Kapitel 70 - Who am I?
„Mum? Bist du wirklich nicht enttäuscht von mir?"
Meine Mutter hielt inne, drehte sich mit der Teekanne in der Hand in meine Richtung, einen fragenden Blick tragend. „Weshalb sollte ich von dir enttäuscht sein?"
„Naja, wegen Weihnachten."
Ihre Gesichtszüge hellten sich auf, als sie verstand, und ein warmes Lächeln formte sich auf ihren Lippen. Sie lehnte sich gegen die Küchentheke und betrachtete mich einem amüsierten Blick.
„Alicia..." begann sie. „Wie könnte ich deshalb von dir enttäuscht sein? Natürlich waren dein Vater und ich traurig darüber, dass wir nicht gemeinsam feiern konnten, das hatten wir uns alle sehr gewünscht. Aber wir wissen, dass es gute Gründe dafür gab." Sie kam auf mich zu und strich mir über die Wange. „Gründe, die niemand von uns ändern konnte. Wir alle haben unsere gemeinsame Zeit hier sehr genossen. Und weißt du was? Nächstes Jahr werden wir Weihnachten bestimmt gemeinsam verbringen können." Sie nahm die Teetassen von der Theke und platzierte sie auf dem Tisch, schenkte uns beiden etwas von dem Kamillentee ein.
Mein Mund öffnete sich, doch anstatt Worten war es ein Nicken, das folgte. Gute Gründe... da war ich mir nicht so sicher. Doch sie hatte recht. Nächstes Jahr würden wir gemeinsam feiern, egal was Dumbledore auch sagen mochte. Egal, wer---
„Alles in Ordnung?"
Der Blick meiner Mutter wanderte zu meinen Händen. Das Geräusch meiner klappernden Teetasse war zu hören. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. Ich konnte es nicht stoppen. Eilig stellte ich die Tasse ab und presste meine Hände gegen meinen Schoß.
„Nichts." murmelte ich. „Ich würde nur gerne etwas länger bei euch bleiben."
Die Wahrheit war, dass nichts in Ordnung war. Igor Karkaroff war erst vor wenigen Tagen bei uns eingedrungen. Meine Eltern ahnten ja nicht, dass sie womöglich bloß knapp dem Tode oder schlimmerem entgangen waren. Sie waren alles für mich, ein Leben ohne die beiden konnte und wollte ich mir nichts ausmalen. Sie waren immer für mich da, ganz gleich in welcher Hinsicht. Ich vertraute ihnen mehr, als ich mir selbst traute. Und ich würde sie beschützen. Immer. Und mit allem, was ich hatte.
Wenngleich mein Vater Geheimnisse hatte, die ihn quälten und mit mir im Zusammenhang standen. Wenngleich ich wusste, dass mir die Wahrheit womöglich nicht gefallen würde.
„Sicher? Du siehst etwas blass aus." Besorgt wanderte ihr Blick über meine Wangen und meine Stirn.
Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich meine Augen, um meine Mutter nicht ansehen zu müssen. Ich konnte ihnen nicht die Stimmung verderben. Sie hatten sich so sehr über unsere gemeinsame Zeit gefreut. Und nach allem... es war doch nichts geschehen, nicht wahr? Karkaroff war weitergezogen, in dieses Haus weit weg, wo er auch bleiben würde, solange man ihn nicht störte und ich ihm diesen einen Gefallen tat, was auch immer dieser bedeuten würde. Doch ich würde es herausfinden, so viel war gewiss.
Aber was, wenn er zurückkommen würde, zu einem Zeitpunkt, an dem ich nicht bei ihnen war?
„Alicia?"
Ein Lächeln zwang sich auf meine Lippen, eines, das dort eigentlich nichts zu suchen hatte.
„Es ist nichts, Mum." sagte ich, während mein Brustkorb leicht bebte, als ich einen tiefen Atemzug nahm.
Die Schritte meines Vaters waren hinter mir zu vernehmen und wenig später ließ er sich bei uns am Küchentisch nieder. Er wirkte durchgefroren.
