Kapitel 1 - Old Habits


Wenn man im Büro des Direktors saß, kam man sich auf einmal ganz klein vor. Wie ein Winzling, ein Zwerg. Es war nicht das erste Mal, dass ich es mir tief in einem dieser Stühle gemütlich gemacht hatte. In jenen, in denen man förmlich versank oder vielmehr versinken wollte. Jeden Augenblick würden meine Eltern mit einem besorgten Blick durch diese Tür schreiten und den Direktor davon überzeugen, dass ich eine anständige Schülerin wäre und nie tun würde, was auch immer mir die Schule vorwerfen mochte. War es denn nicht genau das, was Eltern immer taten und Direktoren oder Lehrer nicht weniger stets zu hören bekamen? Eine Endlosschleife, die für beide Seiten genauso ermüdend wie langweilig war. Aber auch für mich fühlte es sich wie eine Wiederholung an, jedoch keine sonderlich schöne. So als hätte jemand Zuhause auf Replay gedrückt, um mich diesen Alptrum nochmals durchleben zu lassen. Nur leider war das hier die harte Realität und dem Gesichtsausdruck des Rektors nach zu deuten, saß ich in ernsthaften Schwierigkeiten.

Nervös kaute ich meine Unterlippe wund, blickte im stetigen Takt auf die Wanduhr, die über einigen eingerahmten Urkunden der Schule hing. 15:46 Uhr. Weshalb brauchten sie so lange?

Der Blick des Direktors lag schwer wie ein Stein auf mir und das Prasseln seiner Fingerspitzen auf seinem teuren Mahagonischreibtisch vermischte sich mit dem Ticken der Uhr. Ob er mich damit noch nervöser machen wollte? Bestimmt. Doch ich wagte es trotzdem nicht, ihn anzusehen. Nicht, weil ich Angst vor ihm hatte, sondern vielmehr davor, dass mir ein weiteres Mal nicht geglaubt werden würde. So wie vergangenes Jahr, als ich von meiner alten Schule geworfen worden war. Angeblich hatte ich die Cafeteria in Brand gesetzt. Was war vorgefallen? Nun, wie sollte man etwas am besten beschreiben, wenn es dafür ganz klar keine logische Erklärung gab? Alles begann mit einem Griff zu meinen Lehrbüchern, gefolgt von einem Zischen und wenige Sekunden später einem lichterloh brennenden Tisch. So als wären kleine Funken aus meiner Hand entsprungen und hätten alles in Brand gesetzt. Das Feuer hatte sich rasend schnell ausgebreitet. Schneller als es für jedes normale Feuer üblich gewesen wäre. Und dann hatte es Besitz von den Sitzbänken und den nächsten und daraufhin dem übernächsten Tisch ergriffen... und so weiter und so fort. Alles war so schnell gegangen. Zum Glück war ich wie üblich allein am Tisch gesessen, hatte mich in Sicherheit bringen können, noch bevor mich das Feuer erreichte und mir meine Augenbrauen versengen konnte. Verletzt wurde glücklicherweise niemand, doch der Schaden war immens gewesen. Ungewöhnlich, dass aufgrund eines brennenden Tisches so plötzlich auch alles Umliegende so rasch zu brennen begann, war es nicht so? Es gab dafür nun mal keine einleuchtende Erklärung und noch weniger einleuchtende Beweise. Als sie mich später durchsuchten, hatten sie nichts gefunden. Kein Feuerzeug, keine Brandhölzer, gar nichts. Zumindest nichts, was ein Feuer verursachen könnte. Doch es war mein Tisch gewesen, der auf unerklärliche Weise zu brennen begonnen und damit beinahe die ganze Cafeteria in Brand gesetzt hatte. Mein Tisch, an dem ich allein gesessen wara. Selbst dann, als sie an mir nichts gefunden hatten, waren alle stark davon überzeugt gewesen, dass ich das brandverursachende Objekt vor der Durchsuchung losgeworden und dafür verantwortlich wäre. Zumindest hatte es vermeintliche Zeugen gegeben, die irgendein sonderbares Objekt an mir gesehen hatten. Es war nie zu einem Verfahren gekommen, die Staatsanwaltschaft hatte es mangels Beweise einstellen müssen – und aufgrund meiner Minderjährigkeit. Das hatte die Schule allerdings nicht an einem Rauswurf gehindert. Meine Eltern hatten sich über diesen Vorfall nie geäußert, doch man hatte ihnen ansehen können, dass sie nicht wussten, was sie glauben sollten. Das war das Schmerzlichste daran gewesen. Im Anschluss war ich auf diese Privatschule hier geschickt worden. Keine billige, versteht sich, was man hier in diesem Büro allein schon an den vielen Auszeichnungen unweigerlich erkennen konnte, oder den vielen kunstvollen Gemälden an den Wänden, die den Raum irgendwie überfüllt wirken ließen. Und natürlich an diesem dämlichen Mahagonischreibtisch, auf dem der Direktor weiterhin mit seinen Fingerspitzen prasselte.

