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Es ist ein trauriger, kleiner Bach, der immer mehr an Größe gewinnt. Trotz der vielen Tränen, sind ihre Augen trocken und schmerzen bei jeden Wimpernschlag, zu hartnäckig ist der Staub der auf sich auf ihre Netzhaut gelegt hat. Ihre Hände hat sie wieder geöffnet, trotzdem hat sich ihre Wut auf sich selbst nicht wieder gelegt. Der Kampf in ihren Kopf ist nicht weniger heftig, als der hinter ihnen. Das sie nur fähig ist die Geräusche zu hören und es nicht zu sehen, macht sie wahnsinnig, trotzdem zwingt sie sich ruhig zu werden und Josephines Gesicht erstmal aus ihren Kopf zu verbannen. Ihretwillen. Das erste Mal seit der ersten Begegnung mit Josephine denkt sie an sich und nicht an ein uns. Tief atmet sie die Luft ein, bis der bittere Geschmack auf ihrer Zunge verschwindet. Hazel hingegen rutscht vor und zurück, die Schmerzen an ihren Beinen sind stärker geworden und lassen sie immer unruhiger werden. Leicht hebt sie ihre Hüfte an, um sie dann seitlich zu drehen und sich wieder auf den harten Boden fallen zu lassen, bis die schlimmste Stelle verschont wird. Dabei ist sie so konzentriert, dass sie den Tumult, der sich direkt vor ihnen bildet, gar nicht mitbekommt.

Erst als die Schreie lauter werden und die Bewegungen hektischer, hebt sie den Kopf und erstarrt. Leblose Körper liegen nicht weit entfernt vor ihnen im Staub und Dreck. Sie muss sich zwingen nicht wegzusehen, weiter in die kalten Augen zu starren, statt ihnen wieder den Rücken zu zukehren. Die kleinen Härchen, die sonst wegen ihrer hellen Haarfarbe nicht zu sehen sind, stehen zu Bergen. Wie tote, kalte Fische liegen die Männer auf den Boden, die Arme und Beine weggestreckt von ihren starren Körper. Schmerz und Furcht tönt in den Schreien wieder, die, die noch lebenden Uniformträger ausstoßen. Erst nach einem weiteren Blick wird ihr klar wieso die Schreie so fürchterlich klingen. Von Blut oder Schusswunden ist nichts zu sehen, stattdessen sind die Anzüge und die darunter liegende Haut - bis auf einige Kratzer - unversehrt. Trotzdem hat sich der leere und stumpfe Blick in ihren Augen gebildet, den nur Tote kennen. Es ist schrecklich. So schrecklich, dass sie doch wegsehen muss, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Viel später als die Anderen hat sie Begriffen, dass die Todesursache das Virus ist und keine der vielen Kugeln. Am liebsten würde sie schreien, so laut und lange, dass sie ihre eigenen Gedanken vergisst. Die Schmerzen, die kurz davor noch über ihren Körper geherrscht haben, sind vergessen. Nur der Anblick vor ihr zählt.

Die Schreie der Maskenträger sind noch immer nicht verstummt, immer mehr Körper kommen zum Fall und starren ihnen leblos entgegen. Es hat sich schon ausgebreitet, ist von einem zu dem anderen gesprungen und fordert nach mehr und mehr Leben. Sie kann ihren eigenen Körper kribbeln spüren, merkt wie das Blut viel schwerfälliger als sonst durch ihre Adern fließt und die Haut sich fester über ihre Knochen spannt. Jeden Moment muss es soweit sein, dass auch Runa und sie in sich zusammen fallen. Die Anspannung ist so groß, dass sie nur noch flach atmen kann. Es vergehen viele Sekunden, in denen sich mehr und mehr Körper auf dem Boden stapeln und trotzdem passiert nichts. Das komische Gefühl wird nicht stärker, ihr Herz nicht auf zu schlagen und der Schwindel wird nicht schlimmer. Runas Augen finden ihre und auch ihre Panik scheint wieder im Zaum gehalten zu sein. Sie öffnet den Mund, aber Hazel kann sie nicht verstehen, zu laut sind die Halbtoten um sie herum. Vorsichtig bewegt sie ihre Hände, die noch immer von kalten Metall aneinander gepresst werden und langsam immer tauber werden, bis die Bewegung schmerzt.

