Kapitel 77 - Keep it close



Draco und ich entdeckten niemanden in der Bibliothek, der außer Atem war. Allerdings sah ich etliche Mitglieder der DA, die ihre Nase so weit in ein Buch gesteckt hatte, dass kaum noch ihre Wangen zu sehen waren. Andere hielten die Luft an. Das Gute war, dass ich ihnen wohl durch meine Auseinandersetzung mit Draco genug Zeit verschaffen konnte, um sich unauffällig unter die anderen lernenden Schüler zu mischen und ihren Puls unter Kontrolle zu bringen.

„Und?" fragte mich Draco kühl, ohne mich anzusehen, wie auch schon die restliche Zeit, seitdem wir Adrian hinter uns gelassen hatten. Einige Blicke huschten nervös zu mir.

„Niemand Auffälliges zu entdecken." murmelte ich ihm entgegen, doch Draco wusste es besser, das war mir bewusst. Er fragte jedoch nicht weiter danach. Er mochte zwar blond sein, aber nicht blöd. Manchmal zumindest.

Und immer noch wusste ich nicht, was ich über seine Worte von vorhin denken sollte. Wusste er tatsächlich etwas? Über mich? Über all das, was hier vor sich ging, was auch immer das sein mochte? Ein kalter Schauder jagte mir über den Rücken bei dem Gedanken daran. Genauso wie bei dem Gedanken an Harry. Schuldgefühle quälten mich und ich fragte mich, wo er gerade sein mochte... ob es ihm gut ging. Es hatte genau denjenigen erwischt, den ich von allen DA Mitglieder am dringendsten warnen wollte.

Er würde einen Schulverweis bekommen und vermutlich würde man ihn ans Zaubereiministerium überstellen und schreckliche Dinge mit ihm anstellen. Fudge und Umbridge waren schließlich die ganze Zeit schon darauf erpicht gewesen, Harry von dieser Schule zu bekommen, ihn irgendwo wegsperren zu können, wo er niemandem mehr die Wahrheit über Voldemorts Rückkehr erzählen konnte. Die Wut, die ich wegen Draco verspürte, weil er Harry Umbridge ausgeliefert hatte, wurde von einem anderen bitteren Gefühl übertönt, das ich in diesem Augenblick weder haben noch darüber nachdenken wollte: Er hatte mir geholfen. Draco hatte mich nicht an Umbridge ausgeliefert, sondern sie für mich belogen. Was hieß, dass er ziemlich viel riskiert hatte, sollte er jemals auffliegen. Warum hatte er mich beschützt? Mein Blick huschte abermals zu ihm, beobachtete ihn stumm, während er neben einem der langen Bücherregale stand, beide Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick war in Richtung zweier Schüler gerichtet, die wenige Meter entfernt an einem Tisch saßen. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass da nichts in seinem Blick war. Er wirkte leer, so als würde er nichts erfassen.

Warum? ging es mir abermals durch den Kopf. Jedes Mal, sobald ich davon überzeugt gewesen war, dass er mich hasste, ließ er mich mit nichts als einem Berg von chaotischen Gefühlen zurück. Ich hasste ihn nicht. Nicht wirklich. Aber was in aller Welt könnte es sonst sein?

Hatte er es wegen dem getan, was er wusste? Und was wusste er überhaupt? Es macht mich wahnsinnig.

Nach der scheinbar vergeblichen Suche nach gefahndeten Mitgliedern, ließ ich Draco eilig hinter mir, ging, ohne mich zu verabschieden. Nicht, dass ich erwartet hatte, dass ich eine Antwort bekäme. Ich würde ohnehin nichts mehr aus ihm rausbekommen und zugleich war ich erleichtert, ihn nicht mehr sehen zu müssen, so viel Abstand wie nur irgendwie möglich zwischen uns zu bringen. Zum einen wäre ich ihm am liebsten an die Gurgel gegangen, hätte die Bedeutung seiner Worte aus ihm rausgeboxt und zum anderen fiel mir ein, dass ich mich nicht bei ihm bedankt hatte. Doch darüber konnte ich später nachdenken.

Denn nun galt es Wichtigeres zu erledigen. Dumbledore. Ich musste zu ihm und mit ihm sprechen. Er musste irgendetwas unternehmen, um Harry zu beschützen und ihn vor einem Schulverweis zu bewahren, oder davor, nochmals bei Umbridge nachsitzen musste. Irgendetwas.

