Abfahrt
Was ist das? Neugierig nähert sich der kleine Kater dem großen schwarzen Teil, das nun fast den gesamten Tisch einnimmt.
Er nimmt Anlauf, springt auf den Tisch und von dort auf das seltsame Dingsbums. Es entfährt ihm ein verwundertes Maunzen, als die Oberseite nachgibt und leicht einsinkt.
"Tigre, runter vom Koffer!", befiehlt Ronja und gibt ihm einen sanften Stoß in Richtung Bett. Tigre miaut empört und lässt sich demonstrativ auf dem Koffer nieder, denn er lässt sich nicht gerne herumkommandieren.
Wenn Ronja jemanden haben will, der auf sie hört, soll sie zu Amy gehen, dem Hund der Familie.
Also, wozu braucht man so einen Koffer?, will Tigre nun wissen und blickt Ronja fragend an. Natürlich versteht sie kein Wort und packt ihn bloß um die Mitte herum, um ihn dann auf den Boden plumpsen zu lassen. Aua, beschwert er sich, obwohl sie ihm natürlich kein Haar gekrümmt hat. Er will hauptsächlich Aufmerksamkeit.
"Ich muss jetzt packen, sorry Tigre."
Ronja fängt an, diverse Kleidungsstücke aus ihrem Schrank in den Koffer zu räumen.
"Morgen geht es endlich nach Frankreich, endlich."
Was ist Frankreich? Warum willst du da hin, hier ist es doch schön!, ruft Tigre und ärgert sich ein weiteres Mal über die Kommunikationsstörungen, die die beiden haben. Er beschließt jedoch, dass er sich keine Sorgen um Ronja zu machen braucht, ohne ihn wird sie bestimmt nirgendwo hingehen, und schleicht dann auf Samtpfoten aus dem Zimmer.
Auch in den Zimmern von Ronjas Geschwistern befinden sich Koffer. Seltsam, warum wollen denn auf einmal alle weg? Und wo ist Tigres grüne Katzenbox, mit der er zum Tierarzt gebracht wird? Darin könnte er seine Familie bestimmt super mit nach Frankreich begleiten, wo immer dieser Ort sein mag.
Er sieht sich im ganzen Haus um, kann seine Box jedoch nicht finden. Sie werden ihn doch nicht etwa alleine lassen?
Eilig rennt er durch seine Katzenklappe nach draußen, um dort nach der Box zu suchen. Doch zuerst macht er sich einen Spaß daraus, die Hühner zu erschrecken. Es ist ihm zwar streng verboten, sie anzugreifen, aber gegen einen kleinen Spaß unter Freunden kann man doch nichts sagen, oder?
Tigre schleicht sich als zum Zaun, wackelt mit dem Hinterteil, um genügend Schwung für den Sprung zu bekommen und springt mit einem großen Satz über den Zaun, der glücklicherweise nicht sehr hoch ist. Die Hennen haben ihn noch nicht bemerkt.
BUH, ruft der kleine Kater, verzieht sein kleines Katzengesicht zu einer furchterregenden Raubtiergrimasse und springt das nächstgelegene Huhn von hinten an. Wie erwartet rennen sie, wie von einer Biene gestochen, auseinander und gackern dabei wie verrückt. Zufrieden putzt Tigre sich seine Schnurrhaare und macht sich weiter auf die Suche nach seiner Box.
Nach einer kleinen Ewigkeit findet er sie; verstaubt in der Ecke des Schuppens, dort liegt sie seit Tigre das letzte Mal beim Tierarzt war, das ist mittlerweile schon fast einen Monat her. Es sieht nicht so aus, als ob die Familie Tigre mit nach Frankreich nehmen will. Schnell saust der kleine Kater zurück ins Haus und springt direkt in Ronjas Arm.
"Hey, was ist denn mit dir los?", fragt sie und setzt ihn zurück auf den Boden.
NIMM MICH MIT!, schreit er und schlägt mit eingezogenen Krallen nach Ronja.
"Mecker nicht so rum", bekommt er bloß zu hören, ehe Ronja ihn aus dem Zimmer verbannt.
Liebt ihr mich denn nicht mehr? Wollt ihr mich loswerden?
