Kapitel 49 - And the Earth keeps turning
„Es ist soweit." sprach Dumbledore als ich durch das Fenster seines Büros auf die Geländer blickte. Ein Vogelschwarm flog über die Baumwipfel des Verbotenen Waldes hinweg, zogen weiter in Richtung des großen Sees, ehe sie zu winzigen Punkten in der Ferne wurden und schließlich gänzlich mit ihrer Umgebung verschmolzen. Der verbotene Wald lag indes so ruhig, so unscheinbar. Als würden dahinter nur Geheimnisse, aber keine Gefahren lauern. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb mein Blick daran hängen. Das Dickicht verschlang jegliches Licht und ich fühlte das seltsame Verlangen dieser Dunkelheit zu folgen. Doch ich konnte nicht, nicht wahr?
Es würde sich nur mehr um Minuten handeln, bis ich Zuhause bei meinen Eltern war, in meinem alten Zimmer von früher. Früher, als ich noch nichts von Magie geahnt hatte. Als alles noch „normal" und ich nichts als ein pubertierender Außenseiter gewesen war. Mehr oder weniger. War denn jemals für etwas wie Normalität in meinem Leben Platz gewesen? Seitdem ich damit konfrontiert worden war, dass es auch schon früher jemanden in meinem Leben gegeben haben musste, der mir das Zaubern beigebracht hatte, hatte sich mein Blick auf meine Vergangenheit versteift... verändert. Versteckte Erinnerungen, die in meinem Kopf lungerten und für mich nicht aktiv abrufbar waren. Doch warum all diese Mühe? Warum mich all diese Jahre vor diesem wundersamen Ort versteckt halten? Wer war dieser mysteriöse Fremde gewesen und wo war er jetzt in diesem Augenblick? Hatte er etwas damit zu tun, was auf dem Friedhof geschehen war?
„In dieser Jahreszeit sind besonders viele Vogelarten in Hogwarts zu beobachten." Der Schulleiter blickte über den Rand seiner halbmondförmigen Brille hinweg nach draußen und holte mich mit seinen Worten wieder sanft zurück ins Hier und Jetzt. „Schneesperlinge." Er deutete auf einen Vogel, der auf dem gegenüberliegenden Turm saß. So winzig, dass ich das Muster seines Gefieders kaum klar erkennen konnte.
„Professor?" murmelte ich, während ich beobachtete, wie sich der kleine Schneesperling abstieß und über die Turmspitzen hinweg flog. „Gibt es einen Zauber, der die Toten wieder zum Leben erweckt?"
Unsere Blicke trafen sich und seine schmalen Lippen zeigten ein angedeutetes Lächeln.
„Nein." sagte er ohne zu zögern. Seine Stimme klang warm und freundlich. Dann hob er seinen Arm an und ich wusste, was mich erwarten würde, sobald ich ihn berührte. Vermutlich sollte ich mich fragen, wie es für Dumbledore möglich war innerhalb Hogwarts zu apparieren, doch ich tat es nicht. Stattdessen waren meine Gedanken andere:
Wie sollte ich meinen Eltern erklären, was passiert war? Weshalb ich erst so spät nach Hause kam? Würden sie denn überhaupt meinen Erzählungen über die magische Welt folgen können? Oder würden sie lediglich dasitzen und mir zuliebe zumindest so tun, als hätten sie verstanden? Dass uns Cedric diesen Sommer nicht besuchen würde. Und auch nicht den nächsten oder übernächsten. Dass er tot war... getötet durch den Zauberstab des gefährlichsten schwarzen Magiers der heutigen Zeit, der keinen Halt machte, wenn es um Mord ging. Erst recht nicht an Muggel. Ich spürte das leichte Zittern meiner Unterlippe. Ein kräftiger Atemzug und es verebbte. Dann packte ich entschlossen mit festem Handgriff den Henkel meines Koffers, bevor ich zögerlich mit meiner linken Dumbledores Arm berührte. Hallow war bereits gestern in seinem Käfig zu meinen Eltern gebracht worden. Schön, dass wenigstens ihm das Apparieren erspart blieb. Meine Fingerkuppen fühlten den weichen Stoff seines Umhangs und im selben Moment verschwamm meine Sicht. Das Bild vor meinen Augen wirbelte herum, ich fühlte einen eigenartigen Ruck hinter meinem Bauchnabel und dieselbe Übelkeit von damals überkam mich, als mich Moody, der echte Moody, zu den Weasleys gebracht hatte.
