24. Depression


Lizzy

Nachdem ich Niall eine Dose Cola unauffällig ins Schlafzimmer gebracht hatte, setzte ich mich wieder zu Sammy. Hin und wieder kam sie unangemeldet zu Besuch, was mich bisher nie gestört hatte, heute jedoch schon. Scheinbar war es Niall und mir nicht vergönnt, in aller Ruhe ein paar Takte miteinander zu reden. Alles was ich wollte, war, ein gutes Verhältnis zu ihm aufbauen, denn mir lag sehr viel daran, dass er mit Sammy zusammenblieb. Schließlich wusste niemand besser als ich, wie perfekt er für meine Tochter war.

„Mum?"

Sammy holte mich aus meinen Gedanken, die noch immer bei Niall waren.

„Ja, Schatz?"

„Warum hast du denn das Fotoalbum mit den Babybildern von mir auf dem Tisch liegen?"

Oh Gott, das Album hatte ich ganz vergessen! Ich dachte nur daran, Nialls Kuchenteller und die Tasse wegzuräumen, doch das Fotoalbum lag nach wie vor an seinem Platz. Aber mit fünfzig besaß man glücklicherweise genügend Lebenserfahrung, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen.

„Ich hab nach einem alten Bild von Rufus gesucht, wo er mit dir gemeinsam drauf zu sehen ist. Du weißt, dass er nächsten Monat fünfzig wird und ich dachte, es wäre eine gute Idee, vielleicht eine Karte selbst zu basteln."

Niall hätte mir bestimmt auf die Schulter geklopft, wenn er diese Ausrede gehört hätte. Was das anging, standen wir uns wohl in nichts nach.

„Mit einem Bild von ihm und mir?"

Als ich nickte, begann Sammy zu grinsen. „Das ist eine coole Idee! Hast du schon eins gefunden?"

„Nein, denn du hast mich davon abgehalten."

„Ok, dann suchen wir jetzt gemeinsam."

Wir fanden tatsächlich ein Bild, auf welchem Rufus Sammy auf dem Arm hielt. Sie sah unbeschreiblich süß aus und er unglaublich gut. So jung und faltenfrei, genau wie ich damals.

Es war nicht so, dass ich ein Problem mit dem Älterwerden hatte, aber es ärgerte mich manchmal maßlos, wie viel Geld und Zeit ich aufwenden musste, um der Menschheit unter die Augen treten zu können.

Früher konnte ich ohne Make-up aus dem Haus gehen und alle Jungs drehten sich trotzdem nach mir um. Heute war es ein Ding der Unmöglichkeit, ungeschminkt das Haus zu verlassen. Aber da es wohl allen Frauen meines Alters so erging, regte ich mich nicht weiter drüber auf. Wir besuchten eben regelmäßig den Friseur, die Kosmetikerin und das Nagelstudio. Und einen Vorteil besaßen alle Frauen oder besser gesagt, alle Menschen meines Alters auf jeden Fall: Lebenserfahrung. Diese hätte ich niemals mehr gegen meine Jugend eintauschen wollen. Man machte viele Fehler in jungen Jahren, das sah ich bei meiner Tochter hin und wieder.

„Wollen wir die Karte gemeinsam machen? Ich kann dir dabei helfen, ich weiß doch, dass du mit den Grafikprogrammen so deine Probleme hast", kam es plötzlich von Sammy.

„Von mir aus gerne."

Jetzt musste ich tatsächlich eine Karte für Rufus basteln, aber mit Sammys Hilfe würden wir sicher schnell damit fertig werden.

„Gibt es eigentlich einen besonderen Grund dafür, dass du mich besuchst?", wollte ich nun wissen.

„Muss ich einen besonderen Grund haben?", lautete ihre schelmische Antwort.

„Nicht unbedingt aber es hätte ja sein können, dass ich gar nicht zuhause bin oder, was noch viel schlimmer wäre, ich meinen Liebhaber im Kleiderschrank versteckt hätte."