Ronjas kleiner Bruder Paul kommt um die Ecke und nimmt Tigre auf den Arm. "Machst du dir Sorgen?", fragt er.
Ja, endlich jemand, der mich versteht, seufzt Tigre erleichtert, obwohl er natürlich weiß, dass Paul nur gut geraten hat, was sein Miauen angeht.
"Wir bleiben nur eine Woche", erklärt Paul, "und Oma kommt jeden Tag vorbei um dich und Amy zu füttern. Wir kommen wieder, versprochen!"
Tigre kennt die Oma natürlich, sie kommt manchmal zu Besuch, aber eben nicht so oft.
Schafft sie das überhaupt?, fragt sich Tigre. Was, wenn sie mich vergisst?
Doch Paul ist schon wieder in seinem Zimmer und packt seinen blöden Koffer.
Weiß Amy das überhaupt schon?
Der kleine Kater flitzt die Treppe herunter, wobei er sich um ein Schnurrhaar überschlägt, und schlittert geradewegs zu Amy, dem schwarzen Hund der Familie.
Hast du schon gehört?, fragt Tigre, und hofft, dass er deutlich genug gesprochen hat. Die Sprachen der beiden Tiere sind ähnlich, aber nicht gleich, deshalb verstehen sie nur Bruchteile von dem, was sie einander erzählen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, kommen die Beiden gut miteinander aus.
Was ist los?, fragt Amy erstaunt, denn der Kater springt wie verrückt vor ihrer Nase herum.
Sie gehen weg, nach Frankreich, für eine Woche und Oma füttert uns!, sprudeln die neuen Informationen aus ihm heraus.
Und?, fragt Amy, total uninteressiert und legt den Kopf auf die Pfoten um weiter zu schlafen.
Was heißt hier und?, empört sich Tigre, was ist, wenn es ihnen dort so gut gefällt, dass sie beschließen, da zu bleiben?
Doch entweder scheinen Amys Kenntnisse der Katzensprache für diese Konversation nicht auszureichen, oder sie hat einfach keine Lust auf Tigre, denn sie dreht einfach den Kopf weg und döst weiter.
Schnell rennt Tigre die Treppe wieder nach oben, flitzt in Ronjas Zimmer und wirft sich erneut auf den gepackten Koffer.
"Boah Tigre, man", beschwert sich Ronja und pflückt ihren Kater vom Koffer. "Es scheint dir ja ganz schön zuzusetzen, dass wir in den Urlaub fahren, aber wir kommen definitiv wieder!"
Tigre ist sich da nicht so sicher, aber er beschließt, seine Zeit mit der Familie noch so lange es geht zu genießen. Er reibt sich kurz leise schnurrend an Ronjas Beinen entlang und macht sich dann auf im Pauls Zimmer.
Hallo, begrüßt er ihn und springt auf seinen Schreibtisch.
"Hallo Tigre", sagt Paul und stopft einige Sockenpaare in seinen Koffer, der schon fast überquillt.
Sicher, dass ihr mich nicht mitnehmen wollt? Guck, ich pass hier doch noch super rein!
Tigre beißt in ein Stück Stoff und zieht es mit aller Kraft aus dem Koffer. Dann quetscht er sich in den kleinen Raum, der dadurch entstanden ist und sieht Paul herausfordernd an.
"Wie süß", quietscht dieser und schnappt sich sofort sein Handy, um diesen Moment festzuhalten. Tigre, der eine Weile gebraucht hat, um zu begreifen, was Menschen mit ihren Handys alles machen können, schenkt der Kamera sein schönstes Katzenlächeln und klettert dann wieder aus dem Koffer heraus, weil es auf all den Klamotten doch sehr gemütlich ist und er nicht Gefahr laufen will, einzuschlafen.
Er überlegt, was er alles tun könnte, wenn er allein zu Hause ist.
Er könnte jagen gehen, oder die Katzen der Nachbarschaft besuchen. Er könnte weiter die Hühner erschrecken oder sich mit Amy unterhalten.
Tigre begreift, dass er viele Möglichkeiten hat, sich die Zeit zu vertreiben. Ronja hat gesagt, sie würden wiederkommen, also werden sie das auch tun. Und er wird sein Bestes geben, damit ihm nicht langweilig wird
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