Als ich meine Augen öffnete, standen wir direkt in unserem kleinen Vorgarten unter einem Baum. Am helllichten Tag. Dumbledore hatte gute Nerven, wenn man so wollte. Mein Koffer stand neben mir und erst jetzt fiel mir auf, dass ich mein gesamtes Gewicht darauf verlagert hatte, sodass ich ohne ihn wohl augenblicklich nach vorne gekippt wäre. Mir war noch immer, als würde sich mein Frühstück den Weg nach oben an die Freiheit bahnen. Erst als ich bemerkte, dass Dumbledore seinen Blick seelenruhig über unsere Hausfassade gleiten ließ, rückte das Gefühl der Übelkeit mit einem Schlag in den Hintergrund.
„Ein schöner Ort, um seinen Sommer zu verbringen." sagte er. „Der Tod ist nicht das Ende, Alicia. Halte dich an die, die dich lieben und die besten Absichten für dich haben." Seine strahlendblauen Augen sahen mit einer angenehmen Güte auf mich herab und mit seinem Kopf deutete er in Richtung unseres Hauses. „Deine Eltern erwarten dich bereits."
Mit meinem Blick folgte ich seiner Bewegung, betrachtete die helle Holztür und nahm das erste Mal seit langem wieder die kleine Delle auf unserem Adressschild wahr, die vor einigen Jahren auf meiner Geburtstagsparty durch einen ungezielten Ballschuss entstand war. Ein Luftzug wehte mir um die Ohren und Dumbledore war verschwunden.
Mein Koffer schepperte bei jedem Schritt über die gepflegten Pflasterscheine und ein seltsames Gefühl der Vertrautheit erklomm mich, als ich nach so langer Zeit wieder diesen Weg entlang schritt. Und dennoch fühlte sich all das hier so fremd an. Als würde es sich um Erinnerungen aus einem fremden Leben handeln. Mit meinem Zeigefinger übte ich leichten Druck auf die Klingel aus, vernahm das helle Geräusch im Inneren.
Doch jetzt konnte ich es fühlen. Es war genau wie damals, als ich nach meinem ersten Schultag an meiner neuen Schule nach Hause gekommen war.
„Liebling, wie war dein Ta--- Alles in Ordnung? Alicia?"
„Ich will nicht darüber sprechen."
„Was ist passiert?"
„Bin gefallen..."
„Alicia, war das jemand aus deiner Schule?"
„ICH WILL NICHT DARÜBER SPRECHEN, OKAY?"
Mit einem Ruck wurde die Haustür von innen geöffnet, so als hätten sie meine Ankunft schon lange erwartet. Im Hintergrund hörte ich bereits die angenehme Stimme meiner Mutter „Ist es Alicia?" und keinen Augenblick später kam das Gesicht meines Vaters kam zum Vorschein, ein Lächeln tragend, das von einer Wange zur anderen reichte. Doch als er die Tür aufgezogen hatte und nunmehr den Blick zur Gänze auf mich freigab, verschwand es so plötzlich, als hätte es jemand von der einen auf die andere Sekunde ausradiert. So wie damals bei meiner Mutter.
„Was ist passiert?"
Seine Worte trafen mich so hart wie ein Steinschlag, der sich durch meinen gesamten Körper zog und mich bis auf meine Knochen erschütterte. Mein Koffer kippte plump nach vorne, fiel auf einen Blumentopf und zerbrach ihn an Ort und Stelle. Dunkle Erde und blaue Keramikstücke verteilte sich auf dem hellen Steinpflaster, als ich in seine Arme stürzte, mich fest an meinen Vater klammerte, von einem Moment auf den anderen kräftig schluchzend, während mein ganzer Körper unbändig bebte.
Und ich fragte mich zum ersten Mal, warum ich weinte, wenn es doch auch so viel Wut war, die ich verspürte.
*****
Vollkommene Stille herrschte in unserer Küche als ich mit zittriger Stimme zu Ende erzählt hatte. Tränen waren mir laufend über die Wangen gekullert und ein unangenehmes Brennen saß in meinen Augen.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch folgte man dem Stand der Sonne, musste es eine ganze Weile gewesen sein. Meine Worte waren nicht ausgewählt gewesen, vielmehr hatten sie sich selbstständig einen Weg über meine Lippen gebahnt und obwohl es so viele gewesen waren, hatte ich es nicht aussprechen können. Diesen einfachen Satz, dass Cedric tot war.