Ich wusste nicht, was mich geritten hatte, diesen Satz von mir zu geben.

Doch Sammy begann nur schallend zu lachen, anschließend sagte sie: „Das mit dem Kleiderschrank hast du jetzt nur gesagt, weil Niall mir diese ulkige SMS geschrieben hat."

„Glaubst du?"

„Ich kann ja mal nachschauen, ob jemand drin sitzt!"

„Tu dir keinen Zwang an." Mit dieser Aussage hielt ich sie am ehesten davon ab, aufzustehen und ins Schlafzimmer zu gehen.

„Mum?"

„Ja?"

„Eigentlich... Also eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass der Sex mit Niall fantastisch ist."

In jenem Moment fühlte ich mich, als ob mir jemand eine Ohrfeige verpasst hätte. Ich wusste ja, dass meine Tochter die Angewohnheit besaß über sämtliche Dinge mit mir zu reden, was ihre Beziehungen anging. Wir hatten ein sehr offenes Verhältnis zueinander. Bei ihrem ersten Freund, der sie dann leider betrogen hatte, fand ich das auch nicht weiter schlimm, aber in diesem Fall hielt ich es ganz und gar nicht für angebracht.

Ich musste den Satz: 'Du erzählst mir da nichts Neues', runterschlucken. Stattdessen sagte ich: „Schatz, ich glaube, du bist alt genug, um diese Dinge für dich zu behalten. Schließlich ist er nicht der Erste, mit dem du schläfst."

„Aber Mum!", protestierte Sammy. „Andere Mütter würden sich darüber freuen, wenn ihre Töchter so ein Vertrauen zu ihnen hätten!"

Andere Mütter hatten auch nicht, als sie zwanzig waren, mit dem Freund ihrer Tochter geschlafen. Der Gedanke daran ließ mich in diesem Augenblick beinahe durchdrehen. Sammy durfte das niemals erfahren, sonst würde alles kaputt gehen. Ihr Redeschwall, den sie nun hervorbrachte, trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu verbessern. Gott sei Dank klingelte das Telefon und ich musste mir nicht weiter anhören, wie toll der Sex mit Niall war.

Es war Rufus, der mich anrief und nachdem wir innerhalb weniger Sätze alles bezüglich seiner Geburtstagsparty geklärt hatten, übergab ich Sammy den Telefonhörer. Somit hatte ich Gelegenheit, nach Niall zu schauen. Als ich Sekunden später das Schlafzimmer betrat, stach mir sofort das geöffnete Fenster ins Auge. Ich war mir sicher, dass ich dieses geschlossen hatte, bevor ich Niall in den Schrank verbannte.

„Niall?"

Als keine Antwort erfolgte, spähte ich vorsichtig in den Kleiderschrank. Er war fort. Aber das war nicht das Schlimmste daran, sondern die halb geöffnete Holzschachtel, in welcher sich alle meine Erinnerungen an ihn befanden. Alle, einschließlich des Briefes, den ich vor dreißig Jahren geschrieben hatte.

Voll böser Ahnung durchwühlte ich nun die Holzschachtel, um festzustellen, dass dieser verschwunden war, doch die Zeichnung lag wieder in der Schachtel. Mein Herz begann heftig zu schlagen, während sich Tränen in meinen Augen bildeten. Niall musste den Brief gelesen und an sich genommen haben. Ich wusste, dass er mit dem Inhalt nicht klar kommen würde. Dafür fehlte ihm die emotionale Reife.

Hektisch lief ich ins Badezimmer, um mein Gesicht ein wenig mit frischem Wasser zu kühlen. Sammy sollte nicht sehen, dass ich geweint hatte. Als ich wieder zurück ins Esszimmer ging, beendete sie gerade das Telefongespräch mit Rufus.

„Ich soll dich nochmal von ihm grüßen", sagte sie lächelnd. „Und ich muss jetzt wieder los, ich bin noch mit einer Freundin verabredet."

„Dann siehst du Niall also heute nicht mehr?"