Auf Hilfe kann sie nicht hoffen, die Wenigen die das Virus verschont hat, sind so weit wir möglich von ihnen gewichen. Die Augen vor Schock geweitet, während die sonst so kräftigen Körper schwach und verloren aussehen. In den Augen kann sie wieder die kleinen Jungen sehen, aus denen die Uniformträger herangwachsen sind. In der Hoffnung die Gefahr doch noch abweisen zu können, haben sie sich aufgeteilt, den Abstand zwischen ihnen so groß wie möglich gestaltet. Wie Schachfiguren fällt einer nach dem Anderen, erst der Große links von ihnen, dann der lange, schmale mit dem kantigen Gesicht und die vielen Allerweltsgesichter. Die wenigen, die es nicht trifft, lassen das Schlachtfeld hinter ihnen und ergreifen die Flucht. Drei der großen Transportwägen heulen auf und jagen davon, gefolgt von Schüssen und Rufen, die an dem schwarzen Lack abprallen. Runa und sie werden zurückgelassen, unfähig aufzustehen und selbst die Beine in die Hand zu nehmen.

Das ihr Übergang nicht geglückt ist, ist spätestens jetzt beiden klar und trotzdem hat Hazel doch noch die Hoffnung, das einer der Wägen umkehrt. Sie doch noch mitnimmt, obwohl sie die jenigen waren die das Virus verbreitet haben. Harveys und Lunas Worte von gestern geistern in ihrem Kopf herum, bis sie sich auf die trockenen Lippen beißt. Schon wieder eine Lüge. Mittlerweile hätte sie es besser wissen müssen, hätte Harvey und Lunas Forderung nicht nachgehen sollen, sich widersetzen und doch sitzt sie jetzt hier. Benutzt um die Menschen vor ihr zu töten, die doch nur Fremde waren. Sie fühlt sich schmutzig als sie auf die Leichen starrt und immer wieder Harveys Stimme hört. Die Stimme die so weich und samt klingt wie sich eine weiße Wolke anfühlen muss und sie doch nur in ein Sommergewitter lockt. Bis Donner und Blitz über ihr zusammenbrechen und der unerwartete Regen sie unter sich begräbt.

Ihr ist nach Weinen zu Mute, aber sie hält die Tränen zurück und versucht erneut die Handschellen zu öffnen, obwohl sie gegen das Metall keine Chance hat. Die Schüsse sind für alle Mal verstummt, trotzdem ist es ihr zu Laut. Auch Runa ist in Bewegung, versucht wieder auf die Beine zu kommen, aber hat genau wie Hazel Schwierigkeiten sich zu befreien. Egal wie stark sie rüttelt oder die Hände verbiegt, der Freiheit kommt sie keinen Schritt weiter. Stattdessen zieren immer mehr Abdrücke und Striemen ihre Hand, die jede schnelle Bewegung nur noch schmerzhafter machen. Schritte und Stimmen kommen näher, anscheinend haben Harvey und seine Gefolgsleute die Flucht der Gegner mitbekommen und sämtliche Zurückhaltung verloren. Ihr Befreiungsversuch wird noch hastiger, um vor seinen Ankommen weit weg und in Sicherheit zu sein. Auch Runas Rütteln und Reißen wird wilder, die erhoffte Wirkung aber bleibt aus, noch immer passiert nichts. Es ist mehr die Verzweiflung als der klare Verstand, der sie zum Weitermachen animiert und nicht aufgeben lässt. Dann sieht sie die Maskenträger. Harvey und Nathan sind unter ihnen, nur von Luna und Josephine fehlt jede Spur. Ihre Hände sind geballt, die Knie zittern und ihre Augen zusammengekniffenen als ihre ehemaligen Verbündeten immer näher kommen.

Die Sonne flimmert über den Asphalt, verringert die Sicht und lässt sie damit nicht Harvey und Nathans Gesicht erkennen. Sie lassen sich dabei Zeit zu ihnen zu stoßen, keine Eile oder Hektik ist in ihrem Gang erkennen, was Hazel nur noch wütender macht. Sie zu benutzen um andere zu töten ist widerlich, abscheulich und menschenunwürdig. Noch viel schlimmer aber ist die fehlende Reue, die stumpfe Belanglosigkeit mit der sie sich auf sie zu bewegen, bis die großen Staturen vor ihr stehen bleiben. Runa wird von ihren Fesseln losgemacht und unter Protest auf ihre Beine gezogen. Ihr Versuch sich zu wehren wird im Keim erstickt, in dem ihr rotes Handgelenk erneut auf ihren Rücken gedreht wird, der schon ganz wund von ihrem Fluchtversuch. Ihre rote Haare fallen ihr ins Gesicht, springen wie stechende Flammen vor ihren mandelförmigen Augen auf und ab und bleiben an dem Schmutz und Schweißfilm hängen, der sich auf ihrer blassen Stirn gebildet hat. Der erstickter Schrei der ihre Lippen verlässt, bleibt ihr im Rachen kleben und endet in einem Röcheln.

