20. Caught
Nachdem ich mich einigermaßen unter Kontrolle hatte und meine Tränen versiegt waren, startete ich den Motor, um auf direktem Weg zu Louis zu fahren. Ich wollte ihm erzählen, wie sehr Lizzy mich hassen musste und dass unser Gespräch ganz und gar nicht so verlaufen war, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Gespannt darauf, ob Louis dann immer noch einen Rat erteilen konnte, parkte ich meinen Wagen vor seinem Haus und lief mit schnellen Schritten zur Tür.
„Hey Niall, hat alles geklappt?", fragte er, nachdem er mich hereingelassen hatte.
Betrübt schüttelte ich meinen Kopf und begann zu erzählen, was mir widerfahren war.
Louis, der konzentriert zuhörte, nickte zum Schluss und meinte dann: „Denkst du nicht, dass du Lizzy etwas Zeit geben solltest? Ich meine, versetz dich doch mal in ihre Lage. Du kommst nach dreißig Jahren einfach so mit ihrer Tochter daher, siehst noch genauso aus wie damals und sie ist dreißig Jahre älter geworden. Zu allem Überfluss hältst du auch noch mit Sammy Händchen, wahrscheinlich habt ihr euch auch noch vor ihren Augen geküsst .Das muss sie erstmal verkraften."
„Ich musste es auch verkraften, dass ihr Mann sie vor meinen Augen geküsst hat!", blökte ich zurück, worauf Louis schallend zu lachen begann.
„Wie du schon sagtest, Niall. Er ist ihr Mann, er darf das."
„Und ich bin mit Sammy zusammen, also darf ich es auch!"
„Ach Nialler, du musst noch so viel lernen." Mit diesen Worten legte er einen Arm um meine Schulter und schaute mich lächelnd an.
„Was bitte muss ich denn lernen?", brummte ich nur.
„Deine Gefühle anzuerkennen. Du bist eifersüchtig auf Phil."
„Du spinnst doch total!" Irgendwie klang meine Stimme nicht so ganz überzeugend und als ich an den Kuss dachte, den Phil Lizzy gegeben hatte, tauchte wieder dieses seltsame Gefühl in mir auf.
Mit einer schnellen Bewegung schüttelte ich Louis' Arm von mir ab. Es war alles andere, aber keine Eifersucht. Vermutlich hatte Louis sich heute ein paar Biere zu viel gegönnt, anders konnte ich mir sein Geschwafel nicht erklären. Seufzend schaute ich nun zu ihm und dann überkam es mich.
„Sie hat mir so leidgetan, als sie geweint hat, ich ertrage das nicht, verstehst du? Ich... Ich kann das nie wieder gut machen, was ich damals verbrochen habe..."
„Niall, gib' ihr einfach Zeit, ok? Sie muss doch erstmal realisieren, dass du nicht das egoistische Arschloch bist, für das sie dich die ganze Zeit über gehalten hat. Sie wird schon mit dir reden, davon bin ich überzeugt."
Wie konnte er nur so sicher sein? Ich verstand es nicht, eigentlich verstand ich überhaupt nichts mehr an diesem Tag. Alles was ich wollte, war, nach Hause zu fahren, mich ins Bett zu legen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und alles zu vergessen, was sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden abgespielt hatte, alles mit Ausnahme von Sammy.
Mein kleiner blonder Engel flatterte plötzlich durch meine Gedanken und ließ mich unwillkürlich lächeln.
„An was denkst du gerade?", vernahm ich Louis' Stimme.
„An Sammy. Sie kommt nachher zu mir", erwiderte ich. „Deswegen muss ich jetzt auch gehen, denn sie besitzt keinen Schlüssel zu meinem Penthouse."
„Noch nicht", entgegnete Louis daraufhin grinsend.
„Ich glaube, den kriegt sie bald".
Nachdem ich mich verabschiedet hatte, trat ich den Weg nach Hause an. Während der Autofahrt dachte ich natürlich wieder über das ganze Dilemma nach. Nichts konnte die Vergangenheit ungeschehen machen, aber dass diese nun die Gegenwart und wahrscheinlich auch meine Zukunft tangieren würde, hätte ich nie im Leben gedacht.