„Nein, wieso?"

„Nur so." Ich begleitete sie noch zur Haustür und drückte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Mach's gut mein Schatz, wir telefonieren."

„Ja, Mum, bis dann."

Nachdem Sammy die Tür hinter sich zugezogen hatte, atmete ich zunächst erleichtert auf. Niall und sie würden sich heute Abend also nicht sehen, das war auch gut so, denn er war bestimmt völlig durcheinander. Das war ich zwar auch, aber auf andere Art und Weise.

Angestrengt versuchte ich, mich in seine Lage zu versetzen und zu diesem Zweck stellte ich mir vor, wie Riley oder Tyler reagiert hätten, wenn ihnen so etwas widerfahren wäre. Die Antwort darauf war, dass sie völlig neben sich stehen würden. Und genauso erging es Niall jetzt. Hoffentlich würde das keine Auswirkungen auf seine Beziehung zu Sammy haben.

Ich war jung, hübsch und auf eine gewisse Art und Weise unerfahren gewesen, als ich diesen Brief an Niall geschrieben hatte. Er war jung, hübsch und auch auf eine gewisse Art und Weise unerfahren, als wir uns begegneten. Nun waren wir uns nach dreißig Jahren wieder über den Weg gelaufen – er noch immer jung und hübsch und auf eine gewisse Art und Weise unerfahren und ich, eine Frau die seine Mutter hätte sein können, die jede Menge Lebenserfahrung mitbrachte und die sein Herz noch immer liebte, weil sie wusste, wie gut dieses war.

Niall hatte mein Leben gerettet, ohne auf seine eigenen Gefühle Rücksicht zu nehmen. Er wusste, dass er mich verlassen musste und mich nie wieder sehen würde. Es hatte ihm das Herz gebrochen, genauso wie mir damals. Trotzdem hatte ich ihm verziehen und weil ich wusste, was für ein warmherziger Mensch er war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er mit Sammy zusammenbleiben würde. Er liebte sie über alles und Sammy liebte ihn ebenso. Sie waren das perfekte Paar. Ich durfte nicht zulassen, dass sich irgendetwas zwischen die beiden stellte und schon gar nicht die Vergangenheit.

Ich musste handeln, und zwar schnell. Aber ich brauchte auch jemand, dem ich mich in dieser Situation anvertrauen konnte, jemand, der Niall kannte und von diesem Brief wusste. Die Person war Crissy, meine Freundin aus der Studienzeit, mit der ich immer noch in engem Kontakt stand.

Sie würde zwar aus allen Wolken fallen, wenn ich ihr die ganze Geschichte erzählte, doch mir blieb keine andere Wahl. Ich war wirklich total verzweifelt und wusste im Augenblick nicht so recht, was ich tun sollte. Da Phil erst am späten Abend aus Paris zurückkehren würde, blieben mir noch einige Stunden Zeit, um mich zu sammeln und eventuell ein Treffen mit Crissy zu arrangieren.

Als ich sie fünf Minuten später anrief, äußerste sie sich regelrecht begeistert zu einer spontanen Zusammenkunft in unserem Lieblingsrestaurant.

Eine Stunde später war es dann soweit. Ich stieg aus dem Taxi, welches mich direkt vor dem Restaurant absetzte und brauchte nur noch auf Crissy zu warten, die zwei Minuten später eintraf.

„Meine Güte, Lizzy! Du siehst heute wieder toll aus!"

„So fühle ich mich aber ganz und gar nicht."

Wir umarmten uns herzlich und betraten anschließend das Restaurant, wo der Kellner uns sofort einen Platz zuwies. Nachdem wir die Getränke bestellt hatten, schaute Crissy zu mir und meinte: „Was hast du denn auf dem Herzen? Das klang ja vorhin ziemlich dringend."

Ich musste zunächst einmal tief durchatmen, bevor ich beginnen konnte, den Teil der Story zu erzählen, wie ich Niall wieder getroffen hatte. Crissys braune Augen weiteten sich immer mehr und sie wurde sprachlos, etwas, was äußerst selten bei ihr vorkam.