„Der Schneefall nimmt kein Ende. Ich musste heute schon zum zweiten Mal unsere Ausfahrt ausschaufeln, ansonsten sitzen wir hier morgen fest." meinte er, rieb sich dabei die Hände. Sein Blick blieb an mir hängen „Und, Alicia? Wir dürfen wirklich nicht wissen, wo du gewesen bist? Immerhin sind wir deine Eltern."
Meine Mundwinkel hoben sich schwerfällig an. „Dumbledore sagt, dass das eine Top-Secret Sache wäre."
Er schürzte die Lippen „Ich weiß was Dumbledore gesagt hat. Aber was sagst du?"
„Du willst mich doch nur dazu bringen, endlich mit der Sprache rauszurücken." meinte ich. „Weißt du, was ich sage? Dass Dumbledore Recht hat."
Zumindest bei dieser Sache...
Wenn meine Eltern wüssten, was vor sich ginge, würden sie sich zutiefst Sorgen machen und mir womöglich verbieten, zurück nach Hogwarts zu kehren.
Ein tiefes Lachen ertönte. „Diese Sturheit könntest du von mir haben." Er fuhr sich durch sein glatt gedrücktes Haar. „Verschwiegenheit ist eine gute Eigenschaft. Ich hoffe, Dumbledore weiß, dass er dir vertrauen kann."
Meine Mundwinkel versagten, meine Lider senkten sich, während ich auf meine zitternden Hände in meinem Schoß starrte. Es war, als hätte jemand in mir den Lichtschalter ausgeknipst, als mich all diese negativen Gedanken wie ein Tsunami überschwemmten: Weder konnte ich diese Sturheit von ihm haben, noch war ich verschwiegen und erst recht vertraute mir Dumbledore nicht. Ein eisernes Gefühl erklomm meine Brust, als meine Gedanken erneut zu Karkaroff wanderten. Wie nahe er uns doch gewesen war. Und wenn es wirklich stimmte, was der mysteriöse Unbekannte behauptete und er mich beschützte... weshalb war es Karkaroff dann gelungen hier einzubrechen und mir und meinen Eltern mit dem Leben zu drohen? Waren das nichts als leere Versprechen gewesen? Und Dumbledore... hatte er nicht dafür gesorgt, dass ich sicher war? War es ihm und den Mitgliedern des Ordens egal, ob meiner Familie etwas geschah?
Zumindest wusste Poliakoff Bescheid. Jemand, dem ich tatsächlich vertraute. Jemand, der wusste, was zu tun war. Ich hatte ihm nicht gesagt, wo sich Karkaroff aufhielt, aus Furcht, er könnte entkommen und meinen Eltern tatsächlich etwas antun. Doch zumindest wusste er, dass er hier gewesen war und jederzeit zurückkehren konnte. Der ehemalige Durmstrang hatte mir nicht geantwortet, doch ich glaubte, gestern Abend jemanden in unserem Vorgarten gesehen zu haben. Die Gestalt war in einen Pelzmantel gehüllt gewesen und hatte direkt zu mir hoch ans Fenster geblickt. Obwohl sein Gesicht im Schatten der Kapuze gelegen war, hatte ich doch erkennen können, dass er mir zugenickt hatte. Und ich wusste nicht weshalb, doch mein Gefühl sagte mir, dass er es gewesen war. Er würde auf die beiden aufpassen, dem war ich mir sicher.
„Warum ziehst du so ein betrübtes Gesicht?" Mein Vater schmunzelte. „Lächle doch etwas mehr."
„Tu ich doch gar nicht! Ich lächle doch die ganze Zeit!" antwortete ich pampig, stand auf und stapfte an ihm vorbei hinaus aus der Küche, hoch in mein Zimmer, die volle Teetasse am Küchentisch zurücklassend.
„Was hat sie denn?" hörte ich meinen Vater noch an meine Mutter gewandt murmeln, ehe ich außer Hörweite war.