Wie sollte ich denn Lizzy das nächste Mal gegenüber treten, wenn wir uns mal wieder begegnen sollten? Dass dies der Fall sein würde, war relativ klar, denn ich liebte Sammy wirklich und wollte unter allen Umständen mit ihr zusammenbleiben. Aber ich konnte nicht jedes Mal eine Ausrede erfinden, um ihre Eltern nicht besuchen zu müssen. Sammy war clever und irgendwann würde ihr das mit Sicherheit auffallen.
Seufzend stellte ich meinen Wagen in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Aufzug direkt ins Penthouse. Dort angekommen, schlüpfte ich aus meiner Jacke und den Schuhen, um anschließend in die offene Küche zu laufen. Gedankenverloren holte ich ein Bier aus dem Kühlschrank, ging zurück ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und wartete auf Sammy. Sie durfte auf gar keinen Fall merken, was in mir vorging und sie durfte vor allem nicht wissen, was in der Vergangenheit geschehen war.
Als es plötzlich an der Tür läutete, erhob ich mich rasch und lief zur Eingangstür, um Sammy zu begrüßen. Sie fiel mir direkt um den Hals und begann mich zu küssen, was ich sofort erwiderte. Sanft drückte ich sie an mich, nahm den angenehmen Duft ihres Parfums wahr und vergaß alles um uns herum. Sie war alles, was ich in jenem Moment brauchte.
Ihre zarten Hände krallten sich in mein T-Shirt, während meine Lippen an ihrem Hals entlang wanderten. Wir standen noch immer in der Türschwelle, doch plötzlich packte ich Sammy an den Hüften und drückte sie ins Innere der Wohnung. Anschließend stolperten wir mehr oder weniger in Richtung Sofa, wo wir uns nieder ließen. Sammy kuschelte sich sofort in meine Arme und als unsere Lippen sich trafen, spürte ich, das sie heute vor allem eines wollte: Zärtlichkeit.
„Ich hatte so einen schlimmen Tag heute", seufzte sie leise, als wir den Kuss kurzzeitig unterbrachen.
„Was ist denn passiert?", erkundigte ich mich. Dass mein Tag auch schlimm gewesen war und vor allem warum, musste sie unbedingt nicht wissen.
„Irgendjemand hat mein Auto angefahren und ist natürlich abgehauen."
„Oh Mist."
Beruhigend streichelte ich über ihre Wange.
„Es ist zwar ärgerlich, Sammy aber es ist nur ein Auto, das man reparieren kann. Schlimmer wäre es, wenn ein Unfall geschehen wäre, bei dem du Verletzungen davongetragen hättest", versuchte ich ihr meinen Standpunkt klar zu machen.
Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und erwiderte leise: „Da hast du wohl Recht."
Als ich in ihre blauen Augen schaute, glaubte ich darin zu versinken. Sammy lenkte mich total von meinen trüben Gedanken ab und beförderte mich in unsere eigene Welt, in welcher es nur uns beide gab. Es tat so gut das sanfte Streicheln ihrer Hände unter meinem T-Shirt zu spüren.
Alles, was ich jenem Moment brauchte, war sie und doch gab es einen kleinen Teil in mir, der an Lizzy dachte. Ein Teil, der mich wissen ließ, dass ich die ganze Sache unbedingt in Ordnung bringen musste. Die Frage war nur, wie sollte ich das tun?
Der andere Teil von mir, der sich gerade mit Sammy beschäftigte, gewann schließlich am heutigen Abend den Kampf. Wir verbrachten eine wundervolle Nacht miteinander und als sie sich am nächsten Morgen verabschiedete, war ihr Kummer über das lädierte Auto so gut wie verschwunden. Dafür kamen meine Gedanken an Lizzy erneut hoch, als ich alleine in meiner Wohnung saß. Was sollte ich denn jetzt tun? Ich konnte sie doch nicht noch einmal belästigen, sondern musste ihr, laut Louis' Aussage, Zeit geben.
Die ganze Situation machte mich dermaßen fertig, dass ich fast eine geschlagene Stunde nur mit grübeln verbrachte, jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis kam. Irgendwann wurde ich hungrig und durchforstete den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Gott sei Dank fand sich noch etwas darin und ich konnte mir den Weg zum Tesco sparen.