„Du... Du verarscht mich jetzt nicht, Lizzy, oder?" fragte sie ungefähr nach einer halben Minute, die sie gebraucht hatte, um sich zu fassen.

Resigniert schüttelte ich meinen Kopf. „Es ist die reine Wahrheit, was ich dir erzählt habe."

„Oh mein Gott! Du hast Niall getroffen! Unglaublich! Wie sieht er aus? Genauso gut wie damals?"

„Crissy, verdammt! Er ist noch genauso so alt oder besser gesagt genauso jung, wie damals! Begreifst du das? Er ist zwanzig und mit meiner Tochter zusammen!"

Erst jetzt schien Crissy vollkommen zu realisieren, was ich ihr erzählt hatte. Sie schlug ihre Hand vor den Mund und flüsterte: „Heilige Scheiße! Weiß Sammy das?"

„Bist du verrückt?! Nur Niall und ich wissen davon! Und bis vor wenigen Stunden haben wir uns, trotz des großen Altersunterschiedes und unserer gemeinsamen Vergangenheit, auch ganz gut verstanden."

Mein letzter Satz klang traurig, meine Stimme deprimiert, während ich den Blick nach unten senkte.

„Was ist passiert?", hörte ich Crissy fragen.

Bevor ich darauf antworten konnte, brachte der Kellner unsere Getränke. Gedankenverloren warf ich zwei Stück Würfelzucker in die Kaffeetasse und goss reichlich Milch dazu. Ich musste Crissy noch mehr erzählen, über die Treffen mit Niall. Wie alles begonnen hatte, dass ich ihn zunächst abgewiesen und angeschrien hatte, um dann festzustellen, was für ein großartiger Mensch er doch war. Und vor allem, dass er damals mein Leben gerettet hatte.

All das tat ich nun und Crissy hörte geduldig zu, das konnte sie schon immer gut. Ich ließ nichts aus und als ich die Sache mit dem Cappuccino erwähnte, begann sie zu lachen.

„Er hat sich also aus Versehen den heißen Cappuccino übers T-Shirt gekippt", meinte sie schmunzelnd.

„Ja! Ich konnte gar nicht so schnell gucken, da war es auch schon passiert! Es war echt ein Versehen!"

„Ich kenne deine Versehen, Lizzy. Was hast du dem armen Kerl erzählt, dass er sich vor lauter Verzweiflung den Cappuccino übergegossen hat?"

In diesem Augenblick hätte ich sie am liebsten erwürgt! Was dachte sie bloß von mir?

„Ich habe ihm lediglich zu verstehen gegeben, dass Sammy das niemals erfahren darf!", sagte ich mit Nachdruck in der Stimme.

„Und was hast du dann getan? Du hast ihn doch nicht mit einer Brandwunde aus dem Haus laufen lassen, oder?"

„Natürlich nicht! Ich hab Wasser drüber geschüttet und ihm anschließend einen Kühl Akku drauf gepresst."

„Auf die nackte Haut?"

„Ja, warum?"

Crissys süffisantes Grinsen ging mir in jenem Moment gehörig auf die Nerven.

„Und? Wie sieht sein Six Pack aus?"

„Ich würde sagen, es ist noch besser geworden."

„Na da kann man Sammy wohl gratulieren! Ein hübscher Freund, der auch noch berühmt ist und der vor dreißig Jahren etwas mit ihrer Mutter hatte. Aber das weiß sie ja Gott sei Dank nicht."

Crissy nippte an ihrem Kaffee, bevor sie mir die nächste Frage stellte. „Und was ist jetzt dein Problem? Ich meine, wenn es doch keiner außer euch beiden weiß und ihr gut damit umgehen könnt, dann..."