Und nun fand ich mich also wieder im Büro des Direktors und ich war mir fast sicher, dass er mir kein einziges Sterbenswörtchen glauben würde. Dabei sprach ich nichts als die Wahrheit. Als würde er... als würden alle hier wollen, dass ich ein Geständnis für etwas ablegte, das ich nicht begangen hatte.

Aber so war es schon immer gewesen. Ich war immer schon „anders" gewesen. Als wäre ich fehl am Platz und würde hier nicht hingehören. So fühlte es sich allerdings nicht nur für die anderen an. Eine einsame Rolle, mit Sicherheit. Damit erübrigt sich wohl auch die Frage, weshalb ich schon in meiner alten Schule allein gesessen war. Doch das war nicht immer so gewesen. Früher hatte ich ein Freunde gehabt. Nicht viele, aber genug. Aber nach und nach entfremdete ich mich mit ihnen oder sie empfanden mich als seltsam, zumindest hatte das mal eine gesagt, nachdem sich die Haarfarbe ihrer Barbie änderte, als sie mich damit spielen ließ.

„Miss Hastings?" ertönte es plötzlich von dem Direktor und mein Blick hob sich, zwang mich regelrecht ihm in die Augen zu blicken, ohne dass er die Missgunst darin erkennen konnte.

„Ja, Sir?"

„Ist Ihnen klar, wie ernst die Lage ist?"

Mein Mund öffnete sich bereits, um etwas zu erwidern, doch er fuhr einfach fort.

„Mr. Whitman liegt im Krankenhaus, bis jetzt haben wir noch keine Meldung über seinen Zustand erhalten. Es ist also wichtig, dass Sie mir ganz genau erzählen, was geschehen ist." Sein Blick war so eindringlich, dass es kein Leichtes war ihm standzuhalten. Doch hätte ich zur Seite geblickt, hätte er sich darin bestätigt gefühlt, dass ich log. „Was genau ist vorgefallen?"

„Ich habe Ihnen bereits alles gesagt." erwiderte ich so ruhig ich konnte. „Es tut mir wirklich leid, was mit Mr. Whitman geschehen ist und ich hoffe sehr, dass er schnell wieder gesund wird, doch ich habe damit nichts zu tun."

Alles, was ich sagte, fühlte sich falsch an. Doch was sollte ich noch sagen? Wenn ich nun mit der Wahrheit herausrückte, würde er mich nicht nur für völlig verrückt erklären, sondern mir noch weniger glauben, als er es ohnehin schon tat. Ich war mir dieses Mal ganz sicher, was ich gesehen hatte. Etwas, das nicht sein konnte. Etwas, das nicht existieren konnte. Etwas... Magisches. Etwas, das keinen Sinn ergab.

„Waren Sie wütend auf Mr. Whitman, weil er Ihnen Nachsitzen verordnet hat?"

Ich hielt für einen kurzen Moment inne, fühlte mich hilflos und ausgeliefert. Denn ich verstand, warum er mir nicht glaubte. Ich hatte schon Mühe, mir selbst zu glauben. Eine Haarsträhne kitzelte unangenehm an meiner Nasenspitze und ich schlang meine Arme um meinen Brustkorb, als wäre mir kalt. „Natürlich war ich wütend wegen dem Nachsitzen."

„Und dann?" Der Direktor faltete seine Hände auf dem Schreibtisch. Er wollte es nicht aussprechen, doch ich wusste, dass er dachte, dass ich etwas damit zu tun hatte. Dass ich etwas Schreckliches getan hatte, weswegen Mr. Whitman nun im Krankenhaus lag. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob dem nicht auch tatsächlich so war.

„Den Rest der Geschichte kennen Sie bereits." Zumindest fast alles. beendete ich in Gedanken. Die Erinnerung an jene Szene von vor nicht einmal einer Stunde blitzte vor meinem inneren Auge auf und Mr. Whitmans Worte hallten wie ein Echo in meinem Kopf. Ich konnte alles genau vor mir sehen.