Nach dem Essen stöberte ich ein bisschen auf Twitter, doch es gab nichts, was mich interessierte. Selbst das TV Programm konnte mich nicht ablenken, andauernd wanderten meine Gedanken zu Lizzy.
Was sie jetzt wohl von mir dachte? Hoffentlich kam sie nicht zu der Überzeugung, dass ich nicht gut genug für Sammy sei, denn das konnte durchaus böse Folgen haben. Es lag mir noch immer schwer im Magen, dass ich Lizzy so verletzt hatte, bestimmt würde sie mir das niemals richtig verzeihen können.
Als ich zwischendurch einen Blick auf die Uhr warf, stellte ich fest, dass es bereits kurz vor drei am Nachmittag war. Vielleicht war es besser, Louis nochmals anzurufen, denn ich saß buchstäblich wie auf heißen Kohlen.
Unentschlossen blickte ich auf mein Handy, welches neben mir auf dem Sofa lag, doch bevor ich danach greifen konnte, kündigte sich ein Gespräch an. Auf dem Display erschien die Mitteilung Unbekannter Teilnehmer, was mich ein wenig stutzig werden ließ. Sollte ich nun rangehen oder nicht? Normalerweise ignorierte ich solche Anrufe meistens gnadenlos, doch etwas in meinem Innersten zwang mich dazu, das Gespräch entgegenzunehmen.
Die Überraschung war ganz auf meiner Seite, als ich nur ein: „Hallo, wer spricht da?", von mir gab, denn mit der Antwort, die ich darauf bekam, hatte ich nie und nimmer gerechnet.
„Niall? Hier ist Liz."
Es fehlte nicht viel und mir wäre das Smartphone aus der Hand gerutscht, ich konnte es in letzter Sekunde noch festhalten.
„Liz?"
„Ja, du erinnerst dich, Sammys Mum."
„J... Ja..., natürlich ", stammelte ich nun verlegen. Woher zum Teufel hatte sie meine Handy Nummer?
Ich konnte hören, dass sie einmal tief durchatmete, bevor sie erneut zu sprechen begann.
„Können wir uns heute sehen? Ich würde gerne noch einmal mit dir reden."
Das Wort Fassungslosigkeit beschrieb wohl in jenem Moment am ehesten meinen Gemütszustand. Ich fiel buchstäblich aus allen Wolken, denn das hatte ich nicht erwartet, und vor allem nicht so schnell.
Louis' Worte, dass ich ihr Zeit geben sollte, erklangen noch immer in meinen Ohren aber unter diesem Begriff verstand ich mindestens eine Woche, eher länger. Wie man sich doch täuschen konnte!
„Niall, bist du noch da?", hörte ich ihre Stimme, welche plötzlich das gleiche Gefühl in mir auslöste, wie im Jahr 1983. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können, der süßen, kleinen Lizzy.
Binnen Sekunden rief ich mich gedanklich zur Ordnung, denn wir befanden uns im Jahr 2013. Also sprach Liz, die meine Mutter hätte sein können, gerade mit mir. Eine Tatsache, an die ich mich erst noch gewöhnen musste.
Um nicht wie ein Idiot dazustehen, räusperte ich mich kurz und antwortete dann: „Heute? Um welche Uhrzeit denn?"
„Also wenn es dir passt, dann am besten sofort."
Kam es mir nur so vor oder hatte sie es tatsächlich eilig, mich wieder zu sehen? Da ich jedoch die ganze Sache so schnell wie nur möglich bereinigen wollte, erwiderte ich mit klopfendem Herzen: „Ja, das geht aber wo sollen wir uns treffen? Es gibt nämlich meistens Probleme, wenn ich in der Öffentlichkeit auftauche, weißt du..."
Sie zögerte keine Sekunde mit ihrer Antwort. „Das habe ich mir schon gedacht und deshalb möchte ich dir anbieten, zu mir nach Hause zu kommen. Dort sind wir keinen neugierigen Blicken ausgesetzt und zudem völlig ungestört. Phil ist noch in seinem Büro."
Phil, ach ja, den gab es jetzt auch noch. Damit musste ich nun irgendwie klar kommen, ob ich wollte oder nicht. Zum Glück würde mir heute der Anblick, dass er Lizzy küsste, erspart bleiben.