Begonnen hatte meine Erzählung beim trimagischen Turnier, der dritten Aufgabe. Von da an hatte alles seinen Lauf genommen und war an jenem Punkt zum Stillstand gekommen, an dem Harry mit Cedrics Körper zurückgekehrt war.
Doch sie verstanden. Hatten sie von der ersten Sekunde an.
Es hatte mich eine Menge Mühe gekostet, mehr als ich zugeben wollte. Das Gefühl einfach aufspringen und hinausstürmen zu wollen, hatte sich in meinen Gedanken in Dauerschleife abgespielt. Wie eine defekte Schallplatte, die immer und immer wieder dieselbe Melodie spielte. Augenkontakt hatte ich unentwegt vermieden, sondern stattdessen lediglich auf die glatte Tischoberfläche gestarrt. Anders wäre es mir nicht möglich gewesen, die Geschichte zu beenden. Die Wahrheit war, dass ich unfassbare Angst davor hatte, was sich auf ihren Gesichtern abzeichnen würde. Doch vor allem davor, dass sie mich nicht verstanden.
Wo ist dein Platz? Gehörst du hierher? flüsterte noch immer diese Stimme im Hinterkopf. Ich konnte sie nicht abstellen. Sie hing an mir, wie mein Schatten. Und ich hatte so wahnsinnige Angst davor durch die Reaktionen meiner Eltern einer unschönen Antwort näherzukommen.
Als das letzte Wort meine Lippen verlassen hatte, hatte ich mich dennoch erleichtert gefühlt. So leicht und schwerelos wie schon lange nicht mehr. So fühlte es sich zumindest an. Auch, als hätte ich kein Tröpfchen Wasser mehr für eine weitere Träne in meinem Körper, obgleich ich ihre heiße Spur weiterhin meine Wangen hinabfließen spürte.
Meine Mutter beugte sich über den Tisch, streckte ihre Hand nach meiner aus und nahm sie sachte in die ihre, wobei sie mir mit ihrem Daumen über den Handrücken strich. So verharrten wir eine ganze Weile, vernahmen bloß den Atem des jeweils anderen. Der meines Vaters war schnell und unruhig, der meiner Mutter glich dem eines Schniefen.
„Alicia?" begann sie, doch ich wagte es nicht meinen Blick von unseren Händen zu nehmen und sie anzusehen. „Wir sind immer für dich da."
Aus irgendeinem Grund nickte ich.
„Wo auch immer er jetzt auch sein mag, Liebling... Er wird wissen, dass er dir sehr viel bedeutet hat."
Nun vernahm ich es. Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme und da sah ich zum ersten Mal, seitdem ich an diesen Tisch gekehrt war, zögerlich auf. Alles Farbe war aus dem Gesicht meines Vaters gewichen, während sich die Lippen meiner Mutter zu einem Schlitz geformt hatten, fest aufeinandergepresst. Sie hatte geweint. Stumm. Und erstmals konnte ich ihre Berührung, die Berührung unserer Hände wirklich fühlen. Ihre Körperwärme, ihr Daumen, der sanft über meinen Handrücken strich.
Das Zittern meines Körpers wurde weniger, die Gänsehaut, die sich auf meinen Armen und Beinen ausgebreitet hatte, glättete sich allmählich. Etwas in mir wurde ruhiger. Ich spürte sie. Erinnerungen, die hochkamen. Schönen Erinnerungen. Erinnerungen an meine Kindheit und an meine Eltern.
Ich lag falsch. Das Leben in der Muggelwelt war nicht immer schlecht gewesen.
Aber mein Leben jetzt war besser.
Einen Atemzug lang dachte ich an die Zeit vor gut einem Jahr zurück. Als ich im Büro des Direktors gesessen hatte, weil ich meinen damaligen Lehrer Mr. Whitman unbeabsichtigt verhext hatte. Damals hatte ich keine Ahnung gehabt. Von Magie und der Welt, die mich da draußen erwartete. So viel Zeit war inzwischen vergangen und so vieles hatte sich verändert. Vieles zum Guten, doch vieles zum Schlechten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Cedric vielleicht in der großen Halle befunden und mit seinen Freunden gelacht, sich über die anstehende Quidditchweltmeisterschaft ausgetauscht. Vielleicht sogar hatte sich mit Cho Chang unterhalten, darüber, dass sie sich im Sommer Briefe schreiben wollten. Doch nun war er fort.