Jetzt sah ich mich gezwungen, ihr ins Wort zu fallen, um sie über das aufzuklären, was heute vorgefallen war. Ich begann meine Erzählung damit, dass ich Niall zu einer Plauderstunde mit Kaffee und Kuchen eingeladen hatte und erwähnte außerdem, dass wir uns gemeinsam Babybilder von Sammy angeschaut hatten.

„Dann hat er mir die Bilder gezeigt, die er damals mit seinem Handy aufgenommen hat", fuhr ich fort.

„Oh mein Gott! Er hatte diese Fotos noch immer auf seinem Handy?" Crissy klang sehr erstaunt.

„Ja und er hat sie mir sogar geschickt." Stolz präsentierte ich meiner Freundin nun die beiden Fotos, was sie dazu veranlasste einen Kommentar abzugeben.

„Wie jung du darauf aussiehst! Aber Niall ist ja schon ein heißer Typ. Ich weiß, in unserem Alter darf man das nicht laut sagen. Scheinbar glauben die jungen Leute, dass man mit fünfzig bereits blind geworden ist."

Obwohl mir nicht danach zumute war, musste ich lachen. „Ja, ich glaube, das denken sie."

Dann stieß ich einen kleinen Seufzer aus. „Weißt du, was das allerschlimmste ist, Crissy?"

„Was denn?"

Ich senkte meine Stimme ein wenig, bevor ich redete. „Das meine hübsche Tochter mit ihrem faltenfreien Gesicht und ihrem makellosen Körper über den Sex mit Niall mit mir sprechen wollte."

„Ach? Vielleicht hätte sie ja noch was von dir lernen können, oder umgekehrt, das weiß man ja nicht."

„Crissy!" Wutschnaubend blickte ich meine Freundin an. „Du bist mir keine große Hilfe!"

„Wieso? Du bist immer noch nicht mit der Sprache rausgerückt, was dein eigentliches Problem ist."

Ich schluckte und spürte gleichzeitig, wie meine Atmung schneller wurde, als ich zu reden begann.

„Also Sammy ist in unser Gespräch hineingeplatzt, fast jedenfalls. Niall konnte sich gerade noch in meinem Kleiderschrank verstecken. Dort hat er dann den Brief gefunden."

„Den Brief? Du meinst diesen Brief, den du ihm vor dreißig Jahren geschrieben hast und der zurückgekommen ist?", fragte Crissy aufgelöst.

Mit Tränen in den Augen antwortete ich: „Genau von diesem Brief rede ich. Verstehst du jetzt mein Problem?"

„Nicht so ganz. Denn ich kenne den genauen Inhalt nicht. Den hast du mir damals verschwiegen."

Mit geschlossenen Augen wiederholte ich die Worte, die ich vor dreißig Jahren geschrieben hatte. Ich brauchte den Brief nicht dazu, denn die Zeilen waren für immer in meinem Gedächtnis verankert.

Stumm blickte Crissy mich an, nickte und sagte dann leise: „Ich verstehe. Ihm fehlt vermutlich die emotionale Reife, um damit klar zu kommen."

„Genau das ist es."

Vor lauter Verzweiflung winkte ich den Kellner herbei und bestellte einen Cocktail. Ich brauchte jetzt ganz dringend etwas Alkoholisches, um meinen Gemütszustand zur Ruhe zu bringen.

„Was soll ich nur tun, Crissy?", fragte ich verzweifelt.

Sie tätschelte beruhigend meine Hand. „Lizzy, das wird schon. Du musst mit ihm reden."

„Er wird..., er wird wahrscheinlich nicht mit mir reden wollen."

Umständlich holte ich ein Taschentuch aus meiner Tasche hervor, um mir dann geräuschvoll die Nase zu putzen.

„Gott, so kann ich Phil heute nicht unter die Augen treten", murmelte ich leise.

„Dann kommst du eben mit zu mir. Jack ist auch auf Dienstreise, ich bin sowieso allein zuhause", hörte ich Crissys Stimme.