Doch während ich durch die dunklen Gänge Hogwarts jagte, holten mich meine Gedanken abermals ein und eine einschneidende Angst überkam mich, die mir sämtliche Luft aus den Lungen presste. Sollte Draco tatsächlich etwas über mich wissen, dann wäre es nicht auszuschließen, dass es etwas mit den Todessern, womöglich sogar mit seinem Vater, Lucius Malfoy, zu tun hatte. Bereits vor wenigen Wochen hatte er mir gegenüber Andeutungen gemacht, dass er die Wahrheit über Broderick Bodes Tod wusste und nun das? Selbst wenn Draco etwas über mich und meine Vergangenheit wusste, konnte ich mir nicht vorstellen, dass der mysteriöse Unbekannte ein Todesser war. Dafür war er zu... zu hilfsbereit, zu nahbar, zu vertraut.

Schritte ertönten und ich sah fast schon erschrocken hoch. In jenem Augenblick bemerkte ich, dass ich stehen geblieben war, genau in jenem Gang, in dem sich der Wasserspeicher befand, der den Zutritt zu Dumbledores Büro freigab. Kingsley Shacklebolt. Er kam mir entgegengelaufen, als würde er nach jemandem suchen. Als sich unsere Blicke trafen, zwinkerte er mir zu. Verwundert sah ich ihm hinterher. Shacklebolt in Hogwarts? Was hatte das zu bedeuten? Es war lange her, seitdem ich ihn zuletzt im Orden gesehen hatte und mir war immerhin bekannt, dass er Auror war. Ein ziemlich guter noch dazu.

Mein Kopf schwankte wieder nach rechts zum Wasserspeier, der sich auf die Sekunde genau zur Seite schob und die Sicht auf eine völlig aufgelöste Umbridge und einen verärgerten Fudge mit Percy Weasley im Schlepptau freigaben.

„Haben Sie alles aufgeschrieben, Weasley?" brummte Fudge.

„Alles notiert." gab dieser mit unverkennbarem Stolz preis.

„Gut, das wird mir Dumbledore büßen." Fudge stapfte wütend den Flur entlang. „Wenn wir ihn finden, dann bringe ich ihn höchstpersönlich nach Askaban!"

Innerlich japste ich nach Luft, drehte jedoch sofort um und bog um die nächste Ecke, noch bevor sie mich entdeckten, was fast an einem Wunder grenzte. War Dumbledore etwa geflohen? Hatte mir Kingsley deswegen gerade eben zugezwinkert? Damit ich wusste, dass es keinen Grund gab, sich Sorgen zu machen?

Innerlich fluchte ich über diesen ganzen Tag.

Keine Stunde später hörte ich überall im Schloss Gemurmel, dass Dumbledore geflohen wäre und dabei die Verantwortung für die DA übernommen hätte. Die Nachricht verbreitete sich schneller als Lauffeuer. Obwohl es bereits nach 22 Uhr war und niemand mehr sein Haus verlassen durfte, trieben sich auf den Gängen Hogwarts jede Menge Schüler herum, die aufgeregt miteinander tuschelten. Keiner der Professoren unternahm etwas dagegen, nicht einmal Umbridge, die wohl gerade mit anderem beschäftigt war. Niemand bekam sie zu Gesicht.

Trotz des Durcheinanders gelang es mir Harry aufzufinden, dem es den Umständen entsprechend gut ging und noch in Hogswarts verweilte. Wir seilten uns etwas vom Rest ab, damit wir ungestört sprechen konnten.

„Was ist passiert? Wo ist Dumbledore?" fragte ich aufgeregt.

„Umbridge hatte uns. Sie wusste von der DA. Es war Marietta Edgecombe." Ein zorniger Ausdruck verfing sich in seinen Gesichtszügen „Sie hat uns verraten. Sie hat Umbridge alles erzählt." Er presste seine Lippen so fest aufeinander, sodass jegliche Farbe aus ihnen wich. Ich wollte nach seinem Arm greifen, als ich die Wut in seinem Gesicht sah, doch ich tat nichts dergleichen. Nach einem kurzen Moment verblasste sie und machten Platz für den Schock über all die Ereignisse in den letzten Stunden. Er stand ihm so klar ins Gesicht geschrieben, dass ich schluckten musste. Er erzählte weiter, dass Umbridge, Fudge, Percy Weasley und einige Auroren, darunter auch Shacklebolt, in Dumbledores Büro waren und der Schulleiter die gesamte Schuld für die DA auf sich genommen hatte. Immerhin hieß die Vereinigung auch „Dumbledores Armee". Daraufhin wollten sie ihn festnehmen und nach Askaban bringen lassen, doch Dumbledore konnte fliehen. Shacklebolt hatte zum Glück schnell gehandelt und Edgecombes Gedächtnis so verändert, dass sie nichts mehr von den geheimen Treffen und der DA wusste, deswegen konnte sie auch nicht mehr vor Fudge aussagen. Das bedeutete, dass Umbridge im Grunde keine Beweise besaß, dass Harry oder ich diese Gruppe geführt hatten. Und auch Draco hatte nichts zu befürchten. Wir alle konnten uns also vorerst in Sicherheit wiegen. Das hieß, solange niemand sonst ein Wort darüber verlor.