Wir alle würden eines Tages vom Antlitz dieser Erde verschwinden, doch ich vermisste ihn so unglaublich sehr. Er war so jung gewesen. Er hatte doch noch gar keine Zeit gehabt, zu leben.
Das Beben, das meinen Körper unaufhörlich schüttelte, kehrte zurück. Dieses Mal noch heftiger.
Magie war zu so vielem im Stande. Warum war es also nicht möglich geliebte Menschen von den Toten zurückzubringen? Gab es denn nichts, um den Tod zu bezwingen?
Mit einem Ruck entzog ich ihr meine Hand, spürte eine beißende Kälte an jener Stelle, an der ich gerade eben noch die Berührung meiner Mutter wahrgenommen hatte. Ich stürzte regelrecht zum Wasserhahn, nahm mir mit zittrigen Fingern ein Glas, füllte es bis zur Hälfte voll und trank alles aus. Dann noch einmal. Das kalte Wasser brannte unangenehm in meinem ausgetrockneten Rachen und einzelne Tropfen flossen mein Kinn hinab, vermischten sich mit meinen salzigen Tränen. Mit bebenden Schultern stützte ich mich vor der Spüle ab, während das Sonnenlicht in Form des Musters der Vorhänge durch das Fenster auf meine Haut fiel und mich meinen Kopf anheben ließ.
Du bist tot, Cedric. Und die Erde dreht sich weiter.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir. Das Quietschen der Sitzbank, als sich jemand erhob. Ein Stuhl, der über unseren Holzboden scharrte. Meine Mutter kam von rechts auf mich zu, einen Arm um meine Schultern, mit dem anderen strich sie mir übers Haar, legte ihr Kinn auf meinem Kopf ab und drückte mich fest an sich. Von der anderen Seite schlossen sich die Arme meines Vaters um uns beide und so standen wir hier, während Minute um Minute verstrich. Verharrten in der alten Vertrautheit.
Ich war nicht allein.
Ich gehöre hierher. Zu euch.
*****
Mit leerem Blick starrte ich aus dem Fenster, ohne etwas von der Welt da draußen wahrzunehmen. Dem kleinen Vorörtchen Londons, in dem ich bereits seit so vielen Jahren lebte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass im gegenüberliegenden Haus neue Nachbarn eingezogen waren, hatte mich auch nicht darum gekümmert mit ihnen ein Gespräch zu führen, als sie sich vor wenigen Tagen bei meinen Eltern vorgestellt hatten.
„Das ist meine Frau Irene und ich bin Frank." hatte er gesagt, ein freundliches Lächeln auf den Lippen wahrend, als die beiden mit einer billigen Flasche Wein in unserem Flur gestanden waren. Sein Hemd war ihm eine Nummer zu klein gewesen und seine Frau, Irene, besaß nicht nur riesengroße Füße, sondern auch etwas zu groß geratene Schneidezähne. Sie überragte ihren Mann um wenige Zentimeter.
Ein stummes, knappes Nicken meinerseits war gefolgt, bevor ich weiter in die Küche geeilt war, um mir mitten am Nachmittag eine Schüssel Müsli zuzubereiten.
„Das ist unsere Tochter Alicia. Ihr müsst sie entschuldigen." hatte ich die Stimme meines Vaters aus dem Flur tönen gehört und ich hatte innegehalten und aufgesehen.
Mich entschuldigen? – hatte es in meinen Ohren gesummt.
„Teenager." hatte Frank gelacht.
„Unser Sohn ist auch etwa in demselben Alter. Nicht immer einfach mit ihnen, nicht wahr?" Irene war in das Lachen ihres Mannes eingestiegen.
Milch war weiterhin in meine Schüssel geflossen, schwappte über den Rand und eine immer größer werdende weiße Pfütze hatte sich auf der Küchentheke gebildet. Erst als sie über den Rand der Theke auf meine Socken tröpfelte und ich die Nässe auf meinen Zehen gespürt hatte, hatte ich das angerichtete Chaos bemerkt.