Seine pochende Ader an der Stirn, als er sich zu mir umgedreht hatte, die letzten schrecklichen Silben aussprach und sich klitzekleine Spucketröpfchen von seinen Lippen lösten. Jedes einzelne seiner Worte hatte mich wie einen meterhohen Tsunami getroffen und im selben Moment hatte ich die heiße Spur einer Träne gespürt, die sich von meinen Wimpern löste. Meine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, sodass meine Knöchel zu schmerzen begonnen hatten. Und da hatte ich es gefühlt. Dieses unbändige Verlangen in mir, dass Mr. Whitman aufhören sollte zu reden, dass er endlich aufhören sollte auch nur einen Ton von sich zu geben. Und genau so war es gewesen. Er verstummte. Griff sich an den Mund. Zuerst nur mit einer Hand, dann mit deutlich hektischerer Bewegung mit der zweiten. So als würde er etwas sagen wollen, doch wäre nicht mehr im Stande seinen Mund zu öffnen oder gar seine Lippen zu bewegen. Er versuchte daran zu ziehen, doch nichts bewegte sich. Um mich herum, auf unmittelbarer Augenhöhe, waren Dinge geschwebt, welche Schüler zuvor im Klassenraum vergessen hatten. Sie hatten in der Luft zu zittern begonnen, als wären sie Schwingungen ausgesetzt. Papierstückchen, Kugelschreiber, eine Haarspange. Und ich konnte sehen, dass Mr. Whitman es ebenso sah und auf einmal... war er ohnmächtig geworden und dabei unsanft mit dem Kopf auf dem harten Boden aufgekommen. Ebenso die Gegenstände, die ein schepperndes Geräusch verursacht hatten. Das Nächste, an das ich mich erinnern konnte, war, dass jemand die Tür aufgerissen hatte und dessen Blick abwechselnd zwischen dem bewusstlosen Mr. Whitman und mir hin und her gesprungen war.

Dinge, die schwebten. Ein Mund, der so plötzlich zugewachsen schien. War es das, was der Direktor hören wollte? Es war ganz einfach wie... Magie gewesen und aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich dafür verantwortlich war. Es war bis jetzt drei Mal vorgekommen, dass neben mir auf einmal Dinge zu schweben begonnen hatten. Nur ganz kurz, zumindest waren sie scheppernd zurück an Ort und Stelle gefallen, sobald ich meinen Blick daraufgelegt hatte. Bis zum heutigen Tag war ich mir relativ sicher gewesen, dass es sich dabei lediglich um Hirngespinste handelte. Um Tagträumereien. Doch heute war es anders gewesen. Heute hatte ich es nicht nur wirklich gesehen. Nein. Heute hatte ich es gefühlt.

Ein Klopfen ertönte an der Tür des Rektors und meine Eltern betraten das Büro.

*****

Die Autofahrt verlief stumm. Niemand sagte etwas. Diese unangenehme Stille hatte sich wie ein unsichtbarer Schleier über uns gelegt. Es war hauptsächlich mein Vater gewesen, der mit dem Direktor gesprochen hatte. Darüber, dass Mr. Whitman bereits älter war, er vermutlich einen Herzinfarkt gehabt hatte und sein herzlichstes Beileid dazu aussprach. Irgendwann hörte der Direktor auf, anschuldigende Fragen zu stellen und sagte, dass man bloß auf Mr. Whitmans Aussage zu diesem Vorfall warten könnte, sobald er wieder auf dem Weg der Besserung wäre. Dis dahin wäre es das Beste, wenn ich nicht zur Schule käme.

Jegliche Farbe wich aus meinen Lippen, als ich sie fest aufeinanderpresste. Wo war ich da bloß schon wieder hineingeraten? Ohne es bemerkt zu haben, war das Auto zum Stillstand gekommen und ich blickte geradewegs aus der Windschutzscheibe auf unser Garagentor. Das Summen des Motors erstarb und meine Eltern stiegen aus. Ich tat ihnen kaum eine Sekunde später gleich und folgte ihnen mit gesenktem Kopf zur Eingangstür. Anspannung, lag in der Luft, ich konnte es fühlen. Waren sie wütend? Enttäuscht? Ein schwermütiges Gefühl hatte sich in meiner Magengrube abgesetzt und ich wünschte, das alles hier war nur ein schrecklicher Traum und ich würde jeden Augenblick aufwachen. Als mein Vater die Haustüre aufgeschlossen hatte, stürmte ich regelrecht in unser Haus und wollte nach oben in mein Zimmer laufen. Weg von hier. Einfach so schnell wie möglich weg von hier. Doch die Stimme meiner Mutter ließ diesen Wunsch wie eine Seifenblase platzen.