Wütend auf alles, auf die Welt, auf mich, auf Karkaroff und Dumbledore, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und starrte auf das inzwischen leere Blatt Papier, überlegte fieberhaft, ob ich Kontakt mit dem Unbekannten aufnehmen sollte. Minute um Minute verging. Seit unserem letzten Nachrichtenaustausch waren einige wenige Tage vergangen. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen mit meinen Eltern Ausflüge in London zu unternehmen, eislaufen zu gehen oder in aller Ruhe draußen Schneemänner zu bauen. Inzwischen waren es drei. Eine kleine Familie sozusagen, wobei sie mittlerweile schon zu gut einem Drittel im Schneefall versunken waren.
Es ist gut zu wissen, dass es dir gut geht, dass du wohlauf bist.
Das war seine letzte Nachricht gewesen. Seufzend strich ich mir mein Haar aus dem Gesicht, lehnte mich zurück. Ich hatte ihm nicht geschrieben, dass Karkaroff hier gewesen war. Dass er mir mit dem Leben gedroht hatte. Ich wusste nicht, wie sehr ich ihm vertrauen konnte. Immerhin kannte ich ihn nicht, hatte diesen Jemand noch nie getroffen, noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Offensichtlich sorgte er sich um mich und etwas an diesen geschriebenen Zeilen ließ mich unausweichlich ein Gefühl der Nähe und Zuneigung verspüren, ohne dagegen ankämpfen zu können. Ich wollte auch nicht. Doch solange ich nicht wusste, wer er war, wusste ich nicht, wie viel ich wirklich preisgeben konnte. Vielleicht war es an der Zeit mehr Antworten zu verlangen. Und herauszufinden, ob er sich wirklich um mich kümmerte.
Ich lehnte mich weit über das zerknitterte Blatt Papier, starrte es an, bis die zarten Trennlinien mit dem Weiß verschmolzen. Dann nahm ich den nächstgelegenen Stift und schrieb eine einzige Frage auf, die mich seit dem Abend, an dem Karkaroff bei uns eingedrungen war, so vehement beschäftigte.
Kennst du meinen Vater?
Nervös ließ ich den Stift beiseite rollen. Es war geschehen, es gab kein Zurück mehr. Die Nachricht war geschrieben und nun musste ich nicht weiter tun, als zu war---
Die Nachricht verblasste. Er hatte sie bereits gelesen. Kurzzeitig vergaß ich zu atmen. Alles um mich herum verschwamm zu einem Strudel und mein Herz hämmerte plötzlich wie wild gegen meinen Brustkorb, während Adrenalin durch meine Adern jagte.
Ein einziges Wort erschien.
Ja.
Meine Hände begannen von neuem unkontrolliert zu zittern.
„Alicia?" Die Stimme meines Vaters drang dumpf an meine Ohren, mein Kopf drehte sich langsam in Richtung Türe, die ich einen Spalt breit geöffnet ließ.
Obwohl diese Worte des Unbekannten so unendlich viele Fragen aufwarfen, war es nur ein einziger Satz, den es zu beantworten galt.
Meinen Adoptiv- oder meinen leiblichen Vater?
Doch umso erschreckender war es, dass es nur ein Wort benötigte, um mich völlig aus der Fassung zu bringen.
Beide.
Vom Erdgeschoss ertönte nochmals die Stimme meines Vaters.
„Alicia? Alles in Ordnung?"
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den inzwischen zerknitterten Zettel. Das war mehr, als ich mir erwartet hatte. Das war mehr, als ich mir jemals ausgemalt hatte, durch diese Frage zu erfahren. Eine Antwort, endlich. Aber... War das möglich?
Bedeutete das, dass mein Adoptivvater tatsächlich an jenem Abend von mir gesprochen hatte?
Mein Blick wanderte erneut zu meiner Türe, blickte durch den geöffneten Spalt, minutenlang, ohne zu antworten.
*****
Zweimal klopfte ich mit meinen Fingerknöcheln gegen die schwere Holztüre. Das Geräusch meiner eigenen dumpfen Schläge verschaffte mir eine unangenehme Gänsehaut. Ich wusste, was nun folgen würde. Doch ich war mir nicht so sicher, ob ich es herausfinden wollte. Ein Stück Wahrheit. Eine jener Sorte, die mehr Schmerz als Gewissheit brachte. Eine, die mein aufgebautes Kartenhaus in Sekundenschnelle zum Einsturz bringen konnte. Mehr Antworten, als mir lieb war. Es würde wehtun, das wusste ich bereits jetzt. Denn diese eine Antwort des Unbekannten, sofern sie wahr war, setzte zweierlei Voraus: Mein Adoptivvater hatte mich belogen. Jahrelang. Und das, was er sich nicht verzeihen konnte, musste mich betreffen.