Trotzdem atmete ich innerlich erstmal tief durch, bevor ich ihre Frage beantwortete. „Ok, ich komme bei dir vorbei, allerdings ist das an eine Bedingung geknüpft."
Woher ich den Mut nahm, diesen Satz von mir zu geben, wusste ich selbst nicht. Doch Lizzy schien es mir nicht übel zu nehmen.
„Und welche Bedingung ist das?", erkundigte sie sich ruhig.
„Dass wir uns nicht mehr so anschreien wie gestern."
Ich wollte einfach nicht mehr mit ihr streiten und hoffte, ihr das auf diesem Wege begreiflich machen zu können. Intelligent wie Lizzy nun mal war, verstand sie sofort, was ich meinte.
„Das hatte ich auch gar nicht vor", kam es prompt von ihr.
„Gut, ich mache mich gleich auf den Weg", ließ ich sie wissen.
Nachdem ich Lizzys Handynummer in meinem Smartphone abgespeichert hatte, tauschte ich meine graue Jogginghose und mein weißes Body-Shirt gegen eine Jeans und ein hellblaues T-Shirt. Schnell zog ich meine weißen Supras an und warf anschließend einen prüfenden Blick in den Spiegel. Der Anblick, der mich dort erwartete, trug keineswegs dazu bei, meine Laune zu verbessern. Ich sah aus, als hätte ich die ganze Nacht durchgemacht.
So konnte ich Lizzy auf gar keinen Fall unter die Augen treten. Wenigstens meine Haare sollten schon vernünftig gestylt sein, das war das Mindeste, was man verlangen konnte. Glücklicherweise besaß ich in der Zwischenzeit genügend Routine darin, dies selbst zu tun. Lou bekam es zwar besser hin aber das konnte man von einer ausgebildeten Stylistin schließlich auch erwarten.
Nachdem ich einigermaßen ok aussah, schnappte ich meine Jacke, sowie den Autoschlüssel und lief eilig die Treppe nach unten.
Während der kurzen Autofahrt dachte ich über Lizzy nach. Was würde sie mir wohl zu sagen haben?
Die Parkplatzsuche gestaltete sich am heutigen Tag äußerst schwierig, doch schließlich fand ich in der Straße um die Ecke eine Parklücke, in welche der Range Rover gerade so hineinpasste. Das war dann wohl mehr Glück als Verstand.
Kurze Zeit später lief ich mit klopfendem Herzen in Richtung des Hauses. Als ich vor der Tür stand, atmete ich nochmal tief durch, bevor ich die Klingel betätigte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Schritte näherten sich und dann wurde die Tür endlich geöffnet. Lizzys blaue Augen schauten mich heute zum ersten Mal nicht böse oder missbilligend an, sondern eher freundlich.
„Komm rein", begrüßte sie mich und trat ein wenig zur Seite, damit ich an ihr vorbeigehen konnte.
Heute fiel mir zum ersten Mal auf, wie klein sich wirklich war, bestimmt fünf Zentimeter kleiner als Sammy. Das lag wahrscheinlich aber auch daran, dass sie flache Schuhe trug.
„Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee oder Cappuccino?", vernahm ich ihre Frage. Mein Gott, sie klang heute wirklich lammfromm, im Gegensatz zu gestern.
„Ein Cappuccino wäre nicht schlecht", erwiderte ich mit einem angedeuteten Lächeln.
Diesen bekam ich kurze Zeit später auch vor die Nase gesetzt, während Lizzy sich einen Kaffee gönnte.
„Also, ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast", begann sie die Unterhaltung, was ich mit einem Nicken quittierte. Trotz allem war mir noch immer ziemlich mulmig zumute. Was würde nun kommen? Glaubte sie mir die Sache mit der Zeitreise oder nicht? Und vor allem: Glaubte sie mir, dass ich ihr Leben retten wollte?
„Hör zu, Niall. Ich glaube dir, was du erzählt hast, auch wenn gerade diese Sache mit der Zeitreise ziemlich weit hergeholt klingt. Aber...", sie geriet ein wenig ins Stocken. „Aber niemand außer dir kann wissen, dass du..."