In jenem Moment stieg der Gedanke in mir hoch, dass es nur einen einzigen Weg gab, sich jemals in Sicherheit zu wiegen: Das Gedächtnis von jedem einzelnen DA-Mitglied zu löschen. Offensichtlich. Aber so unpraktikabel dieses ganze Unterfangen ohnehin war, hatte ich nunmehr wohl oder übel mit der Gewissheit zu leben, eines Tages womöglich doch noch aufzufliegen. Das hieß, solange es etwas, beziehungsweise jemanden zu fürchten galt und dabei handelte es sich einzig und allein um Umbridge in ihrer Position als Großinquisitorin. Doch wer sollte es wagen, zu reden? Wenn es nicht gerade Neville war, der naiverweise Veritaserum getarnt als Trank oder Getränk zu sich nahm, war es einzig Smith, der mir in den Sinn kam. Ich traute ihm kein Stück. Am liebsten hätte ich ihn in jenem Augenblick aufgesucht, um meinen Standpunkt klarzumachen, doch nach allem, was geschehen war, verwarf ich den Gedanken schneller, als er gekommen war.

Es gab keine Sicherheit. Das war eine Tatsache, die ich akzeptieren musste.

„Er ist weg, ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält und wann er wieder kommt." fuhr Harry fort, nur um kurz darauf eine erneute Pause zu machen, die Unbehagen in mir auslöste. Er fuhr sich durch sein schwarzes Haar. „Ob er wieder kommt."

Mein Atem ging flach. Ich konnte einfach nicht fassen, was geschehen war. Dumbledore war nicht mehr an Hogwarts. War es hier denn noch sicher?

Aber da war noch etwas Anderes, das ich nicht fühlen sollte. Ein Gefühl, das mich so schnell erklomm, dass ich es kaum aufhalten konnte. Eine Art Erleichterung, die ich nicht hatte kommen sehen. Denn es bedeutete auch, dass ich mit dem mysteriösen Unbekannten offener kommunizieren konnte, ohne befürchten zu müssen, dass Dumbledore uns entdecken würde. Denn, wenn es stimmte, was der Unbekannte sagte und mich Dumbledore tatsächlich daran hindern wollte, herauszufinden, wer ich war, dann... Dann bedeutete das, dass ich nun womöglich endlich mehr erfahren würde.

War das... War das egoistisch?

Einige Sekunden lang standen wir einfach da, jagten beide unseren eigenen Gedanken hinterher, bis ich mich leise räusperte.

„Harry?" setzte ich fast schon zögerlich an, als er weiterhin nichts sagte und obwohl ich seine Antwort bereits kannte. „Du weißt, dass ich Draco nicht geholfen habe, nicht wahr?"

Seine Brauen sprangen überrascht nach oben, bevor sich ein angedeutetes Lächeln auf seinen Lippen bildete. „Ich weiß." sagte er. „Nur deinetwegen konnten die anderen entkommen. Dobbys Nachricht hat uns in letzter Sekunde erreicht."

Ich faltete meine Hände vor mir ineinander, wusste nicht so recht, wohin damit. „Es war Glück, dass ich Dobby rechtzeitig gefunden habe."

„Dachtest du tatsächlich, ich würde nur eine Sekunde lang denken, du könntest gemeinsame Sache mit Malfoy machen?"

„Also, ich—"

Harry begann so breit zu grinsen, dass ich kurzzeitig irritiert innehielt, bevor ich einen weiteren Versuch wagte. „Aber er hat mir geholfen. Ich weiß nicht, weshalb, aber er hat es getan."

