Kapitel 22 - Good, old Times
Es war Punkt 8 Uhr, als wir am nächsten Tag abreisten. Der Abschied fiel mir schwer und sogleich überkam mich Sehnsucht. Es war ein großer Spaß mit den Weasleys gewesen. Selbst meine Eltern waren begeistert, hatten sich hervorragend mit Arthur und Molly verstanden und erstmals, etwas, worauf ich lange gewartet und gehofft hatte, hatten sie eine Vorstellung von Magie bekommen. Dennoch war ich froh wieder nach Hause, in mein richtiges Zuhause zurückzukehren, fing aber bereits an den großen Weasley-Trupp zu vermissen, ehe ich den ersten Fuß über die Türschwelle des Fuchsbaus gesetzt hatte.
Meine Mutter hatte sich zumeist enthalten, sollte etwas über ihren Kopf hinweg gezischt sein oder sie Zeugin von anderen „Obskuritäten", wie sie es doch einmal genannt hatte, geworden war. Sie schien dieses „Andere" stumm zu genießen, es aber zugleich nicht allzu lieb gewinnen zu wollen. Erst, als wir in unseren eigenen vier Wänden waren, äußerte sie sich dazu, sagte, dass sie es erstaunlich fände und auch sehr beeindruckt war – am meisten von Mollys magischen Kochkünsten – und sie diesen Einblick sehr wertschätzte, aber sie sich dennoch hier, in ihrer Welt am wohlsten fühlte und sie nichts missen wollte, was sie auch nicht missen sollte.
Mein Vater hingegen schien der Magie gegenüber Achterbahn zu fahren. Mal fand er sie faszinierend, dann war sie ihm zuwider. Letzteres insbesondere dann, als er eines der Würgzungen-Toffees von Fred und George zum Opfer gefallen war, die sie ihm so überaus gastfreundlich angeboten hatten. Man konnte sich ungefähr vorstellen, wie sehr Molly an die Decke gegangen war, als mein Vater plötzlich mit einer einen Meter langen Zunge im Wohnzimmer gestanden war und vor lauter Panik beinahe den schönen Weihnachtsbaum umgeworfen hätte. Nachdem war er, sagen wir es mal so... etwas vorsichtig geworden. Jedenfalls kam auch er zu dem Entschluss, dass es nicht seine Welt war und am liebsten auch so wenig wie möglich damit zu tun hatte. Vor allem mit diesen Würgzungen-Toffees.
Vielleicht nicht gerade die Antworten, die ich mir erhofft hatte. Etwas mehr Begeisterung wäre schön gewesen, doch letzten Endes konnte ich es ihnen natürlich nicht verübeln. Beide jedoch versicherten mir, dass jetzt, wo Magie ein untrennbarer Teil von mir geworden war, er auch ein Teil von ihnen war, mit dem sie sich anfreunden würden.
War es nicht Ironie, dass ausgerechnet ich, diejenige, die ihr Leben lang unter Muggel aufgewachsen war, Slytherin zugeteilt worden war? Ich... die, die Muggel besser als der Rest der Slytherin kannte und wohl auch am Meisten mit ihnen gemein hatte. Der Großteil Slytherins war stolz auf seinen Blutstatus und legte ebenso großen Wert darauf. Das war aber nicht gleichbedeutend damit, dass alle von ihnen Muggelstämmige als geringerwertig ansahen oder derartiges. Sie waren eben stolz und Stolz zu haben war doch bestimmt nichts Schlechtes. Malfoy und einige andere Slytherin waren wohl eher die Extreme.
In letzter Zeit war mir häufig der Gedanke gekommen, dass ich gerne mehr über meine Herkunft wissen würde. Insbesondere seitdem mich Cedric darauf hingewiesen hatte, dass es unmöglich war eine Slytherin und muggelstämmig zur selben Zeit zu sein. Cedric... ob er seine Weihnachtsferien wohl mit Chang verbrachte? Kopfschüttelnd tat ich diesen Gedanken ab.
Im Grunde wusste ich nichts über meine leiblichen Eltern, mit der einzigen Ausnahme, dass zumindest ein Teil davon magisch begabt sein musste. Aber wo sollte ich zu suchen beginnen? Sollte ich überhaupt zu suchen beginnen?