Sie brach ab und schaute in meine Augen, was ein sehr komisches Gefühl in meiner Magengegend auslöste.
„Dass ich?", fragte ich leise nach.
„Dass du meine Narbe geküsst hast."
Binnen Sekunden überzog sich mein Gesicht mit einer flammenden Röte und mir wurde unendlich heiß, denn ich dachte in diesem Augenblick nicht nur daran, sondern auch, was am 17.12.1983 um die Mittagszeit geschehen war.
Großer Gott, wie hatte ich nur mit der Mutter meiner Freundin schlafen können? Ich musste wirklich ein selten dämlicher Idiot sein! Zu meiner Verteidigung musste ich allerdings sagen, dass sie zu diesem Zeitpunkt genauso alt gewesen war wie ich, was die Sache jedoch nicht unbedingt besser machte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Lizzy, die so tat, als würde sie meine Verlegenheit nicht bemerken. Ich fand sie in diesem Augenblick wahnsinnig cool. Ob alle Frauen ihres Alters so drauf waren? Wenn ja, dann beneidete ich sie irgendwie darum, denn ich konnte leider nicht immer cool sein und schon gar nicht in solchen Situationen.
Zu gerne hätte ich sie gefragt, was sie jetzt dachte, doch dann fiel mir plötzlich eine andere Frage ein, die ich ihr unbedingt stellen wollte.
„Woher hast du eigentlich meine Handynummer?"
Daraufhin begann Lizzy schallend zu lachen, was mich ziemlich verblüffte.
„Du bist zwanzig und leidest schon an Alzheimer? Das ist nicht gut", hörte ich sie mit leicht amüsierter Stimme sagen. „Du hast mir diese Nummer vor dreißig Jahren gegeben."
Nun war ich echt baff. Meine Kinnlade klappte nach unten, bevor ich fragte: „Du hast den Zettel mit meiner Nummer dreißig Jahre lang aufbewahrt?"
Ihre blauen Augen blitzten kurz auf, als sie antwortete: „Weißt du, Niall, wenn du mal fünfzig bist, wirst du bestimmt auch einige Utensilien aus vergangenen Zeiten dein eigen nennen können. Ich habe einige Dinge aus den Achtzigern aufbewahrt, weil es einfach eine schöne Zeit für mich war."
„Auch die Gitarre?" Meine Frage kam so spontan, dass sie lächeln musste.
„Ja, auch die Gitarre. Sie ist allerdings auf dem Dachboden, weil niemand von uns fähig ist, darauf zu spielen. Aber ich glaube, es geht ihr gut und sie funktioniert noch."
Ich konnte einfach nicht fassen, was ich da gerade hörte. Lizzy hatte tatsächlich meine Telefonnummer und die Gitarre aufbewahrt, mit der ich ihr In these arms vorgespielt, und dazu gesungen hatte.
Scheinbar gab es doch noch so Einiges, was uns miteinander verband.
Doch genau das machte mich unsicher, ich wusste nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Wenn sie dreißig Jahre jünger gewesen wäre und Sammy nicht existiert hätte, dann... Nein, ich durfte diesen Gedanken nicht zu Ende spinnen, sondern musste den Tatsachen ins Auge sehen. Auch wenn ihre Stimme noch genauso klang wie im Jahr 1983, ich musste Lizzy anschauen, denn nur so würde es mir gelingen, das Gefühlschaos, welches sich in mir ausbreitete, in den Griff zu bekommen.
Langsam hob ich meinen Kopf und blickte in ihre Augen, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren. Dabei stellte ich fest, dass mein erster Eindruck noch der gleiche war. Es machte sie nicht alt oder hässlich, sondern interessant. Und sie hatte mir auf jeden Fall eines voraus: Dreißig Jahre Lebenserfahrung.
Das fühlte sich für mich ziemlich komisch an und dann wieder auch nicht. Sie war Sammys Mum, aber sie hätte genauso gut meine Mutter sein können, das musste ich mir immer vor Augen halten.
Ich war ganz in Gedanken, als ich die Tasse mit dem noch immer heißen Cappuccino zu meinem Mund führte und als ich Lizzy sagen hörte: „Sammy darf es niemals erfahren, Niall", passierte es auch schon.