Kein Lachen meiner Eltern war gefolgt, hatte ihre ernsten, betrübten Gesichter gesehen, als ich mit der Müslischüssel und nassen Socken in mein Zimmer zurückgekehrt war, ohne ein Wort zu sagen.
Graue Wolken zogen von Süden herauf, kündigten an, dass es später vermutlich regnen würde. Wie auch schon in den letzten Tagen. Das aufgeregte Gekreische Hallows riss mich aus den Gedanken. Der Käfig begann leicht unter den energischen Schlägen seiner Flügel gegen das Käfiggitter zu wanken.
„Schon gut, Hallow." murmelte ich, holte eilig einige Eulenkekse hervor, nach denen er gierig schnappte, sobald sie in seiner Reichweite waren. Nur um Haaresbreite verfehlte er meine Finger. Mein Blick fiel kurzzeitig auf die Briefe, die sich inzwischen auf meinem Schreibtisch sammelten. Zwei von Daphne, einer von Harry und einer von Hermine. Sie alle waren ungeöffnet. Der erste von Daphne war gar noch am selben Nachmittag meiner eigenen Ankunft hier angekommen. Bis jetzt hatte ich es nicht über mich gebracht sie zu lesen. Doch bald schon würde ich sie alle lesen und beantworten. Ich hatte es versprochen. Es war nur... den Großteil des Tages fühlte ich mich müde und niedergeschlagen. Häufig träumte ich von jenem Tag am Friedhof. Sah das grüne Licht aufblitzen und die dunkelroten Augen Voldemorts, die direkt in meine Seele zu starrten schienen. Und jedes Mal, nach jedem Traum fühlte ich eine eigenartige Unruhe und eine unbekannte Art von Wut in mir, auch noch lange nachdem ich aufgewacht war. Dann war da noch Wurmschwanz... Sein Gesicht war es, das mich am wenigsten schlafen ließ. Es war immer dasselbe: Sobald ich in der Nacht aufschreckte bemerkte ich, dass sich meine Hände, fest ins Leintuch gekrallt hatten, vernahm meinen flachen, schnellen Atem und wunderte mich, warum es Wurmschwanz war, den ich so sehr verabscheute und nicht Voldemort? Warum gab ich ihm die Schuld? Und warum fühlte sich all diese Wut in mir so bekannt an?
Erneutes metallisches Scheppern, als würde jemand an einem verrosteten Gitter rütteln. Ich blinzelte. Hallow sah mich mit weit aufgerissenen Augen abwartend an. Anscheinend wollte er nach draußen. Vorsichtig öffnete ich den Käfig, woraufhin er etwas grob auf meiner Schulter landete. Als ich das große Fenster öffnete, stieß er einen hellen Ruf aus, bevor er sich von meiner Schulter abstieß und mir dabei unwirsch mein Haar zerzauste. Schneller als ich sehen konnte erhob er sich in die Lüfte, war kaum einen Wimpernschlag später bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden.
Doch noch bevor ich das Fenster zur Gänze geschlossen hatte, zerriss ein lautes Scheppern die Luft. War Hallow gegen das Nachbarsfenster geflogen? Nein, das Geräusch war von unten gekommen. Mit zwei schnellen Schritten war ich an meinem Bett und zog meinen Zauberstab unter meinem Kopfkissen hervor. War jemand eingebrochen? Karkaroff? Bei dem Gedanken gefror mir für den Bruchteil einer Sekunde das Blut in den Adern. Geräuschlos betätigte ich die Türklinke, schlich die Treppen hinunter, während mir das Herz bis zum Hals schlug. Drei lange Schatten fielen durch den Türrahmen vom Wohnzimmer in den Flur. Das laute Gelächter meiner Eltern war zu vernehmen, gemeinsam mit einer altbekannten Stimme, die mich meine Hand mit meinem Stab augenblicklich an meine Seite sinken ließ.
„Und wie funktionieren diese Dinger?" Arthur Weasley stand inmitten unseres Wohnzimmers. Rußflecken bedeckten seine Kleidung, während er seine Nase regelrecht gegen den Bildschirm unseres Fernsehers gepresst hatte und mit seinen Fingerspitzen gar vorsichtig die Oberfläche abtastete. Meine Eltern beobachteten ihn sichtlich amüsiert, so als wäre es das Normalste dieser Welt, dass er gerade eben durch unseren Kamin gerauscht gekommen war.
