese war nicht voll ausgereift, das sah ich bei meinen Neffen hin und wieder.
Und somit hielt ich es für besser, Niall die volle Wahrheit zu verschweigen. Er musste nicht wissen, dass ich sehr viel für ihn empfunden hatte. Es reichte, dass ich ihm meine Dankbarkeit dargelegt hatte, weil er mein Leben rettete.
Alles andere würde nur zu schlimmen Verwicklungen innerhalb seines Gefühlslebens führen und das wollte ich vermeiden.
Ich war eine erwachsene Frau, die selbst Probleme, bei dem Gedanken daran, dass wir miteinander geschlafen hatten, bekam. Wie sollte Niall dann damit fertig werden, wenn er die Wahrheit erfuhr? Lieber wollte ich ihn in dem Glauben lassen, dass er nur eine Affäre für mich gewesen sei. Auch wenn es sich in jenem Moment bitter angefühlt hatte zu lügen, so konnte ich doch sicher sein, dass es die besser Variante für uns beide war.
Meine Finger fuhren über die Zeichnung von Zayn Malik. Er war so unglaublich talentiert, was das anging. Jegliche Mimik, die er mit seiner Kohlezeichnung eingefangen hatte, entsprach meinem Ich von damals. Wenn ich diese mit alten Fotos verglich, stellte man kaum einen Unterschied fest.
Und Niall? Er sah noch immer so aus, so jung und faltenfrei. Sein verschmitztes Grinsen lachte mir entgegen, seine Hand befand sich an meiner Hüfte und unsere Köpfe waren einander zugewandt
Ein perfektes Liebespaar, das niemals eines hätte sein dürfen. Das niemals eines hätte sein können, wenn diese verrückte Zeitreise nicht gewesen wäre.
Sie brachte alles durcheinander.
Lächelnd verstaute ich die Zeichnung wieder in der Kiste, in welcher ich außerdem den Zettel mit Nialls Daten, sowie den Brief aufbewahrte.
Jenen Brief, den ich vor dreißig Jahren an ihn geschrieben hatte und dessen genauer Inhalt für immer mein Geheimnis bleiben würde.
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Es ist für meine Verhältnisse ein sehr kurzes Kapitel. Doch da es keine Gespräche enthält, sondern lediglich Lizzy Gedanken widerspiegelt, denke ich, dass es ausreichend ist, um den Einblick in ihre Seele und in ihr Herz zu gewähren.
Wie hat es euch gefallen? Das würde mich sehr interessieren? Könnt ihr ein bisschen nachvollziehen, wie es ihr geht?
Ich möchte dieses Kapitel der lieben Jessi horansuniverse widmen, die die unglaublich tolle Collage gemacht hat, welche ihr oben sehen könnt. Danke, Liebes, sie ist einfach nur toll und sehr, sehr passend.
Und wie immer bedanke ich mich für eure süßen Kommentare und die Anteilnahme an dieser Geschichte.
LG, Ambi xxx
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