Er legte den Kopf schräg. „Ja, das hat er." sagte der Gryffindor und starrte nachdenklich an mir vorbei. „Du solltest vorsichtig sein. Ich weiß genauso wenig wie du, weshalb er es getan hat. Aber so wie ich Draco kenne, wird er womöglich einen Gefallen einfordern. Etwas, das uns in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte. "

Ich musste blinzeln. Daran hatte ich bis jetzt nicht gedacht, aber Harry hatte recht. Weshalb sollte mir Draco einfach so helfen?

„Du weißt, dass sein Vater ein Todesser ist. Du hast ihn immerhin selbst gesehen, nicht wahr? Damals, auf dem Friedhof mit Voldemort."

„Ja." flüsterte ich.

„Was auch immer er von dir möchte, pass auf dich auf, Alicia. Du kannst ihm nicht trauen."

Meine Muskeln verkrampften sich. „Ich weiß."

Harry nickte und sein Blick wurden wieder weicher. „Nur damit du es weißt. Ich hätte nie geglaubt, dass du ihm geholfen hättest, die DA auffliegen zu lassen." Um seine grünen Augen hatten sich leichte Lachfalten gebildet. „Danke." murmelte er mir entgegen, bevor er einen Schritt nach vorne auf mich zu machte. „Ich habe nie zu viel von dir erwartet, Alicia."

Mit geweiteten Augen fühlte ich den festen Druck seiner Umarmung, war im ersten Moment zu einem unbiegsamen Brett erstarrt, bis ich endlich meine Arme hob und sie erwiderte.

*****

Als ich am nächsten Morgen die Eingangshalle betrat, sollten sich meine Alpträume bewahrheiten. Ausbildungserlass Nr. 28 prangerte an der hohen Steinwand und ernannte Dolores Umbridge zur Schulleiterin.

„Die nächsten guten Nachrichten, herrlich." gluckste Daphne, warf die Hände energisch in die Höhe und ging allein weiter in die große Halle, irgendetwas vor sich hinmurmelnd.

„Wir sollten ihr wirklich einen Schlaftrank besorgen, damit sie wieder ein Auge zumacht." sagte Adrian, der Daphne mit hochgezogenen Augenbrauen hinterherstarrte, die noch immer wild in der Luft gestikulierte.

„Langsam mache ich mir auch Sorgen." Ich verschränkte meine Arme vor meiner Brust und stieß gedehnt de Luft durch die Nase aus. „Aber wo sie recht hat, hat sie recht. Das sind wirklich herrliche Nachrichten."

„Nachdem Dumbledore nicht mehr hier ist, war das absehbar." meinte Adrian und trat einen Schritt nach vorne, versperrte mir mit seinem Körper die Sicht auf Daphne. Mein Blick sprang hoch zu ihm. Seine grünen Augen musterten mich eindringlich. „Was war das gestern zwischen Malfoy und dir? Möchtest du darüber reden?"

Der Griff um meine Oberarme wurde stärker, als ich tief einatmete, nur um kurz darauf den Kopf zu schütteln. „Es war nichts."

„Nach nichts sah es aber nicht aus."

Ich hatte das Bedürfnis an ihm vorbeizulaufen, nur um ihn nicht ansehen zu müssen und noch mehr, um ihn nicht belügen müssen. Die Erinnerungen an gestern waren noch so frisch, dass sich jedes Mal ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend ausbreitete, wann immer ich daran dachte. So wie jetzt.

„Malfoy ist nunmal... Malfoy." Ich zuckte mit den Schultern. „Und er bringt mich zur Weißglut."

Adrian begann zu grinsen. „Danach sah es viel eher aus."

„Ich verstehe ihn einfach nicht und ich bin mir auch nicht so sicher, ob ich ihn verstehen möchte."

Er legte seinen Kopf leicht schräg. „Er hat dir seinen Schnatz geschenkt. Man sollte meinen, du bedeutest ihm etwas."

Bevor ich es verhindern konnte, prustete ich krampfhaft los, was Adrians Augenbrauen fast hinter seinem Haaransatz verschwinden ließ.

Als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, schüttelte ich den Kopf. „Bestimmt nicht. Du hast es gestern selbst gesehen."

Adrian sagte nichts, doch bei dem Gedanken an Dracos Blick, als er gestern Adrian mit dem Schnatz gesehen hatte, musste ich unwillkürlich schnauben. Hatte er gedacht, dass ich ihn weggegeben hatte? Denn in diesem Moment überkam mich das starke Bedürfnis ihm den Schnatz gegen seinen weißblonden Kopf zu werfen, um ihm vom Gegenteil zu überzeugen.