Niemand schien zu bemerken, dass ich unter dem Türrahmen stand.
„Man kann ihn durch einen Knopfdruck einschalten. Oder dadurch." Mein Vater wedelte mit der Fernbedienung in der Hand herum und als er ihn betätigte und das helle Licht anging, torkelte Arthur erschrocken ein paar Schritte zurück. Mit entzücktem Blick deutete er auf die Fernbedienung. „Faszinierend. Darf ich mal?"
Bereitwillig wurde sie ihm von meinem Vater überreicht.
Arthur tippte mit dem rechten Zeigefinger wahllos auf verschiedene Knöpfe, doch nichts veränderte sich. „Das hat doch gerade eben noch funktioniert." Eine tiefe Falte bildete sich inmitten seiner Augenbrauen. Er hielt sie verkehrt herum. Dann wanderte sein Blick plötzlich in meine Richtung. „Oh, Alicia. Was für eine Freude dich wiederzusehen!" sagte er mit einem breiten Lächeln um die Lippen und erst jetzt fiel mir auf, dass er etwas müde aussah. Musste er derzeit lange arbeiten? „Na, wie geht es dir?" fragte er heiter. Doch dann nahm er so plötzlich kurzzeitig seinen Blick von mir. Sein Lächeln wurde eine Spur schwächer und seine Hand mit der Fernbedienung machte seltsame Bewegungen in der Luft, so als würde er nicht wissen wohin damit.
„Es geht mir gut, danke Mr. Weasley." antwortete ich ruhig. Es war schön, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Und noch schöner war es zu sehen, dass er sich offenbar mit meinen Eltern verstand.
„Das... Das ist gut, schätze ich, ja." Er räusperte sich. bevor er einige Schritte auf mich zuging. „Molly fragt ständig nach dir. Da fällt mir ein..." Er kramte in seinen rußbedeckten Manteltaschen herum und holte ein kleines Päckchen daraus hervor. „Die soll ich dir von ihr geben. Kekse." Dann beugte er sich ein klein wenig nach vor und fügte im Flüsterton hinzu. „Die mit den Schokoladenstückchen sind die besten. Aber sag's nicht Molly."
Ein leichtes Nicken meinerseits folge, als ich das Päckchen entgegennahm. „Danke, das ist wirklich freundlich von ihr." Ein leichtes Lächeln bildete sich nun auch auf meinen Lippen. „Wissen Sie schon etwas darüber, ob ich wieder einen Teil des Sommers im Fuchsbau verbringen werde?"
Er befeuchtete nervös mit seiner Zunge seine Lippen und zum ersten Mal fiel mir auf, dass Arthur Weasley beinahe wie ein offenes Buch zu lesen war. „Nun, das... muss Dumbledore entscheiden. Ich weiß noch von gar nichts." meinte er, doch ich konnte so klar und deutlich sehen, dass er sehr wohl Bescheid wusste. Zaghaft nickte ich. Was wusste er? Warum durfte er mir nichts davon mitteilen? Oderwürde ich dieses Mal den gesamten Sommer hier bei meinen Eltern verbringen? Doch was war mit Voldemort? War es denn nicht gefährlich, hier zu sein? Wäre es nicht sicherer, sich im Fuchsbau zu befinden? Auch für meine Eltern? Mein Blick huschte zu ihnen. Sie beide strahlten, als hätten sie soeben gute Neuigkeiten erfahren. Mein Griff um das Päckchen wurde fester und plötzlicher Ärger erklomm mich. Wie konnten sie so glücklich und unbeschwert sein, wenn sie da draußen so große Gefahr erwartete?
Ein leises, sanftes Rufen einer Eule war zu hören, hallte auf einmal durch das Wohnzimmer. Eines, dass sich so gar nicht nach Hallow anhörte.
Ich blinzelte und der Ärger war genauso schnell wieder verraucht, wie er gekommen war. Die Stücke eines zerbröselten Keks waren unter meinen Fingerkuppen zu spüren.
Eine kleine braun-weiß-gefiederte Eule, die mich aus ihrem Käfig, der auf dem kleinen Tischchen neben dem Kamin abgestellt war, musterte mich mit großen, neugierigen Augen. Meine Brauen verschwanden wohl mit einem Schlag hinter meinem Haaransatz.