„Alicia? Möchtest du darüber sprechen, was vorgefallen ist?"

Langsam drehte ich mich um und sah in ihr Gesicht. Der Ausdruck in ihren Augen war undefinierbar. Und dann traf mich ihre Frage wie ein harter Schlag ins Gesicht und ließ all meine zurückgehaltenen Gefühle der letzten Stunden brechen, so wie ein angestauter Damm, der dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Eine erste heiße Träne kullerte mir über die Wangen, hinab zu meinem Kinn, wo sie abperlte und einen dunklen Fleck auf meiner weißen Bluse hinterließ. Dann eine zweite und innerhalb eines Sekundenbruchteils waren es so viele, dass ich aufhörte zu zählen.

„Glaubst du tatsächlich, ich hätte Mr. Whitman etwas angetan?" Meine Stimme bebte.

Sie schüttelte augenblicklich den Kopf. „Nein, das glauben wir nicht. Wir möchten doch nur verstehen---"

„Warum ich so bin, wie ich bin? Meinst du das?" schrie ich sie an, schmeckte meine salzigen Tränen auf der Zunge.

Anfangs hatte ich es noch mit der Wahrheit versucht, über all diese merkwürdigen Dinge, die mir passierten, doch bald schon hatte ich dieses belustigte Funkeln in den Augen meiner Mutter gesehen. Jenes, das mir alles darüber sagte, was sie dachte. Ein fantasievolles Kind, und die versteckte Frage dahinter, ob es nicht vielleicht doch etwas zu fantasievoll war. Mein Vater hingegen hatte sich stets zur Seite gedreht, hatte den Raum verlassen oder mich gebeten, endlich mit diesem Unsinn aufzuhören und nicht wieder davon zu sprechen. Egal, was man sagte, alles klang falsch. Jedes Wort hörte sich verdreht an. Es rief ein besonders abscheuliches Gefühl der Hilflosigkeit hervor, das sich jedes Mal in meiner Brust ausgebreitete und wann immer es besonders intensiv geworden war, hatte ich an mir selbst zu zweifeln begonnen. Über die Jahre hatten sich die Zweifel gesät und Wurzeln geschlagen. Sie wucherten wie Unkraut. Was war bloß falsch mit mir?

„Nein, mein Liebling. Wir wollen doch nur verstehen, was geschehen ist."

Dann, so plötzlich, kamen beide die Treppen hoch und zogen mich in eine Umarmung. Anfänglich wollte ich mich wehren, wollte sie wegstoßen. Doch sobald sich ihre Arme um mich schlangen, gab ich nach.

„Ich doch auch." weinte ich und so standen wir also alle drei da und hielten uns in den Armen. So lange, bis mein Schluchzen verebbt war und die Tränen versiegt.

Meine Mutter bereitete mir eine Tasse Tee zu und mein Vater ließ mir einige aufmunternde Worte zukommen, ehe er wieder zurück ins Büro musste. Später verschanzte ich mich in meinem Zimmer, brauchte nach diesem schrecklichen Tag einfach Zeit für mich allein um wieder zur Ruhe zu kommen. Erschöpft setzte ich mich an die Bettkante und als ich da so allein saß, umgeben von vollkommener Stille, fühlte ich, wie erneut die Tränen kommen wollten, doch ich konnte nicht. Meine Finger krallten sich in mein Leintuch und ich atmete tief ein und aus, war der Ansicht, dass ich heute bereits genug geweint hatte. Dann dachte ich nach. Über was? Einfach über alles. Über mein Leben, darüber, dass ich meine Eltern eigentlich gar nicht verdient hatte, denn sie waren so gut zu mir und geriet andauernd in Schwierigkeiten. Das Wissen, dass ich zudem adoptiert war, ließ die Gewissensbisse nicht gerade erträglicher werden. Hätten sie damals ein anderes Kind genommen, wäre ihnen all dieser Ärger erspart geblieben. Sie hätten ein ruhiges, friedliches Leben, ohne jemandem, der ständig alles auf den Kopf stellte. Jemanden, der einfach war. Einfach war zu---- Ich verbot mir diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Mein Blick fiel auf das Foto von meiner Geburtstagsparty, als ich gerade die neun Kerzen auf meiner Torte auspustete. Daneben standen ein paar wenige Freunde mit strahlenden Gesichtern und hinter all diesen meinen Eltern, die mir mit begeisterten Augen dabei zusahen. Damals war alles noch so unbeschwert und einfach gewesen. Keine Verantwortung, die einem auf den Schultern lag. Keine Sorgen, die einen zu schaffen machten. Nur Haarfarben verändernde Barbiepuppen. Seufzend strich ich mir eine Haarsträhne zurück, als sich plötzlich etwas im Glas des Bildes spiegelte. Oder besser gesagt jemand. Verblüfft kniff ich meine Augen zusammen, um auch ganz sicher zu sein, dass ich mich nicht irrte. Umrisse. Darin spiegelten sich Umrisse eines Mannes in einer Robe. Ich wagte es nicht mich zu bewegen. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meine Brust, meine Augen weit vor Schock aufgerissen. Die Gänsehaut auf meinen Armen begann heftig zu kribbeln.