„Ja?" vernahm ich die Stimme meines Vaters. Sachte öffnete ich die Türe und steckte meinen Kopf in sein Büro.
„Hast du---" Ich stockte kurzzeitig, als ich ihn an seinem Schreibtisch sah, räusperte mich. „Hast du einen Moment Zeit?"
Wie immer lagen Berge von Papierstapeln übereinandergeschichtet, obwohl hier dennoch eine verblüffende Ordnung herrschte.
„Natürlich, worum geht es denn?" sagte er und drehte sich in seinem Schreibtischstuhl in meine Richtung. Als sich unsere Blicke trafen, fühlte ich ein beklemmendes Gefühl von Verrat auf meiner Brust lasten. Es drückte mir kurzzeitig jegliche Luft ab.
Abwarten. Vielleicht gibt es für all das hier eine plausible Erklärung.
Ein kurzer Augenblick der Stille zog an uns vorüber, bis mein Vater verwundert eine Braue hochzog. „Alicia?"
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich bereit dafür war. Doch war man jemals bereit für derartiges? Ich konnte nicht noch länger warten, schon in Kürze würde ich zurück nach Hogwarts kehren und ich musste es wissen.
Ich trat nun vollends ein, schloss hinter mir die Türe, lehnte mich schwermütig dagegen.
Einen tiefen Atemzug nehmend, sprach ich es einfach aus. Ohne um den heißen Brei herumzureden. „Seit wann weißt du, dass ich magische Fähigkeiten besitze?"
Mein Vater erstarrte, sein Bürostuhl gab ein leises Quietschen von sich. „Was?" flüsterte er, doch ich konnte an dem Klang seiner Stimme erkennen, dass er wusste, worauf ich hinauswollte. Dass er wusste, dass ich es wusste. Und dass ihn diese Frage nicht so stark verwunderte, wie sie es eigentlich tun sollte.
Vehement starrte ich auf den Teppich, der den Großteil des Bodens bedeckte, wehrte mich dagegen ihn anzusehen. Ich konnte nicht. Was würde ich in seinen Augen erblicken? Scham? Furcht? Oder nichts davon?
„Seit wann weißt du es? Hast du es schon immer gewusst?" fuhr ich fort. Mein Herz hämmerte wild gegen meinen Brustkorb, während ich meine Arme hinter meinem Rücken verschränkte, den Kopf weiter senkte, sodass mir meine blonden Haarsträhnen ins Gesicht hingen.
Er sagte nichts. Aus dem Augenwinkel konnte ich noch nicht einmal eine winzige Regung ausmachen. Auch kein Quietschen.
„Diese Besuche bei meiner angeblichen Tante Margret gab es gar nie. Es war jemand anderes, zu dem ihr mich gebracht habt, nicht wahr?" fuhr ich fort. „Du und Mum, ihr habt die ganze Zeit gewusst, dass ich eine Hexe bin. Ihr habt das alles nur vorgetäuscht. Damals, als ihr mir von ihrem vermeintlichen Tod berichtet habt, das war alles nur gespielt."
„Deine Mutter weiß von nichts." sagte er abrupt. Seine Stimme zerriss förmlich die Luft in zwei. „Sie denkt, dass Margret existiert und ebenso wenig wusste sie, dass du... anders bist als wir"
„Also--- Also warst du es?" Ich sah erschüttert hoch. Sein Blick traf auf meinen und meine Augen begannen durch das Licht seiner Schreibtischlampe hinter seinem Kopf augenblicklich zu tränen. Seine Schultern bewegten sich bei jedem Atemzug. All das ergab keinen Sinn und dann wieder doch. „Was hast du getan? Warum weiß sie nichts davon? Wie kann sie jemanden kennen, der gar nicht existiert?" Meine Stimme überschlug sich förmlich, war von Silbe zu Silbe lauter geworden, sodass ich bei der letzten bereits eine empfindliche Lautstärke erreicht hatte.