„Hatte der Grund für eure Auseinandersetzung damit zu tun, weshalb du gestern so eilig aufgebrochen bist?" fuhr er fort.

„Ja und nein." brummte ich. „Ich bin ihm hinterher und dann sind wir aneinandergeraten. Es war eine Auseinandersetzung, mehr nicht."

Adrian beobachtete mich und ich wusste, dass er mir nicht glaubte. „Du weißt, dass du mit uns über alles reden kannst, nicht wahr? Selbst mit Daphne." sagte er und deutete mit seinem Daumen über seine Schulter. „Sobald sie wieder normal atmet, spricht und schläft."

Meine Mundwinkel zuckten in die Höhe. „Das wird wohl noch nicht vor den Sommerferien geschehen." erwiderte ich und nickte dann. „Das weiß ich, Adrian. Danke." Ich warf mein Haar über die Schulter. „Platinblondie und ich können uns einfach nicht ausstehen."

„Platinblondie." murmelte Adrian amüsiert, als wir uns beide in Bewegung setzten in Richtung der großen Halle, um zu frühstücken. „Sicher?" Doch ich nahm seine Worte kaum wahr und antwortete auch nicht. Meine Gedanken befanden sich bereits bei dem schwarzen Buch in meinem Nachtkästchen und ich spürte, wie sich meine Muskeln versteiften. Obwohl Daphne und Adrian zu meinen engsten Freunden gehörten, gab es Dinge, über die ich nicht mit ihnen reden konnte. Der mysteriöse Unbekannte war eines davon. Das zwischen ihm und mir war etwas Persönliches. Etwas, das nur uns etwas anging und niemanden sonst.

Zu Mittag traf ich Fred und George in der Eingangshalle an, die meine milde Begeisterung teilten.

„Sie hat es also tatsächlich geschafft, sie kontrolliert jetzt ganz Hogwarts." gab ich missmutig kund.

„Nicht, solange wir hier auf diese Schule gehen, kleines Hexchen." sagte George und ein Grinsen schlich sich synchron auf die Lippen der Zwillinge.

„Ihr plant doch etwas, nicht wahr?" Meine rechte Braue wanderte in die Höhe.

„Waren wir denn jemals schon mal planlos?"

Diese Frage bedurfte keine Antwort.

„Na siehst du, kleines Hexchen. Erwarte demnächst Großes." – „Die Osterferien beginnen in wenigen Tagen, es bleibt also genug Zeit, um Umbridge zu zeigen, wie ihre Beliebtheitswerte ausgefallen sind."

Ich fuhr instinktiv über die feinen Narben auf meinem Handrücken. „Ihr solltet auf euch aufpassen, mit ihr ist nicht zu spaßen. Wenn sie euch erwischt, dann---"

„Dann bekommen wir einen Schulverweis, bla bla bla. Das wissen wir." vollendete George meinen Satz. „Um ehrlich zu sein, kümmert uns das nicht."

Meine Brust hob sich schwerfällig an. Ich ahnte, worauf sie hinauswollten. „Was soll das heißen?"

„Je weniger du weißt, umso besser." meinte Fred und ich beäugte die beiden misstrauisch, bevor ich den Mund verzog, wohlwissend, dass sie ohnehin nicht – bei was auch immer – umzustimmen wären.

„Du hast bestimmt schon von dem Inquisitionskommando gehört, nicht wahr?" frage George, noch bevor ich das Thema wechseln konnte.

„Ja." brummte ich. Dabei handelte es sich um eine durch Umbridge gegründete Gruppe aus Schülern, die den anderen uneingeschränkt Hauspunkte abziehen durfte. Natürlich gehörte ihnen auch Draco an.

„Soweit wir wissen, besteht das Inquisitionskommando nur aus Slytherins. Vorhin haben wir Montague nur knapp daran hindern können, uns Hauspunkte abzuziehen." – „Deswegen haben wir ihn ins Verschwindekabinett gesteckt." Beide grinsten mir entgegen und hoben die Hand, damit ich mit ihnen abklatschte. Doch das tat ich nicht. Stattdessen weitete sich meine Augen.

„Was?" presste ich erstickt hervor. „Wo ist Montague jetzt?"

„Keine Ahnung, weg jedenfalls." Die beiden ließen ihre Hände langsam sinken, wechselten einen kurzen Blick, bevor Fred mit den Schultern zuckte. „Wird schon wieder auftauchen."

Verdammt. Wenn Daphne davon erfuhr, dann... „Seid ihr euch sicher?"