Eigentlich war das eine gute Idee, doch was sollte ich Phil erzählen? Ich musste mir dringend eine Ausrede einfallen lassen. Aber wie es der Zufall an diesem Tag wollte, lag das Glück auf meiner Seite. Kaum hatte ich den Cocktail vor mir stehen, machte sich mein Handy bemerkbar. Mit einem raschen Blick erkannte ich, dass es sich um Phil handelte.

„Hallo Phil", brachte ich hervor, wobei ich mich bemühte normal zu klingen.

„Hallo Lizzy, ich muss dir leider sagen, dass ich erst morgen Abend nach Hause kommen werde. In Frankreich herrscht nämlich ein Generalstreik. Ich kann weder fliegen, noch mit dem Zug fahren", erklärte er genervt.

„Das ist aber doof", sagte ich mit einer gewissen Erleichterung in meinem Innersten.

„Es tut mir wirklich leid, dass du jetzt diesen Abend alleine zuhause verbringen musst", meinte er bedauernd.

„Ach weißt du", begann ich, „ich sitze gerade mit Crissy in einem Restaurant. Wir haben uns spontan verabredet, weil Jack auch auf Geschäftsreise ist. Vielleicht verbringe ich die Nacht dann bei ihr."

Phil lachte, denn er kannte mein oftmals spontanes Handeln.

„Tu das, es reicht ja, wenn sich einer von uns beiden langweilt. Jedenfalls habe ich ein nettes Hotel gefunden und werde nun zum Abendessen gehen."

„Ich wünsche dir guten Appetit, mein Schatz."

Nach einigen belanglosen Sätzen wünschten wir uns eine gute Nacht. Erleichtert atmete ich auf, als ich zu Crissy schaute.

„Alles geklärt. Wir müssen nur vorher kurz zu mir, damit ich einen Schlafanzug usw. weiter einpacken kann", erklärte ich ihr nun.

„Fein, dann lass uns gehen."

Auf dem Weg zu Crissys Heim redeten wir noch ein bisschen über die Vergangenheit und plötzlich fragte sie: „Hast du Harry eigentlich auch gesehen?"

„Ja, und den Rest ebenso. Sie haben sich nicht allzu sehr verändert, wie du dir sicher vorstellen kannst."

„Manchmal wünschte ich, wir könnten die Zeit nochmal zurückdrehen", seufzte Crissy.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und flüsterte: „Das wünschte ich mir auch."

Als ich in dieser Nacht zu Bett ging, war mir vorher klar gewesen, dass ich so gut wie kein Auge zumachen würde. Ich lag im Gästezimmer von Crissys und Jacks großer Wohnung und grübelte die ganze Zeit.

Obwohl es bereits dreißig Jahre zurück lag, dass ich diesen Brief geschrieben hatte, war mir jede Zeile in Erinnerung geblieben. Schließlich hatte ich ihn später noch oft genug durchgelesen. Meine kompletten Emotionen von damals steckten in diesem Stück Papier. Nun war das passiert, was nie hätte geschehen sollen.

Niall hatte diesen Brief gelesen, meine Gedanken und Gefühle aus dem Jahr 1983, als ich zwanzig war. Und er konnte absolut nicht damit umgehen, das wir mir durchaus bewusst. Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass der Deckel der Holzschachtel noch immer geöffnet war, als ich ihn in den Schrank verbannte, weil Sammy so plötzlich aufgetaucht war?

Was sollte ich nur tun? Ich kam mir so hilflos vor, denn nichts würde meine Aussagen in diesem Brief ändern können. Meine Gedanken gingen nun zu Sammy. Es würde ihr das Herz brechen, wenn sie irgendetwas von der ganzen Sache erfahren sollte oder, was noch viel schlimmer war, wenn Niall sich von ihr zurückziehen würde, einfach, weil es emotional für ihn zu schlimm sein würde, mir in Zukunft zu begegnen.

Ich hatte gelernt, dass er sensibel war, Gott sei Dank, denn genauso einen Jungen brauchte Sammy. Die beiden waren einfach wie füreinander geschaffen, niemand konnte das besser beurteilen als ich. Man wünschte sich immer das Beste für sein Kind und das Beste oder besser gesagt der Beste für Sammy war Niall.