Um ehrlich zu sein, hatte mich vor dem Besuch von Dumbledore vor gut einem halben Jahr nicht sonderlich für meine Herkunft interessiert. Zumindest verhältnismäßig betrachtet. Natürlich, jedes Kind hegte den Wunsch seine leiblichen Eltern kennenzulernen, so auch ich. Allerdings hatte es für mich bis Anfang letzten Sommers eine Nebensächlichkeit dargestellt. Etwas, das ich zwar wissen wollte, aber nicht unbedingt wissen musste. Doch nun, da ich mit absoluter Sicherheit sagen konnte, dass magischen Blut durch meine Adern floss, hatte dieser Wunsch und vor allem auch die Neugierde eine ganz andere Dimension angenommen. Und zum ersten Mal hatte ich sogar eine Idee, wo ich anfangen könnte.
Mein Entschluss stand fest. Mit einem Ruck war ich vom Sofa unseres Wohnzimmers aufgesprungen und lief in die Küche zu meinen Eltern, die sich über den anstehenden Silvesterabend unterhielten.
„Schon wieder Raclette an Silvesterabend? Das hatten wir bis jetzt jedes Jahr. Wie wäre es mit einer kleinen Abwechslung?" sagte meine Mutter und nippte dabei an ihrer heißen Tasse Tee.
„Das ist es ja. Das war von je an schon eingebürgerte Tradition bei uns, die wir auch beibehalten sollten. Silvester ist einfach nicht Silvester ohne Raclette. Reis ohne rohen Fisch ist immerhin auch kein richtiges Sushi."
„Was ist denn das für ein Vergleich?" fragte meine Mutter nun etwas schnippisch und wandte sich anschließend an mich, nachdem ich die Küche betreten und mich gegen den Türrahmen gelehnt hatte. „Alicia, was meinst du? Raclette oder etwas Anderes?"
Einen kurzen Blick zwischen ihnen wechselnd, zuckte ich hilflos mit den Schultern. „Ähm, Raclette?"
„Ich hab' dir ja gesagt." Dabei hob er triumphierend den Zeigefinger in die Höhe. „Das Sushi."
Ich konnte meine Mutter die Augen verdrehen sehen, die sich dann aber geschlagen gab.
„Gut, wie ihr wollt. Die Demokratie hat entschieden."
Mein Vater summte fröhlich dahin, während ich mich zu ihnen an den Tisch setzte. Wartete dabei noch ein paar Sekunden ab, bevor ich zu sprechen begann.
„Mum? Dad? Ich würde gerne etwas mit euch besprechen. Es geht um meine Adoption."
Beide Köpfe drehten sich just in meine Richtung, als hätte ich ein Tabu-Wort ausgesprochen. Nochmals ließ ich eine kurze Weile vergehen, doch als niemand mehr etwas sagte, fuhr ich fort: „Ich würde gerne meine Adoptionsunterlagen einsehen. Ihr habt sie doch bestimmt aufbewahrt, nicht wahr?"
Meine Mutter stellte ihre Tasse Tee ab, mein Vater rutschte steif auf seinem Stuhl herum und nahm eine aufrechtere Position ein. Kein Summen war mehr zu hören. Beide waren so plötzlich ein klein wenig zu Stein erstarrt, irgendwie steif und unbiegsam geworden.
„Woher dieses plötzliche Interesse daran?" Die Stimme meines Vaters klang tonlos. Die Stimmung in diesem Raum war unumstritten gekippt und ich fragte mich, weshalb? War es nicht die normalste Frage aller Fragen, die man sich als adoptiertes Kind stellte?
„Ich würde nur gerne wissen, wer sie sind...mehr über meine magischen Wurzeln erfahren."
„Und wer sagt, dass du magische Wurzeln hast? Wie hat es Mr. Weasley noch gleich genannt... Muggelstämmig? Wer sagt, dass du nicht ganz normale Eltern wie mich und deine Mutter hast?" fragte er mich und zunehmend kam mir diese Situation seltsamer vor. Als hätte sich die Windrichtung unvorhergesehen geändert.
„Ich bin mir sicher, dass zumindest ein Elternteil ebenso magische Fähigkeiten besitzt. Der Gründer des Hauses Slytherin, dem ich zugeteilt wurde, war---" dann stockte ich. „Egal, das ist kompliziert. Trotzdem würde ich gerne mehr über sie erfahren. Ich habe so viele unbeantwortete Fragen, die ich ihnen stellen möchte."