„Nein." summte George. „Aber wir sind guter Dinge. So ein Kabinett hat ja nur zwei Ausgänge, nicht wahr?"

Ich sog scharf die Luft ein. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gefühl bei der Sache.

„Könnt ihr ihn nicht wieder zurückholen? Ich glaube, er hat seine Lektion gelernt."

George zog eine überraschte Schnute und sah dann zu Fred, der bloß den Kopf schüttelte. „Wir haben ehrlich gesagt keine Ahnung, wie das geht."

Das mulmige Gefühl wollte auch für den restlichen Tag nicht von mir abfallen und ich überlegte, ob ich mich selbst auf die Suche nach Montague begeben sollte, weshalb ich zwischen den Unterrichtsstunden kurzzeitig das Verschwindekabinett aufsuchte. Es sah beschädigt aus, so als wäre es vor einiger Zeit umgestürzt. Als ich die Türen öffnete, war da jedoch nichts. Kein Montague, bloß das Innere eines Schranks, das eine seltsame Tiefe barg, so als würde es kein Ende nehmen, obgleich ich die Hinterwand sehen konnte.

„Hallo?" rief ich hinein und kam mir in diesem Augenblick merkwürdig vor, in das Innere eines Kabinetts zu sprechen. Für einen kurzen Augenblick überlegte ich meine Hand hineinzustrecken, hatte jedoch Bedenken aufgrund der Beschädigungen und auch deshalb, weil ich im Grunde nichts von Verschwindekabinetten wusste. Als sich nichts rührte, schloss ich die Schranktüren wieder und machte mich auf den Weg zu Verwandlung. Nicht jedoch, ohne ein letztes Mal einen Blick darauf zu werfen, in der stillen Hoffnung, dass Montague daraus steigen konnte. Nicht nur, dass wir Quidditch ohne Montague vergessen konnten, sondern ich fragte mich auch, ob ihm tatsächlich nichts zugstoßen war. Wenn Daphne davon erfahren würde, wäre das in ihrem jetzigen Zustand ihr endgültiges Ende.

Während man nach wie vor an jeder Ecke des Schlosses Getuschel über Dumbledores Flucht vernahm und ich mein Bestes gab, nicht hinzuhören, konnte ich noch am selben Nachmittag feststellen, dass die Zwillinge nicht nur leere Worte gesprochen und vor allem nicht zu wenig versprochen hatten.

Das gesamte Schloss versank im freudigen Chaos. Dutzende Feuerwerkskörper der Weasleys stiegen in die Höhe und explodierten. Feuerräder, Funkendrachen und Wunderkerzen die Schimpfwörter in die Luft schrieben, wohin das Auge reichte. Mit klopfendem Herzen beobachtete ich das Spektakel. Die Gänge erstrahlten in bunten Farben und Formen. Rot, grün, blau, gelb, lila. Alles war dabei. Das Schloss war binnen weniger Minuten Rauch verhangen, als immer wieder weitere Feuerwerkskörper mit einem Zischen über unseren Köpfen explodierte. Es erinnerte mich ein klein wenig an die Feuerwerkskörperchen, die Adrian für meinen Geburtstag besorgt hatte, mit denen wir ein Stoffwappen Hogwarts in Brand gesetzt hatten. Ich beobachtete Umbridge, die aus ihrem Büro gestürmt kam und versuchte, die Feuerwerkskörper zu stoppen. Doch mit jedem angewandten Zauber schien sie alles nur noch weiter zu verschlimmern. So teilte sich plötzlich ein riesiger Funkendrache und aus einem wurden zwei. So ging es den gesamten Nachmittag. Umbridge lief auf und ab, die Haare standen ihr zu Bergen, doch der Funkenregen hielt an.

Ihr erster Schultag als Schulleiterin wurde somit entsprechend gefeiert und auch die Weasley Zwillinge kamen mit der ganzen Aktion damit davon.

Beim Abendessen suchte ich am Slytherintisch nach Montague, konnte ihn aber nirgends entdecken. Daphne erwähnte weder ihn noch seine Abwesenheit, weshalb ich meine Gedanken für mich behielt beziehungsweise viel eher, was ich heute erfahren hatte. Noch war ich guter Dinge, dass er wieder auftauchen würde, ohne dass sie von mir erfahren musste, was geschehen war. Im Allgemeinen sprach sie kaum über ihn oder ihre Beziehung, doch regelmäßig konnte man an ihrer Stimmung ablesen, wie gut es lief oder eben nicht. Vor allem aber wollte ich sie nicht beunruhigen, sie war ohnehin bereits von der Rolle. Beim heutigen Frühstück hatte sie ihre Marmeladesemmel in Kürbissaft getaucht und Adrian hatte bloß seinen Kopf geschüttelt.