Alles was ich wollte war, dass die beiden glücklich miteinander sein sollten, nicht mehr und nicht weniger. Aber scheinbar hatte eine höhere Macht etwas dagegen. Vermutlich die Gleiche, die Niall und mich damals zusammengeführt hatte.

Seufzend stand ich auf, weil ich nicht einschlafen konnte und es leid war, mich im Bett hin und her zu wälzen. Ich tapste leise ins Wohnzimmer, zündete mir eine von Crissys Zigaretten an und dachte nach. Normalerweise rauchte ich nicht, nur in ganz extremen Stresssituationen und hierbei handelte es sich eindeutig um eine. Eigentlich paffte ich ja nur, denn über Lunge zu rauchen fand ich einfach nur ekelhaft.

Meine Gedanken gingen zurück ins Jahr 1983. Ich sah mein Zimmer in der WG im West End Bezirk vor mir. Die Matratze, welche auf dem Boden lag, den Kleiderschrank, den Schreibtisch, ich konnte mich sogar an den alten Plattenspieler erinnern, als hätte ich ihn gestern zum letzten Mal gesehen. Und natürlich sah ich auch die Gitarre vor mir, auf welcher Niall mir In these arms von Bon Jovi vorgespielt hatte.

Alles ergab jetzt einen Sinn, denn als ich das Lied zum ersten Mal im Radio gehört hatte, befand ich mich mit Phil auf dem Weg ins Krankenhaus, weil bereits die Wehen eingesetzt hatten und Sammys Geburt kurz bevor stand. Ich konnte mich damals sofort an diesen Song erinnern, doch ich verstand natürlich nicht, wieso Niall diesen 1983 bereits gekannt hatte.

Lächelnd dachte ich nun an meine Lebensphilosophie, welche ich eigenhändig mit Farbe auf die Wand über der Matratze gepinselt hatte. Und dann wurde plötzlich alles ganz klar für mich.

Die Erkenntnis, warum Niall und ich uns über den Weg gelaufen waren, wieso er mein Leben gerettet hatte. Es lag klar auf der Hand.

Ich sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen, wie ein Tiger in einem Käfig. Ich wollte raus, wollte zu ihm fahren und ihm begreiflich machen, dass alles seine Richtigkeit hatte, was in der Vergangenheit, aber auch was in der Gegenwart geschehen war. Niemand musste sich Vorwürfe machen. Ich nicht und Niall schon gar nicht.

Das Problem würde sein, dass er den Kontakt mit mir höchstwahrscheinlich vermeiden wollte. Es musste eine Lösung geben, ihn dazu zu bewegen, ein Gespräch mit mir zu führen. Und das sollte so schnell wie möglich passieren.

Vielleicht half es, wenn ich ihm diesen einen Satz schickte, welcher ihm damals so imponiert hatte, meine Lebensphilosophie. Denn sie traf in diesem Fall einhundertprozentig zu. Doch das alleine würde nichts nützen, wir mussten uns irgendwo treffen, jedoch nicht an solchen Orten, an denen die Paparazzi ihm auflauerten. Es war schlimm genug, dass er vermutlich total durcheinander war.

Nachdem ich die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte, lief ich zurück ins Gästezimmer und ging entschlossen auf den kleinen Nachttisch zu, auf welchem mein Handy lag. Bevor ich die SMS an Niall abschickte, atmete ich nochmals tief durch. Dann betätigte ich den Button zum Senden.

Jetzt konnte ich nichts mehr tun, außer warten und hoffen.

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Ob es wohl hilft, dass Lizzy Niall diese SMS geschickt hat? Wie denkt ihr, wird er reagieren?

Im nächsten Kapitel werdet ihr erfahren, was in dem Brief drinstand.

Danke für die lieben Kommentare, die ihr immer hinterlasst.

LG, Ambi xxx


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