Er hielt Inne. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, den ich nicht zu deuten vermochte. „Ich kann es dir nicht erklären, Alicia." Er sah zur Seite, seine Hand hatte sich zu einer Faust geballt.
Seine Worte vernehmend, spannte sich meine Kiefermuskulatur unweigerlich an. Etwas flammte in mir auf. Wie oft hatte ich diese Worte bereits vernommen? Wie oft hatte man mich damit bereits abspeisen wollen, indem man mir sagte, man könne mir gewisse Dinge nicht erklären? Kürzlich erst Sirius, Lupin und Dumbledore. Ich ertrug das alles nicht mehr. Ich war alt genug, um es zu wissen. Ich war es wert, zu wissen, was hier los war. Das hier war mein Leben. All das hier, betraf nicht nur die anderen, sondern mich.
„Nein!." begann ich plötzlich zu schreien, anstatt zu sprechen. „Du erklärst es mir! Jetzt!"
Er sah mich nicht an, schüttelte den Kopf. „Es geht nicht." murmelte er so leise, dass ich es kaum verstand.
Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, der sich in diesen wenigen Augenblicken gebildet hatte, bevor ich zu sprechen begann. Damit würde ich mich heute nicht zufrieden geben. Nicht mehr.
„Ich weiß, dass du meinen Vater kennst. Wer bin ich? Wer sind meine Eltern?"
Mit einem Ruck stand er auf, sodass seine Bürostuhl beinahe nach hinten kippte „Wir sind deine Eltern!" sagte er, schlug mit seiner flachen Hand auf die glatte Schreibtischoberfläche. Die Teetasse kippte und eine kleine Pfütze bildete sich innerhalb weniger Sekunden, als sie den Schreibtisch hinab auf den Boden tropfte.
Mein Blut rauschte in meinen Ohren. So hatte ich ihn noch nie gesehen und doch empfand ich bei diesem Anblick nur noch weitere Wut aufkeimen.
Einen Augenblick lang sah er auf den herabtropfenden Tee, nahm die Tasse und stellte sie wieder in aufrecht in Position. Dann hielt er einen Moment lang inne, während seine Hand noch immer auf der Tasse ruhte.
„Alicia..." fing er an, doch ich wusste bereits, welche Worte folgen würden.
Es war genug. Er hatte mich angelogen. Er wusste Bescheid. Über mich.
Der Schmerz in meiner Brust wurde unerträglich.
„NEIN!" schrie ich. Viel lauter als beabsichtigt. „Ich will es wissen! Ich will es jetzt wissen! Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was hier los ist!"
Die Bücher und Ordner in seinem Regal stoben mit einem Mal auseinander, schossen quer durch den Raum, prallten auf den Boden oder gegen die Wände. Ein Buch traf meinen Vater an der Schulter, was ihn dumpf aufkeuchen ließ.
„Hör auf!" rief er mir durch das wilde Chaos der herumwirbelnden Bücher zu, doch ich vernahm kaum seine Stimme. Das Blut in meinen Ohren rauschte weiter. Lauter. Intensiver.
Hatte er mich angelogen? All die Jahre lang? Hatte er schon immer gewusst, wer ich war? War unser Leben... überhaupt echt gewesen? Meine Nasenflügel plusterten sich auf.
Ein weiteres Buch wirbelte herum und traf ihn am rechten Oberschenkel. Er ging vor Schmerzen in die Knie. „Alicia! Hör auf damit!" presste er unter zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ich habe dir vertraut!" schrie ich ihn an. „Wie kannst du mir das bloß antun?" Erste Tränen quellten meine Wangen hinab, wie ein Rinnsal „Sag es mir! SAG ES MIR!" Blindlings nahm ich das Buch, das zu meinen Füßen lag und warf es in seine Richtung. Mit einem dumpfen Knall kam es links von ihm zu liegen. „WIESO?" Meine Stimme zitterte. „WIESO DU?"
Langsam stolperte ich zurück, bis ich die Türe in meinem Rücken spürte, sank jämmerlich daran herab, während ich meine salzigen Tränen schmeckte. Der Schmerz in meiner Brust war unerträglich.