„Du bist nun bereits seit fast sieben Jahren bei uns. Und in all dieser Zeit hast du nicht einmal nach ihnen gefragt. Warum ausgerechnet jetzt?"
„Muss ich es denn nochmal erklären?" antwortete ich nun etwas ungeduldig. Warum war er so verbissen? Aus meiner Adoption hatten meine Eltern nie einen großen Hehl gemacht, doch nun wollte er mir kein Wort darüber verraten?
„Wir sorgen uns wirklich gut um dich."
„Darum geht es doch gar nicht, ich—"
„Tu das deiner Mutter und mir nicht an." unterbrach er mich plötzlich mit schroffer Stimme und sein Blick war so streng wie der von McGonagall.
Plopp. Mein Geduldsfaden war gerissen.
„Tu das deiner Mutter und mir nicht an." War er denn völlig übergeschnappt?
Meine Mutter starrte auf ihren Tee, beide Arme vor der Brust verschränkt, als wollte sie nichts mit diesem Gespräch zu tun haben.
„Was soll das denn heißen? Das hat doch gar nichts damit zu tun, dass ich von hier weg möchte oder, dass ich euch ersetzen möchte. Ihr seid meine Familie. Ich möchte doch nur---"
„Dieses Thema ist hiermit beendet." sagte er, stand ruckartig von seinem Esszimmerstuhl auf. Seine Miene war finster.
„Gut, wenn das alles ist, was ihr dazu zu sagen habt." meinte ich, einen letzten Versuch wagend.
„Das ist es." seine Worte waren kalt. So kalt hatte ich meinen Vater mir gegenüber noch nie erlebt.
Provokant schnaubte ich, stand ebenso auf und wollte einen dramatischen Abgang machen, als mich etwas mitten in meiner Bewegung Inne halten ließ. „Warte, einen Augenblick." Meine Brauen so weit zusammengezogen, dass es schmerzte, während es in meinem Kopf dampfte und rauchte. „Sagtest du gerade, dass ich mich seit fast sieben Jahren bei euch befinden würde?"
„Ja. Wieso?" irritiert sah er mich an, doch dann weiteten sich seine Augen. Nur ein Stück weit, doch ich konnte ihn genau sehen. Diesen Anflug von Nervosität. Seine Hand verkrampfte sich und die Farbe wich aus seinem Gesicht, genauso wie vor wenigen Tagen, als Mr. Weasley die Anzahl der in Großbritannien lebenden Hexen und Zauberer genannt hatte.
„Das ist gar nicht möglich." fuhr ich fort. „Ich war sechs Jahre alt, als ihr mich adoptiert habt, keine acht."
Er hielt die Luft an, während er noch etwas blasser wurde. „Ich fühle mich nicht so gut, außerdem bin ich müde. Vielleicht habe ich einfach etwas verwechselt." murmelte er. „Wenn ihr mich entschuldigt."
Meine Mutter saß nach wie vor an selber Stelle, hatte sich keinen Zentimeter weit bewegt, sah auch nicht auf, als mein Vater die Küche verließ.
Das war ja wohl DIE dämlichste Ausrede, die ich je gehört hatte! Dass er sich selbst nicht lächerlich vorkam. Innerlich brodelte ich, doch zeitgleich lag mir ein Stein, der Tonnen wiegen musste, im Magen. Irgendetwas war hier faul. Stinkfaul.
„Gute Nacht." zischte ich ihm wütend nach, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in mein Zimmer hoch. Schön laut über die Treppe, sodass es jeder hören konnte. Um dem Ganzen noch die Krone zu verpassen, schlug ich meine Zimmertür mit einem Ruck hinter mir zu, sodass sie mit einem ohrenbetäubenden Krachen ins Schloss fiel, welches durchs gesamte Haus fegte.
*****
In den nächsten Tagen beschäftigte ich mich mit ganz gewöhnlichen Dingen, nahm meiner Mutter etwas Hausarbeit ab und vermied es meinem Vater über den Weg zu laufen, obgleich er sich am nächsten Tag für seinen Ausbruch bei mir entschuldigt hatte. Noch immer war ich wütend auf ihn und wagte es ebenso wenig dieses Thema abermals anzusprechen. Stattdessen vergrub ich meine Nase in Büchern. Von Romanen bis hin zu Lehrbüchern Hogwarts'.
Doch je länger ich in meinem Zimmer saß, umso eher wurde mir bewusst, dass es Zeit war, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich wollte Antworten haben und ich würde Antworten bekommen.
