15 Minuten

Unschuldig!

Ich war unschuldig und mir blieben noch 15 Minuten bis zu meinem Tod.
Immer wieder kam mir „Unschuldig!“ in den Sinn.

Und immer wieder fiel mein Blick auf die kleine Uhr an meinem linken Arm.
Es war eine billige Digitaluhr, die mein Sohn mir bei einem Besuch hier im Gefängnis geschenkt hatte.
Meine Frau hatte erzählt, wie er wochenlang für diese Uhr gespart hatte.

Als sie mir davon erzählt hatte, waren mir Tränen in die Augen gestiegen.

Doch die Uhr, die mein Sohn mir aus Liebe geschenkt hatte, verwandelte sich nun in eine tickende Zeitbombe.
Sie wurde nun zum personifizierten Tod.

Es war als würde sie mich höhnisch auslachen.

Mein Blick wanderte wieder zu der Uhr.

Noch etwas mehr als 14 Minuten blieben mir.

Blieben meinem Leben.

Blieben mir, um mich von meinem Leben zu verabschieden.

Eigentlich hätte ich heulen sollen. 
Doch ich hatte in den vergangen Tagen genug geweint. Es war, als wären keine Tränen mehr übrig.

Ich überlegte, ob ich vielleicht kurz vor meinem Tod noch ein Mal anfangen würde zu weinen, oder ob ich nun wirklich alle Tränen verbraucht hatte.

Es stellte sich mir die Frage, ob man Tränen überhaupt verbrauchen kann. Und wenn es so wäre, so fragte ich mich, ob ein Leben, in dem man nie mehr weinen könnte, weil keine Tränen mehr vorhanden sind, überhaupt einen Sinn machen würde.

Ich kam zu der Antwort, dass es wohl keinen Sinn machen würde, denn Weinen gehört wie das Lachen zum Leben.

Ein Leben ohne Lachen ist nicht lebenswert, aber genauso wenig Sinn hat ein Leben ohne Weinen.
Denn jeder ist ein Mal traurig oder fröhlich und seine Gefühle muss man zeigen können, sonst entwickelt man sich zu einem in sich gekehrten, der Welt den Rücken zugewandten Menschen.

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