„Mr. Weasley? Warum haben Sie Ihre Eule mitgebracht?" kam es mir wie von selbst über die Lippen, obwohl ich wusste, dass es keinen Sinn machte.
„Das ist nicht meine, Alicia." sagte er und betrachtete nahezu fürsorglich das kleine Tierchen, bevor sein Blick weiter zu seiner Armbanduhr wanderte. „Ohje, ich komme zu spät! Molly wird mich umbringen." murmelte er vor sich hin. „Das Päckchen habe ich dir gegeben, ja?" er tastete nochmals seine Manteltaschen ab, bevor er nickte. „Mr. und Mrs. Hastings, Alicia... es war mir eine Freude!" Eilig stapfte er zum Kamin und nahm etwas Pulver aus einem Beutel, der die ganze Zeit über an seinem Mantel befestigt war, als ihm plötzlich einfiel, dass er noch immer die Fernbedienung in der Hand hielt. „Oh, ganz vergessen." Er überreichte sie rasch meinem Vater und hinterließ dabei mit seinen Schuhen dunkle Flecken auf dem Fußboden, verschüttete dabei zugleich etwas von dem Flohpulver. „Funktioniert wohl nur bei Muggel."
Im nächsten Augenblick ertönte ein deutlich ausgesprochenes „Fuchsbau", gefolgt von grünen Flammen und einem Zischen. Weg war er. Irritiert legte sich mein Blick wieder auf die Eule, die ihren in der Zwischenzeit nicht von mir genommen hatte.
„Ist das etwa eure?"
Mein Vater stellte sich mit verschränkten Armen neben mich, ein Grinsen wahrend, als würde er mit der Sonne um die Wette strahlen wollen. „Deine Mutter und ich dachten, es wäre eine gute Idee, um mit dir und den Weasleys in Kontakt zu bleiben." Er beugte sich nach vor steckte seinen Finger zwischen die Gitterstäbe. Die Eule berührte sie sanft mit ihrem winzigen Schnabel. „Ist sie nicht hinreißend?"
Das war sie wirklich. Sie hatte etwas Beruhigendes und Friedliches an sich.
„Eine Sumpfohreule, wunderschöne Vögel, wenn du mich fragst." fuhr er fort. „Hallow und ich... wir kommen nicht sonderlich gut aus."
„Ich denke, das tut niemand." merkte ich etwas trocken an. Hallow war ungestüm und eigensinnig. Allerdings war auf ihn Verlass.
Vielleicht schicke ich ihn mal zu den neuen Nachbarn...
„Mr. Weasley kam kurz vor den Sommerferien durch unseren Kamin gerauscht." Meine Mutter hatte neben meinem Vater Halt gemacht, ihre Hand ruhte behutsam auf seinem Rücken. „Du hattest unsere letzten Briefe nicht beantwortet und wir haben uns Sorgen um dich gemacht." Sie blickte zu meinem Vater. „Wir wussten nicht, wie wir mit dir Kontakt aufnehmen sollen und deshalb haben wir Mr. Weasley darum gebeten uns auch eine Eule zu besorgen, als er eines Tages zu uns kam." Sie kam auf mich zu und strich mir über mein blondes Haar. „Eine Posteule. So nennt ihr sie doch, nicht wahr?"
Ich nickte, ohne meinen Blick von der Eule zu nehmen. Sie hatte von der Fingerspitze meines Vaters abgelassen und begonnen ihr Gefieder zu putzen.
„Jetzt fehlt nur noch ein Name."
„Deine Mum will sie ja Iphigeneía taufen." Mein Vater richtete sich wieder auf und warf mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick in Richtung meiner Mutter. „Ich wäre jedenfalls für Poppy."
Sie verdrehte die Augen. „Kommt, lasst uns zu Mittag essen." Ganz offensichtlich nicht gewillt sich auf eine altbekannte Diskussion einzulassen. „Dabei kannst du uns alles über Eulen erklären, was du weißt."
*****
„Du willst das arme Tier wirklich Iphigeneía nennen?" begann mein Vater, nachdem er unser Geschirr abgeräumt und gewaschen hatte. Das Spülbecken war bis zur Hälfte des Beckenrandes mit Schaum gefüllt. Nunmehr lehnte er steif gegen die Küchentheke. „Poppy würde haargenau passen." Er deutete dabei zum Käfig, den er zuvor im hinteren Eck unserer Küche platziert hatte, hielt noch immer das Geschirrtuch in der Hand. Zuvor hatte er während dem Essen mehrmals liebevolle Blicke in dessen Richtung geworfen, so wie auch jetzt. „Sie sieht aus wie eine Poppy. Iphigeneía merkt sich doch niemand."