Fast hätten Runas Beine nachgeben, würden nicht unzählige Hände nach ihr greifen und sie nach vorne zerren. Dahin wo das Regierungsgebäude allem zu Trotz in den Himmel ragt. Hazel ist die Nächste, die von ihren Fesseln losgerissen wird und wieder auf ihre wackligen Beine kommt. Die zwei Maskenträger die sie am Arm packen, tragen mehr als eine Gesichtsbedeckung, auch ihre Arme sind in Stoff gehüllt. Anscheinend ist die Ansteckungsgefahr noch vorhanden, anders kann sie sich die langen Handschuhe nicht erklären. Der Stoff reibt über ihre verletzte Haut, als sie weiter gezogen wird, vorbei an Harvey und Nathan, die so nur kurz den Hass in ihren Augen glitzern sehen können. "Lasst mich los." Ihre Stimme ist schrill, von der sonst so ruhigen Art ist nicht mehr viel übrig, stattdessen beginnt Hazel an den Maskenträgern zu zerren und zu reißen. Auch ihre Arme werden auf ihren Rücken gedreht, weshalb sie unfreiwillig nochmal in Harveys und Nathans abscheuliche Gesichter sieht. "Ihr seid Mörder! Hört ihr? Mörder." Sofort wird sie wieder zurückgezogen, mit gezerrt ohne überhaupt zu wissen wohin und wieso. Ihr Kopf wird unten gehalten, weshalb sie nur noch den Boden und ihre eigenen Schuhspitzen sieht, dessen ursprünglich weiße Farbe nicht mehr zu erkennen ist.

Das Gehen macht die Schmerzen in ihren Beinen schlimmer, aber selbst ihr Keuchen lässt die Maskenträger nicht langsamer werden. Vor ihr tauchen Treppenstufen auf, über die sie fast gestolpert wäre, hätte sich der Druck an ihren Armen nicht erhöht und sie so unweigerlich nach oben gezogen. Es sind viele lang und flache Stufen, die in der Sonne glänzen und sich fast schon weich unter den dünnen Sohlen anfühlen. Auch ohne den Kopf gehoben zu haben weiß sie wo Runa und sie hingeführt werden. Das Eingang des Regierungsgebäude muss nur noch wenige Meter entfernt sein, weshalb die Schritte ihrer Begleiter noch schneller werden, während ihre müden Füße kaum noch hinterher kommen. Die Sonne ist dem Schatten gewichen, was heißen muss, dass sie sich bereits im Schutz des prunkvollen Daches befinden, dass so gar nicht aussieht wie die Dächer der übrigen Häuser.

Dann bleiben sie stehen, bis ein schriller Ton die kurz entstandene Stille durchbricht und nach zwei Weiteren Signalen die schwere Tür nachgibt. Grob wird sie durch die Tür gezogen, von der Hazel nichts weiter als ihre Schwelle sieht, die sie fast zum Fall bringt. Sofort ist es kühler, was an den Steinboden und den, so lässt es der Hall vermuten, hohen Decken liegen muss. Obwohl sie nicht freiwillig hier ist hätte Hazel gerne einmal den Kopf gehoben, die Architektur bewundert, die in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung verloren hat. Aber sie kann es nicht, wegen der schweren Hand die in ihrem Nacken liegt und ihr nicht nur eines ihrer mittelangen, blonden Haare herausgerissen hat. Obwohl schon so viele Schritte hinter ihnen liegen, müssen sie noch immer im Eingangsbereich sein, aber die vielen, durcheinander klingenden Schritte und ihre beschränkte Sicht, macht die Orientierung schwer.

Ihre Sohlen quietschem auf dem glatten Boden, der mindestens genau so sehr glänzt und strahlt wie die Treppenstufen draußen. Der Griff in ihrem Nacken verstärkt sich bis sie stehen bleibt und auf ein weiteres Signal wartet. Ihre Kopfhaut schmerzt genauso sehr wie ihre Arme, die schon viel zu viel Sonne abbekommen haben. Die kühle Luft und der leichte Wind, der über ihre schitzende Haut streicht, bringt Hazel zum Zittern. Sie schreckt zusammen als nach ihrem Kinn gegriffen wird und der Druck in ihrem Nacken aufhört. Lange, helle Finger legen sich um die dünne Haut und drücken leicht zu, während sie ihren Kopf nach oben ziehen. Widerstrebens folgen ihre Augen der Bewegung und verharren, als sie in Harveys Gesicht blicken und seinen hellen Augen begegnen.

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