Mit einer ungeschickten Handbewegung verschüttete ich das Getränk auf mein T-Shirt.
„Oh shit, ist das heiß!"
Entsetzt stellte ich die Tasse ab und atmete heftig. Doch Lizzy reagierte prompt. Blitzschnell nahm sie das mit Wasser gefüllte Glas, welches neben ihrer Kaffeetasse stand und kippte den Inhalt einfach über die Stelle an meinem T-Shirt, auf welche ich den Cappuccino gegossen hatte. Ich konnte nichts tun, außer sie mit offenem Mund anstarren, denn das heftige Brennen ließ tatsächlich nach.
Doch Lizzy war noch nicht fertig mit ihrer Ersten Hilfe Aktion. Sie ging zum Kühlschrank und holte einen Kühl Akku aus dem Gefrierfach. Was dann passierte, ließ mein Herz schneller schlagen und ich bekam kaum noch Luft. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie mein T-Shirt in die Höhe und presste den Kühl Akku auf mein Six Pack. Sofort begann mein Herz zu rasen.
Als unsere Augen sich Sekunden später trafen, konnte ich zum ersten Mal eine Art Verlegenheit in ihren erkennen. Aber sie fasste sich gleich wieder und meinte: „Das ist nur prophylaktisch, damit es keine schlimme Verbrennung gibt, die vielleicht Spuren hinterlässt."
Sie hatte ja echt Nerven, das musste man ihr lassen.
Ich schluckte kurz, bevor ich nun zu einem Konter startete. „Du meinst, es reicht, wenn einer von uns beiden eine Narbe auf dem Bauch hat."
Lizzy, die immer noch den Kühl Akku auf meinen Bauch presste, begann leicht zu grinsen und sagte: „Am besten, du ziehst das T-Shirt aus, damit es ein bisschen trocknen kann."
Ich hielt diese Idee durchaus für sinnvoll, obwohl ich mich nicht so ganz wohl dabei fühlte. Aber eigentlich gab es keinen vernünftigen Grund, weshalb ich weiterhin mit einem teilweise durchnässten Shirt am Tisch sitzen sollte und so tat ich einfach das, was Lizzy vorgeschlagen hatte. Dafür musste sie zwar kurzzeitig den Akku von meinem Six Pack nehmen aber das verschlimmerte den Zustand meiner Verbrennung keineswegs.
„Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das?", schnaufte sie plötzlich.
„Ich dir? Es ist wohl eher umgekehrt! Als du mir das eiskalte Ding auf meinen Body gedrückt hast, dachte ich, ich krieg keine Luft mehr", erwiderte ich grinsend.
Mein T-Shirt hing nun über einem der Stühle, genau über meiner Jacke. Dort konnte es wirklich in aller Ruhe trocknen.
„Eigentlich wollte ich dir noch etwas anderes zeigen, was ich dreißig Jahre lang aufbewahrt habe", vernahm ich Lizzys Stimme.
Als sie sich erhob und mir ein Zeichen gab aufzustehen, folgte ich ihr durch den verwinkelten Flur in einen der Räume, welcher sich als das Schlafzimmer entpuppte. Da uns niemand beobachten konnte, war auch keine Gefahr im Verzug, wenn ich mit nacktem Oberkörper in Lizzys und Phils Schlafzimmer stand.
Zumindest dachten wir das, bis zu jenem Augenblick, als jemand die Haustür öffnete und Phils Stimme durch den Flur hallte: „Lizzy, bist du da? Ich bin extra früher nach Hause gekommen."
Mein Herzschlag setzte beinahe aus und ich schaute mit panischem Gesichtsausdruck zu Lizzy. Was sollten wir tun, um diese äußerst prekäre Situation zu entschärfen? Wie im Himmels Willen sollten wir Phil das erklären?
Bevor ich wusste, was geschah, packte Lizzy mich am Arm und zerrte mich in Richtung Kleiderschrank. War sie jetzt komplett verrückt geworden?
Während ich noch darüber nachdachte, dass ich noch nicht einmal ein Testament verfasst hatte, denn Phil würde mich bestimmt erschießen wollen, öffnete Lizzy eine der großen Schiebetüren des Kleiderschranks.