Spät abends zog ich mich inmitten von dutzenden Büchern in einer dunklen Ecke des Gemeinschaftsraums zurück. Darunter auch der schwarze Einband meines Buches. Jetzt, wo Dumbledore nicht mehr da war, fühlte ich mich sicherer, es auch außerhalb meines Schlafsaals zu verwenden. Doch ich musste auch weiterhin vorsichtig sein. Es lag gleich neben einem Buch mit dem Titel „Partielles Verschwinden", das ich mir aus der Schulbibliothek besorgt hatte. Er war es gewesen, der mir diesen Tipp gegeben hatte. Der mysteriöse Unbekannte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass wir für die ZAG Prüfungen in Verwandlung auch Verschwindezauber auf Gegenstände oder Lebewesen anwenden mussten, die bloß Teile, nicht aber alles davon verschwinden ließen. Es hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen.

Mein Blick glitt zu dem schwarzen Buch, nahm es an mich, während ich den Gemeinschaftsraum inspizierte. Alles lag still. Nur wenige Schüler waren noch hier und die, die es waren, waren mit anderem beschäftigt und schenkten mir keinerlei Beachtung.

Ich nahm meine Feder an mich, öffnete den kühlen Einband und schrieb auf die leeren Zeilen.

Dumbledore ist nicht mehr hier.

Meine Augen wanderten über den kurzen Satz, bevor ich es zuklappte und wieder unauffällig neben all die anderen Bücher legte. Im Gemeinschaftsraum war es angenehm kühl. Die Lampen tauchten den Raum in ein angenehmes Grün und als ich den Kopf hob, sah ich durch das große gläserne Fenster, das sich wie eine Wand an einer Seite erstreckte und den Blick in die Tiefen des großen Sees freigab. Einige, wenige Fisch schwammen vorbei. Kleine Bläschen stiegen an die Oberfläche. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, nahm das Buch über die Verschwindezauber und blätterte darin herum, um ihre Anwendung und Wirkungsweise nachzuschlagen und eine zusammengefasste Abschrift davon anzufertigen, die ich später auch Daphne geben wollte. Minute um Minute verging und ich bemerkte, wie das gebrochene Licht, das durch das große Unterwasserfenster fiel, immer weniger wurde. Von Zeit zu Zeit betastete ich unauffällig den schwarzen Einband, bis ich schließlich fühlte, wie die Wärme auf meine Fingerspitzen überging. Eine neue Nachricht.

Mittlerweile befanden sich außer mir nur mehr zwei andere Slytherins im Gemeinschaftsraum, die im sechsten Jahrgang waren. Sie spielten konzentriert Zauberschach gegeneinander.

Ich weiß.
Geht es dir gut?

Ich fragte mich, ob er von jemand Bestimmten die Nachricht über Dumbledores Flucht erhalten hatte, oder ob sie ohnehin bereits bekannt war. Ich war mir sicher, dass der Tagesprophet diese Neuigkeiten so schnell wie möglich abdrucken würde. Vermutlich hatte er es bereits getan.

Ja, mir geht es gut.

Während ich die Zeilen schrieb, sprang mein Blick nochmals hoch, um sicherzustellen, dass ich nicht beobachtet wurde.

Können wir uns nun sehen?

Seine Antwort kam nur wenige Sekunden später.

So einfach ist es nicht. Auch jetzt, wo er nicht mehr da ist.
Bewahre das Buch sorgfältig auf. Behalt es nahe.
Ich werde einen Weg finden. Ich verspreche es.

Er versprach es. Wollte er mich genauso sehr sehen, wie ich ihn? Obwohl sein Gesicht selbst in meinen Vorstellungen nie erkennbar war, wann immer ich an ihn und seine Worte dachte, fühlte er sich sogar in meinen Vorstellungen vertraut an.

Ich atmete tief ein, umfasste das Buch etwas stärker. Langsam hob sich mein Kopf an und ich blickte vorbei an den beiden Zauberschach spielenden Slytherins.

Wiedersehen... das konnte nur bedeuten, dass wir uns bereits begegnet waren. Wer war er? In wessen Gesicht würde ich blicken?

Freund oder Feind?