„Die Kindheit ist bekanntlich die schönste Zeit eines jeden Menschen. Doch wer daran festhält, der wird für immer etwas hinterherjagen, das man nicht wiedererlangen kann und dabei blind für Augenblicke in der Gegenwart bleiben."

Diese Stimme brannte sich wie ein glühendes Eisen in mein Gedächtnis und ließ mich für einen Moment zu Stein erstarren. Selbst mein Brustkorb weigerte sich anzuheben, bei jedem Atemzug, den ich machte. Das war alles nur ein Traum. Dieser ganze grauenvolle Tag war nur ein schrecklicher Traum. Einige Sekunden lang vernahm ich daraufhin nichts als das laute Pochen meines Herzens. Hatte ich mir das nur eingebildet? War er verschwunden? Innerlich zählte ich von Zehn abwärts, bis ich bei Null angelangt war, ehe ich es wagte, mich umzudrehen. In jene Richtung, aus der zuvor die Stimme gekommen war und blickte geradewegs in warme, von Falten umgebene, blaue Augen, in welchen sich Güte und Neugierde spiegelten. Verblüfft japste ich nach Luft. Vor mir stand ein alter Mann mit langem, weißem Bart und in einer bodenlangen Robe angekleidet. Er sah aus, als wäre er einem Film entsprungen, obwohl er mir auf eine seltsame Art und Weise bekannt vorkam. So als hätte ich ihn schon mal auf einem Bild oder einem Zeitungsauschnitt gesehen- Mein verdatterter Blick amüsierte ihn wohl, denn ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen für einen kurzen Augenblick.

„Wie...Wer...?" setzte ich an, doch meine Stimme versagte. Wie war er in mein Zimmer gelangt? War er von meinen Eltern hereingebeten worden? Doch ich hatte niemanden mein Zimmer betreten gehört.

„So viele Fragen, nicht wahr? Doch damit bist du nicht allein." sagte er und schien zu schmunzeln, denn die Falten um seine Augen wurden sichtbarer „Doch bevor ich sie Ihnen beantworte, Miss Hastings, gibt es da etwas, das Ihnen gehört und seinen Weg zurück zu Ihnen finden muss." Ein erneutes Kribbeln durchzog meinen Körper, als er meinen Namen erwähnte. Er wusste, wer ich war. Der alte Mann streckte mir seine Hand entgegen und es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass er in dieser einen Briefumschlag hielt. Instinktiv runzelte ich meine Stirn und beäugte misstrauisch das Schreiben, unschlüssig darüber, ob ich es an mich nehmen, oder eines meiner in Reichweite liegenden Stofftiere nehmen, ihm entgegenwerfen und danach zur Tür sprinten sollte. Meine Gedanken rasten nur so, während ich mir ausrechnete, wie hoch meine Chancen standen, wirklich die Türe zu erreichen. Eher schlecht, kam ich zu dem Ergebnis. Doch vor allem war da etwas Anderes, das mich dazu bewegte, nicht die Flucht zu ergreifen. Vielleicht auch nur der Gedanke, dass an dem heutigen Tag nichts normal gewesen war. Zögerlich nahm ich den Brief an mich, während ich skeptisch zu dem alten Mann hinüber lugte, der mir zunickte und somit andeutete, ihn zu öffnen. Äußerst vorsichtig wendete ich den Brief und beäugte das Siegel darauf. Es war bereits gebrochen, doch man konnte es dennoch klar und deutlich erkennen. Ein Löwe, ein Dachs, ein Adler und eine Schlange waren rund um ein großes „H" darauf erkenntlich, darunter noch ein Spruch.