„Los, rein mit dir!"
Das war keine Bitte, sondern ein Befehl, welchem ich ohne zu zögern nachkam. Schwer atmend ließ ich mich auf dem Boden des Kleiderschranks nieder und bekam Sekunden später mein T-Shirt und meine Jacke hinterher geworfen. Anschließend zog Lizzy die Schiebetür zu und ich war gefangen. Eingesperrt in Lizzys Kleiderschrank, denn das es ihrer war, konnte man unschwer an den Klamotten erkennen, wie ich feststellte, als ich die Taschenlampe meines Handys zu Hilfe nahm, um die Umgebung genauer zu erkunden.
Da es durch das geöffnete Schlafzimmerfenster ziemlich kalt wurde, versuchte ich mein T-Shirt anzuziehen, was sich in einem Kleiderschrank nicht so einfach bewerkstelligen ließ. Nachdem ich es schließlich doch irgendwie geschafft hatte, fiel mir ein, dass es wohl besser war, das Smartphone auf lautlos zu stellen. Ein Anruf wäre jetzt so ziemlich das Ungünstigste gewesen, was hätte passieren können. Es war zwar kein Anruf, was mir Sekunden später fast das Herz in die Hose rutschen ließ, dafür aber eine Nachricht von Sammy.
„Ich hab Sehnsucht nach dir. Wo bist du denn gerade?"
Obwohl mir nicht danach zumute war, musste ich kurz grinsen. Sie schrieb mir immer so süße Nachrichten und ich hatte mir geschworen, sie niemals anzulügen. Aber was sollte ich nun tun? Eigentlich konnte ich ihr die Wahrheit sagen, denn Sammy würde das für einen Scherz halten.
Und somit textete ich frech zurück: „Ich sitze im Kleiderschrank von deiner Mutter."
Darauf bekam ich ein: „Haha, du bist so witzig, Niall!", was mich erleichtert aufatmen ließ.
Diese Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn kurz darauf vernahm ich die Stimmen von Lizzy und Phil, die offensichtlich gerade das Schlafzimmer betraten.
„Na, Süße, habe ich dich überrascht?", hörte ich Phil sagen.
„Das kann man wohl sagen".
Sie sprach mir damit aus der Seele. Und ich hatte erneut das Gefühl, dass sie zwanzig war, weil ich nur ihre Stimme hörte, sie jedoch nicht sehen konnte. Ihr nächster Satz trieb mir jedoch kleine Schweißperlen auf die Stirn.
„Phil, nicht jetzt. Ich habe in einer halben Stunde einen Friseurtermin und muss eigentlich bald los."
„Ach Lizzy, komm schon. Ich hab' extra früher Feierabend gemacht, du weißt genau, dass ich morgen für drei Tage geschäftlich nach Frankreich fliege."
Der Kerl wollte ihr doch nicht etwa an die Wäsche? Das musste ich unbedingt verhindern!
Als Lizzy noch ein: „Bitte nicht jetzt, Phil. Es geht wirklich nicht", von sich gab, sah ich das süße zwanzigjährige Mädchen vor mir, das von einem Typen namens Phil belästigt wurde, der mit ihr ins Bett steigen wollte.
Ein Bett, das sich rein zufälligerweise im gleichen Raum befand, wie der Kleiderschrank, in welchem ich nun saß.
Ruckartig und mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck öffnete ich die Schiebetür, kletterte so schnell es ging aus dem Schrank und sagte: „Du hast gehört, was sie gesagt hat, Phil. Sie muss in einer halben Stunde beim Friseur sein."
Als zwei Augenpaare mich völlig entgeistert anstarrten, wurde mir bewusst, dass ich vermutlich einen großen Fehler begangen hatte.
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Cliffhanger! Sorry, aber der musste einfach sein. :)
Was denkt ihr, wird jetzt passieren? Kann sich Niall irgendwie aus der Affäre ziehen? Oder wird Phil ihn verprügeln?
Ich bin so gespannt auf eure Kommentare, das glaubt ihr nicht! Und ich bedanke mich ganz herzlich für das Feedback zum letzten Kapitel. Es hat Spaß gemacht, das alles zu lesen.
LG, Ambi xxx
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