Konnte ich ihm tatsächlich vertrauen? Mein Blick sprang zurück zu „Partielles Verschwinden", das ich in der Mitte aufgeschlagen hatte. Er half mir ständig, warum sollte er das tun, wenn er schlechte Absichten hatte? Warum sollte er mir im Allgemeinen sonst helfen? Meine Zauberkräfte mochten zwar ausgeprägt sein, aber es war nicht so, als könnte ich sie gut genug beherrschen, um wirklich etwas auszurichten. In Wahrheit war ich immer noch eine tickende Zeitbombe. Nichts, was jemand um sich haben wollte, sollte er davon wissen.

Es gab nur einen Weg es herauszufinden: Indem ich zumindest versuchte, ihm zu vertrauen. Doch ich fragte mich unweigerlich, welches Risiko ich damit einging. Welche Entscheidung ich damit fällte.

Sie könnte beides bedeuten: Erfüllung oder Verderben. Im Grunde blieb mir keine Wahl, wenn ich die Wahrheit herausfinden wollte, so wie Poliakoff es mir einst sagtet. Die Wahrheit über mich, über meine Vergangenheit. Dem war ich mir sicher.

Das werde ich. Ich werde es bei mir behalten.

Meine Feder verharrte in der Luft, ließ einige Sekunden verklingen, bevor ich auf einer anderen Zeile ansetzte.

Weißt du etwas über Verschwindekabinette?

Seine Antwort kam auch dieses Mal nur wenige Sekunden später.

Was möchtest du wissen?

Mein Blick wanderte in Richtung der zwei Slytherins. Einer hob triumphierend die Faust in die Luft. Offensichtlich hatte er das Spiel zu seinen Gunsten entschieden.

Kann ein beschädigtes Verschwindekabinett noch sicher verwendet werden?

Die zwei Slytherins erhoben sich und als ich hochsah, sah ich, wie sich ihre Blicke auf mich gelegt hatten. Beinahe wäre ich erschrocken zusammengezuckt. Sie nickten mir kurzzeitig wie bei einer Verabschiedung zu und ich tat ihnen gleich, ehe sie im Jungenschlafsaal verschwanden. Ich musste aufhören, mich zu benehmen, als würde ich etwas Geheimes tun... auch wenn ich das gerade tat.

Ein beschädigtes Verschwindekabinett kann sehr gefährlich sein. Benutze es unter gar keinen Umständen.

Seine Worte waren an manchen Stellen leicht verwischt, als hätte er sie eilig niedergeschrieben. Einen Moment lang starrte ich auf die verwischte schwarze Tinte, überlegte, wie viel ich tatsächlich preisgeben sollte. Ob es ihn überhaupt kümmerte, oder er mich abweisen würde. Doch ich musste versuchen ihm zu vertrauen.

Das werde ich nicht, aber jemand den ich kenne, wurde in ein beschädigtes Verschwindekabinett gezwungen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Gibt es eine Chance, dass er wieder auftaucht?

Als seine Schrift nur kurze Zeit darauf wieder erschien, sah sie so ordentlich aus wie immer.

Das ist nicht gewiss. Er könnte am Weg zwischen den Kabinetten gefangen sein. Wer weiß, an welchem Ort sich das andere Kabinett befindet. Sollte er im Kabinett selbst nicht sichtbar sein, gibt es nichts, was du für ihn tun kannst. Wo auch immer er sich jetzt befindet, er ist auf sich allein gestellt.

Es tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten, geschweige denn eine Lösung hierfür habe. Ich hoffe, er findet einen Weg.

Meine Finger umklammerten fest den schwarzen Einband. Verdammt. Was hatten Fred und George bloß angerichtet? Aber es war nicht ausgeschlossen, dass Montague es von allein rausschaffte. Er hatte eine Chance. Bei dem Gedanken daran, dass er nicht die hellste Birne war, schrumpfte diese Hoffnung allerdings. Sollte ich Daphne davon erzählen?

Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erschien eine weitere Nachricht, die sich erneut durch die fließende, angenehme Wärme aus dem Buch bemerkbar machte.

Bring dich nicht Gefahr.

Bitte.

Ein leichtes Lächeln erschien auf meinen Lippen.

Das werde ich nicht. Danke für alles.

Eilig ließ ich das Buch in einer inneren Tasche meines Umhangs in der Nähe meiner Brust gleiten, wo ich jederzeit fühlen konnte, wann mich eine Nachricht erreichte.

Ich würde bereit sein... Und ich würde diesen Unbekannten treffen. 

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