Also nutzte ich die Zeit, als mein Vater heute bereits früh zur Arbeit gefahren war, um meine Mutter auszuhören, die sich – eher untypisch für sie – mit keinem Sterbenswörtchen zu dem Streit zwischen meinem Vater und mir geäußert hatte. Klar, es war nicht sonderlich fein von mir meine Eltern gegeneinander auszuspielen, aber sie ließen mir doch praktisch gar keine Wahl.
So behauptete ich gerne ein paar alte Fotoalben mit ihr ansehen zu wollen. Sonderlich viel wusste ich nicht über meine Verwandtschaft. Auch nicht darüber, wo meine Eltern zuvor gelebt hatten. Einzig und allein auf richtig alten Fotos hatte ich das ein oder andere Gesicht eines Onkels oder einer Tante erkannt, den Geschwistern meines Vaters, zu denen er schon lange keinen Kontakt mehr hielt und die ich nie kennengelernt hatte. Familienstreitigkeiten oder so ähnlich.
Gemeinsam machten wir es uns im Wohnzimmer gemütlich, saßen Schulter an Schulter gelehnt auf dem Sofa und blätterten in einem der Alben herum.
„Kannst du dich noch an Georgina Bishop erinnern?" Sie zeigte auf ein Bild von mir und einem dunkelhaarigen Mädchen. „Schade, dass eure Freundschaft so in die Brüche ging. Um ehrlich zu sein, habe ich das nie ganz verstanden." seufzte meine Mutter, schwelgte dabei in Erinnerungen. Georgina lebte nicht unweit entfernt von uns und war damals meine beste Freundin gewesen. Der Kontakt zu ihr war noch abgebrochen, bevor diese ganze Geschichte mit der Brandlegung in meiner alten Schule, der ich bezichtigt worden war, die Runde gemacht hatte. Ein einfacher Streit unter Mädchen, mehr war es nicht gewesen. Allzu gut konnte ich mich daran nicht mehr erinnern, bloß, dass ich danach nie wieder etwas mit ihr zu tun haben wollte. Das hatte sich bis heute nicht geändert.
„Das ist schon ziemlich lange her" meinte ich, konnte mich dabei noch genau an das riesige Baumhaus in ihrem Garten erinnern. Früher hatten wir jedes Mal darin gespielt und manchmal sogar darin übernachtet. Insgeheim war ich ein klein wenig neidisch darauf gewesen.
Als wir dieses Album beendet hatten, stand meine Mutter auf, um ein älteres Album hervorzuholen. Wir hatten beinahe alle durch, doch bis jetzt waren lediglich Aufnahmen dabei gewesen, die eindeutig vor meiner Geburt, oder nach meinem neunten Geburtstag aufgenommen worden waren.
„Du, Mum, haben wir hier eigentlich auch Fotoalben von meinem ersten Schultag?" Eine weitere Erinnerung, die fehlte. Etwas, das mir bis gerade eben nie sonderlich wichtig erschienen war. Das war doch eigenartig, oder etwa nicht?
„Du weißt ja, dass wir damals einen Wasserrohrbruch hatten und einige Fotoalben nicht mehr zu retten waren. Darunter auch leider dieses. Sehr schade. Du warst ein entzückendes Kind." erwiderte sie.
„Was ist mit diesem hier?" fragte ich und zeigte auf eines ganz oben im Schrank. Es war so hoch oben, dass es meine Mutter auf Zehenspitzen gestellt, gerade noch so erreichte.
„An dieses hier kann ich mich gar nicht erinnern." meinte sie verwundert, streckte ihre Arme weit nach oben. Doch als sie es berührte, überkam mich eine Gänsehaut. Ein merkwürdiger Schüttelfrost durchzuckte ihren Körper für den Bruchteil einer Sekunde. So, als hätte sie einen kurzen, intensiven Stromschlag verpasst bekommen. Dann ließ sie sich wieder zurück auf ihre Fußsohlen gleiten.
„Nicht dieses." flüsterte sie so plötzlich.
Ich saß wie angewurzelt an meinem Platz. Mein Herz pochte wie wild.
„Was ist damit?" fragte ich zaghaft, ein dicker Kloß steckte mir im Rachen, meine Hand wanderte instinktiv zu meinem Zauberstab.
„Ich weiß nicht..." Ihre Worte klangen dünn und abgehackt.