„Wieso?" weinte ich.
Trotzig schüttelte ich den Kopf, sodass mir meine Haare ins Gesicht peitschten, zog meine Knie an und schlang meine Arme darum, vergrub mein Gesicht darin. Mein ganzer Körper bebte und Tränen platschten nacheinander auf den Boden, so als würde es regnen. Das Knarren des Fußbodens war zu vernehmen und jemand legte seine Arme um mich. Ich wollte sie wegschlagen, ihn anbrüllen, dass ich ihn hasste. Doch er hielt mich fest, drückte mich fest an sich und legte seinen Kopf auf meinem Haar ab.
„Verstehst du denn nicht? Ich will dich noch nur beschützen, Alicia. Du bist unser Ein und Alles. Unsere Tochter." Und da spürte ich das Zittern seines Brustkorbs, als er auch zu weinen begann.
*****
Behutsam sammelte ich die einzelnen Bücher auf und stellte sie zurück ins Regal. Nachdem wir beide wieder zur Ruhe gekommen waren, waren wir uns mehreren Minuten einfach in Stille gegenüber gesessen. Bis wir uns daran gemacht hatten, mein Chaos zu beseitigen.
„Es tut mir leid..." murmelte ich nach einer Weile. „Ich hoffe, du bist nicht verletzt."
Mein Vater hielt kurzzeitig inne, als er gerade den Einband eines Buches musterte, um es in der richtigen Reihenfolge der restlichen Bänder einzusortieren. „Mir tut es leid, Alicia. Dass ich dir all die Jahre nicht die Wahrheit sagen konnte und es noch immer nicht kann." Seine Augen wurden abermals wässrig, was mich beschämt meinen Blick senken ließ.
„Es ist nicht so, dass ich nicht wollte." fuhr er fort. „Ich kann es dir wirklich sagen." Dann schob er das Buch an seinen Platz und kam auf mich zu, legte beide Hände auf meine Schultern, seinen Blick auf mich gerichtet. „Er muss es dir sagen."
Mein Brustkorb hob sich schwermütig, während ich seinen Blick erwiderte, in seine geröteten Augen starrte. Dann nickte ich.
Er ließ von mir ab, schritt zu seinem Schreibtisch und knipste die Lampe an, die zuvor von einem herumwirbelnden Buch getroffen worden war.
„Seit wann weißt du davon?"
Er zögerte. Seine Schultern hoben sich an, als er einen tiefen Atemzug nahm. „Seit dem Tag, an dem ---." Zunächst begann sein Arm zu zittern, dann folgten weitere Muskeln. Beine, Rücken. Seine Hand ballte sich zu einer Faust. Er stützte sich auf seinem Schreibtisch ab. „Seit---." keuchte er hervor. Meine Augen weitete sich, als ich verstand. Er konnte es mir tatsächlich nicht sagen. War das... das Werk eines unbrechbaren Schwurs?
Als ich ihn so sah, fühlte ich mich schuldig. Ich wollte nicht, dass er wegen mir litt. Aus diesem Grund entschied ich mich dazu, zu gehen. Zwei, drei Sekunden ruhte mein Blick noch auf ihm, ehe ich kehrt machte.
„Schon in Ordnung, Dad." flüsterte ich. Was auch immer es war, dass ihn dazu zwang, Stillschweigen zu bewahren... ich wusste, dass seine Liebe zu mir aufrichtig war. Ich war ihm nicht böse. Nicht wirklich. Wir mussten zusammenhalten, vor allem, nachdem wir von Karkaroff bedroht worden waren. Meine Eltern sollten glücklich sein, sicher. Das war alles, was ich wollte.
„Alicia?" hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir. Er hatte sich nicht umgedreht, stattdessen stand er mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch, seine Hände ineinander gefaltet. Noch immer zitterte er leicht „Bitte vergiss nicht, dass deine Mutter und ich dich über alles lieben. Versprichst du mir das?
Mein Herz pochte wild gegen meinen Brustkorb. „Ja." flüsterte ich. „Ich verspreche es."