Meine Mutter stand mit verschränkten Armen auf und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick. „Papperlapapp! Wie kann eine Eule nach einer Poppy aussehen? Wie kann überhaupt irgendjemand nach einer Poppy aussehen?"
Stumm schmunzelnd, beobachtete ich die beiden.
„Iphigeneía ist ein wunderschöner Name. Ich weiß wirklich nicht, was du daran auszusetzen hast, Leroy! Außerdem gebraucht ihn auch niemand, abgesehen von uns."
„Ja, das hat wohl auch seinen Grund." grummelte er.
Für den Bruchteil einer Sekunde plusterte sich ihre Brust auf, die Hände in die Hüfte gestemmt. Dann aber stieß sie einen gedehnten Seufzer aus. „Wenn du mit Iphigeneía nicht zufrieden bist, gut. Aber eine Poppy wird sie ganz bestimmt nicht."
„Wie wärs mit Hedda?" Beide Köpfe drehten sich synchron in meine Richtung, ehe sie sich einen gedehnten Blick zuwarfen. In unserer Küche war es plötzlich ganz still geworden. Auch die Eule bewegte sich nicht. Sie war das genaue Gegenteil von Hallow.
Beide nickten synchron.
„Damit könnte ich gut leben." meinte mein Vater, zuckte dabei leicht mit seinen Schultern und an dem Gesichtsausdruck meiner Mutter konnte ich so klar und deutlich erkennen, dass uns beiden bewusst war, dass ihm im Moment wohl alles außer Iphigeneía ganz recht war.
„Dann nennen wir sie Hedda." bestätigte sie.
Die kleine Eule schlummerte inzwischen friedlich in ihrem Käfig, bekam nichts von unserem Gespräch und ihrer Namensgebung mit. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Eltern eine gute Wahl getroffen hatten. Es war nicht nur, dass es uns so auch möglich war, viel besser in Kontakt zu bleiben. Sondern sie hatten sich offensichtlich sehr bemüht einen Teil meiner Welt besserkennenzulernen und dafür war ich ihnen unglaublich dankbar.
„Hedda Poppy Hastings." summte mein Vater und meine Mutter verdrehte die Augen, ehe sie ihm mit ihrem Ellbogen in die Rippen pikste.
„Davon kannst du noch lange träumen, Leroy."
Im Anschluss wurde es wieder ruhig in der Küche, wo wir Hedda weiter friedlich schlummern ließen. Mein Vater sah Fern, wobei er den Nasenabdruck von Mr. Weasley auf dem Bildschirm entfernte, indem er mit einer Küchenrolle kräftig daran rubbelte. Indes las meine Mutter in aller Seelenruhe einen Roman. Ich hingegen befand mich in meinem Zimmer vor meinem Schreibtisch, kratzte mit meiner Feder eilig über weißes Pergament, als ich die ersten Briefe beantwortete. Einer an Daphne, einer an Harry und einer an Hermine. Auch an Poliakoff wollte ich noch schreiben, wollte ihn fragen, ob er auch gut Zuhause angekommen sei und wie er seine Sommerferien verbringen würde.
Irgendwann klopfte es an der Tür und mein Vater öffnete noch vor einer Antwort vorsichtig Tür einen Spalt breit.
„Alicia? Störe ich?"
„Nein, was gibt's?"
Als er die Türe zur Gänze geöffnet hatte, fiel das Licht der Flur Lampe in mein Zimmer und ich bemerkte erstmals, wie dunkel es eigentlich gewesen war, hatte ich doch lediglich meine Schreibtischlampe angeknipst. Seine Lesebrille war auf seine Nasenspitze gerückt als er vor mir stehen blieb. „Es gibt da etwas, worüber was deine Mutter und ich dir noch sagen wollten."
Er nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Wir sind für dich da, okay?"
Ich blickte kurzzeitig zu ihm hoch, bevor ich nickte, drehte den Kopf in Richtung meines Kopfkissens, wo mein Zauberstab lag.
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