„Mum?" sprach ich sie vorsichtig und kaum hörbar an. Sie zuckte zusammen und mein Herz schien an diesem Punkt stehen zu bleiben. Sie sah benommen um sich, so als würde sie gerade aus einer Trance erwachen. Dann drehte sie sich um und fixierte mich mit ihren dunklen Augen.
„Oh, Alicia. Was wolltest du nochmal?"
„Ich habe gefragt, ob du mir eine schöne, heiße Tasse Tee machen könntest." log ich.
„Ach ja, genau. Ich bin so vergesslich. Natürlich mache ich dir eine Tasse Tee." Wieder war da dieses freundliche Lächeln, was mich lediglich nicken ließ. Als sie aufgestanden war, drehte sie sich nochmal zu mir um. „Welchen Tee würdest du denn gerne haben?"
„Ein Chai-Tee wäre schön."
Sie nickte, schien wie ausgewechselt zu sein. Mein Blick schwankte zurück zu dem Album. Was war hier los?
*****
Noch in derselben Nacht, nachdem meine Eltern zu Bett gegangen waren, schlich ich mich hinunter ins Wohnzimmer. Es gab nicht viele Dinge, die ich hinter dem Rücken meiner Eltern beging, doch diese eine Sache war wichtig und sollte unter allen Umständen mein eigenes, kleines, ungeteiltes Geheimnis bleiben. Aus dem Esszimmer holte ich mir einen Stuhl, schlich so leise wie möglich zurück und stellte ihn an den Schrank, um ans oberste Regal zu gelangen. Dort stand es, das Album. Der Einband war relativ schlicht gehalten, im altmodischen Blau, mit einem einzigen, goldenen Streifenmuster. Unauffällig eben.
Ich schluckte, als ich meine Hand danach ausstreckte. Würde es mir nun genauso wie meiner Mutter gehen? Würde mich auch so plötzlich eine seltsame Amnesie befallen und mich zu Bett gehen lassen wollen?
Vorsichtig legte ich einen Finger darauf. Nichts geschah. Dann einen zweiten. Noch immer nichts. Handelte es sich dabei auch um das richtige Album? Natürlich... ich war mir ganz sicher. Staub wirbelte auf, als ich es behutsam herausnahm und wieder zurück auf den Boden kletterte. Nichts Auffälliges. Alles so leise wie möglich, als würde ich wie eine Katze auf Samtpfoten schleichen. Wenn sie geweckt werden würden, würde ich riesengroßen Ärger bekommen. Gigantischen Ärger, den ich mir nicht einmal jetzt, wo trotz der unheimlichen Stille im Haus Adrenalin durch meine Adern floss, vorstellen wollte. Das hier war wichtig. Es war für mich wichtig und vielleicht war es sogar für alle von uns wichtig. Nach wie vor wollte mir die Reaktion meines Vaters nicht einleuchten, ganz zu schweigen von dem seltsamen Blackout meiner Mutter heute Nachmittag. Etwas war hier faul und ich hatte es mir persönlich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, was es war. Vielleicht war es ja der Schlüssel zu meiner Vergangenheit, meinen Eltern, dem Brief...
Als ich vorhin noch hellwach im Bett gelegen war und darauf gewartet hatte, dass die Zeit endlich vorüber gehen würde, war mir ein beängstigender Gedanke gekommen. Dieser merkwürdige Schüttelfrost meiner Mutter, ihre Desorientierung und diese Amnesie... Was, wenn sie verflucht worden war? Was, wenn sie beide verflucht worden waren, ohne es zu wissen? Ich hatte in der Bibliothek gelesen, was Flüche oder Zauber mit einem anstellen konnten. Welch grässliche Dinge bereits in der Vergangenheit geschehen waren, insbesondere im Mittelalter. Ein dunkler Zauberer hatte beispielsweise einen Muggel mit dem Imperiuszauber belegt und ließ ihn daraufhin seine gesamte Muggelfamilie auslöschen. Schauergeschichten zu später Stunde. Nun überkam mich auch ein Schüttelfrost, aber aus anderen Gründen.
Vorsichtig setzte ich mich auf den Esszimmerstuhl, legte das Album auf meinen Oberschenkeln ab und öffnete es. Im Licht der Taschenlampe, die ich mitgenommen und angeknipst hatte, sah ich ein bisschen Staub aufwirbeln. Gespannt leuchtete ich auf die Fotos, doch es waren keine dort.
Es war leer.
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