Dann trat ich hinaus, schloss hinter mir sachte die Tür. Minuten vergingen, in denen ich einfach an der Wand lehnte und in die Leere starrte. Hatte der mysteriöse Unbekannte das getan? Warum aber hatten mich meine leiblichen Eltern fortgegeben, zu einer anderen Familie? War ich der Wahrheit ein Stück nähergekommen? Irgendwann setzte ich mich in Bewegung, ging hoch in mein Zimmer und begann meine Koffer zu packen. Heute Abend noch würde ich abgeholt werden. Gerade heute. Ich wollte nicht gehen.
Aus all dem schlussfolgerte ich, dass mein leiblicher Vater noch am Leben sein musste. Irgendwo da draußen war er. Zumindest glaubte ich das. Doch was war der Grund, dass ich nicht bei ihm sein konnte? Weshalb hatte man mich weggegeben? Oder hatte man mich von ihm weggebracht? Unzählig viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Eines jedoch war sicher: Dieser Jemand, der mit mir kommunizierte... es musste eine Verbindung geben. Er war das bindende Glied, der Schlüssel.
Kurze Zeit später klopfte es an unsere Haustür. Mit gepackten Koffern stand ich in einen dicken Wintermantel gehüllt in unserem Vorraum, gemeinsam mit meinen Eltern, denen jeder weitere Abschied schwerer fiel, wie mir vorkam. Als wir die Tür öffneten, stand Lupin vor uns. Ein kalter Windzug wehte ins Haus. Hinter ihm erblickte ich den Fahrenden Ritter. Als er mich sah, huschte etwas über seine Gesichtszüge, die sich genauso schnell wieder glätteten. Ich lächelte nicht.
Eilig begrüßte er mich und meine Eltern, gefolgt von einem „Wir sind spät dran, Alicia." Während der Werwolf bereits begann meine Koffer einzuladen. Doch ich nickte nur.
Ohne Rücksicht auf das Hupen des Fahrers zu nehmen, fiel ich meinen Eltern um den Hals und zog sie eng an mich. „Ich werde euch vermissen."
„Wir dich auch, Liebling." wisperte meine Mutter.
„Pass auf dich auf." sagte mein Vater, etwas in seiner Stimme, ließ mich meine Umarmung verstärken, bevor ich in Richtung des Buses schritt und ihnen kurz vor dem Einstieg noch zuwinkte.
Dann schlossen sich die Türen. Mit etwas Glück gelang es mir mich in der letzten Sekunde noch festhalten, anstatt wie ein Pingpongball durch den Bus zu wirbeln, als wir durch die Straßen schossen, gefühlt schneller als jedes Flugzeug der Muggel.
In der letzten Reihe erblickte ich Harry, Hermine und den restlichen Weasley Trupp.
„Hey." ließ ich ihnen mit einem angedeuteten Lächeln zukommen, als sie mich im Chor begrüßten, obwohl mir gar nicht danach war. Ich setzte mich neben Harry. „Erzähl, wie waren die restlichen Tage? Hab ich was verpasst?"
„Gut." erwiderte er. „Mr. Weasley ist wieder Zuhause. Ansonsten hast du kaum etwas verpasst. Abgesehen von einer Auseinandersetzung zwischen Snape und Sirius."
„Snape und Sirius?"
„Ja." er senkte seine Stimme, als sein Blick kurzzeitig zu Lupin huschte, der ein paar Reihen vor uns Platz genommen hatten. „Sie haben beide ihre Zauberstäbe aufeinander gerichtet und waren kurz davor einen Fluch abzufeuern."
Meine Brauen machten einen Sprung. „Worum ging es dabei?"
„Snape hat Sirius als Feigling bezeichnet. Er hat übrigens auch gefragt, weshalb Dumbledore dir erlaubt hätte, dich bereits so früh nach Hause zu lassen."
„Was habt ihr darauf geantwortet?"
„Dass Dumbledore schon seine Gründe hätte."
„Wie immer also..." murmelte ich. „Hat Sirius denn sonst irgendetwas erwähnt?"
„Nein, weshalb fragst du?"