„Was ist das? Ist der für mich?" Meine Augenbrauen hatte ich so weit hochgezogen, dass es sich anfühlte, als würden sie jeden Augenblick hinter meinem Haaransatz verschwinden. Für den seltsamen Mann musste es wohl so aussehen, als würde ich befürchten, dass sich in dem Brief eine Bombe befinden würde.

Er nickte. „Nur zu."

Unsicher öffnete ich den Brief und holte zwei Papiere hervor, las die erste Zeile auf dem vorderen Zettel.

Sehr geehrte Miss Hastings,

Ruckartig sah ich zu dem alten Mann auf, der mich mit einer Kopfbewegung aufforderte weiterzulesen. Meine Hand zitterte leicht. Was war hier los? Und weshalb war der Brief bereits geöffnet gewesen, wenn er doch an mich adressiert war? Alles in meinen Kopf schien sich zu drehen, schrie danach, nun doch die Stofftierschleudervariante anzuwenden, doch ich tat nichts dergleichen. Obwohl mir ein völlig Fremder gegenüberstand, überkam mich das Gefühl, dass keine Gefahr von ihm ausging. Seltsam, war es nicht so? Mein Blick ruhte noch einige Sekunden länger auf dem ungebetenen Gast, ehe ich weiterlas.

wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am 01. September. Wir erwarten Ihre Eule spätestens am 31. Juli.

Mit freundlichen Grüßen

Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin

„Schule für Hexerei und Zauberei? Hogwarts?" wiederholte ich nun vollends verwirrt. Diese Worte hallten nun unwiderruflich in meinem Kopf. Wie ein nie enden wollendes Echo. Und wer war Minerva McGonagall? Er konnte es ja nicht sein...

„Wer sind Sie?" fragte ich nun. Genau das waren meine Worte. Kein „Gibt es wirklich so etwas wie Hexerei und Zauberei?" oder ... für mich noch immer die eigentlich logischste Frage, die ansonsten jeder, abgesehen von mir, gestellt hätte: „Verdammt nochmal, wollen Sie mich eigentlich auf den Arm nehmen? Sie brechen hier in mein Haus ein, sehen sich meine privaten Fotos an und wollen mir dann erzählen, dass es so etwas wie Magie wirklich gibt? Wenn sie nicht sofort verschwinden, dann rufe ich die Polizei!"

Vollkommen nachvollziehbar, und vermutlich wären das auch haargenau meine Worte gewesen, wenn ich heute nicht noch einen weiteren Beweis von der Existenz des Übernatürlichen gehabt hätte.

„Ich bin Albus Dumbledore, der Schulleiter von Hogwarts. Und Sie, Miss Hastings, sind ein unglücklicherweise abhandengekommener Teil davon."

„Sie meinen..." Ich stockte und irgendetwas in meinem Hinterkopf begann sich in Bewegung zu setzen. Magie... Mein Blick wanderte abermals zu dem Stück Pergament, das ich fest umschlossen hielt. War dieser Brief der Schlüssel zu all den Antworten, die ich solange gesucht hatte? Heute, als ich die schwebenden Gegenstände und den zugewachsenen Mund von Mr. Whitman gesehen hatte, hatte ich gewusst, dass etwas mit mir nicht stimmte. Nicht stimmen wollte. Etwas tief in mir wollte sich nicht weiter versteckt halten, wollte an die Oberfläche dringen. Es war, als würde ein innerer Orkan in mir wüten, mit der einzigen Absicht, endlich aus seinem inneren Käfig ausbrechen zu können. „Sie meinen, ich bin eine Hexe?"

Eine Hexe... Mir wurde schlecht.

Dumbledore nickte und etwas in seinen blauen Augen funkelte dabei.

„Und... Und was meinen Sie mit abhandengekommen?" flüsterte ich mit heiserer Stimme. Vorsichtig drehte ich den Umschlag und betrachtete bedächtig das aufgebrochene Siegel .

„Dieser Brief, den Sie gerade in Ihren Händen halten, hätte Sie bereits vor ganzen drei Jahren erreichen sollen."

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