„Nur so." murmelte ich, während meine Gedanken zurück an jenen Tag auf dem Dachboden huschten, als ich das Bild meiner Mutter gefunden hatte. Nach einer Weile waren wir am Zielort angekommen.
Der Bus stoppte so abrupt, dass ich beinahe einen Salto nach vorne geschlagen hätte, wäre Fred nicht gewesen und hätte mich noch rechtzeitig an meinem Umhang zurückgezogen. Mich wunderte es ja, dass irgendjemand mit diesem Bus hier fuhr, bei diesen Fahrkünsten. Musste man in der magischen Welt überhaupt eine Führerscheinprüfung ablegen? Ich vermutete nicht.
Hallow war genauso wenig entzückt, wie ich, als er in seinem Käfig ordentlich durchgerüttelt wurde und ein schrilles Kreischen von sich gab, das mich meine Hände gegen die Ohren pressen ließ.
Als wir ausstiegen und hoch zum Schloss blickten, musste ich lächeln. Hogwarts sah wie immer wunderschön aus. Die Schneedecke war mindestens noch genauso dick wie zu Beginn der Ferien und als ich etwa eine halbe Stunde später die große Halle betrat, fiel mir glatt Daphne um den Hals.
„Da bist du ja endlich!" rief sie und drückte mich freudig an sich. „Ich bin fast vor Sorge umgekommen, als auf einmal dein Bett leer und du nirgends aufzufinden warst! Als ich Snape und die anderen Lehrer danach fragte, bekam ich bloß stets die Antwort, dass sie darüber keine Auskunft geben würde." Sie holte tief Luft. „Wo, beim Barte des Merlins, warst du?"
„Zuhause bei meinen Eltern. Es gab einen kleinen Zwischenfall, weshalb ich frühzeitig aufbrechen musste. Tut mir leid, ich hatte keine Zeit euch Bescheid zu geben."
„Welchen Zwischenfall? Ist irgendwas passiert?"
„Es ist alles gut, danke Daphne. Wie waren deine Ferien?"
An ihrem Blick konnte ich erkennen, dass sie mir nicht glaubte, doch ich war ihr sehr dankbar, dass sie nicht weiter fragte.
„Weihnachten habe ich auch Zuhause bei meinen Eltern verbracht. Kann mich nicht beklagen, gab genug Geschenke. Aber Astoria... ich sag's dir... kleine Schwestern sind so unglaublich nervig." Sie verdrehte die Augen. „Komm, lass uns essen, bevor uns Crabbe und Goyle alles wegfuttern."
Ich nickte und folgte ihr an den Tisch. „Wo ist Adrian?"
„Keine Ahnung, wo der schon wieder steckt. Er ist gestern Abend nach Hogwarts zurückgekehrt, der muss hier also irgendwo rumlungern."
Später trafen wir ihn im Gemeinschaftsraum an, wo er mit einem anderen Slytherin Zauberschach spielte.
Wir plauderten anschließend zu dritt noch fast bis Mitternacht, ehe jeder seinen Schlafsaal aufsuchte und sich müde ins Bett fallen ließ. Als ich meine Augen schloss, versank ich sofort ins Land der Träume, sah wie Igor Karkaroff plötzlich durch die Eulerei in Hogwarts eindrang und mich aufsuchte. Er warf mir vor, gelogen zu haben und bedrohte mich mit seinem Zauberstab, dessen Spitze mit Blut getränkt war. Plötzlich feuerte er einen Fluch auf mich ab und ich schreckte hoch. Keuchend blieb ich in meinem Bett liegen und starrte an die Decke, bis ich irgendwann, ich wusste nicht, wie spät es war, die Schublade meines Nachtkästchens öffnete und darin herumkramte. Als ich den Einband des schwarzen Buches streifte, spürte ich die davon ausgehende Wärme. Meine Stirn legte sich in Falten. Er hatte mir geschrieben, doch weshalb? Vorsichtig zog ich es hervor, öffnete es behutsam unter meiner Bettdecke und vertrieb die Dunkelheit mit einem gemurmelten „Lumos".
Dumbledore weiß über uns Bescheid. Vertraue ihm nicht. Er wird alles dafür tun, um zu verhindern, dass du zu der wirst, die du bist.
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