19

Ihre Füße kribbeln, als sie aus dem hohen Wagen springt und auf dem trockenen Erdboden landet, der schon angefangen hat lange, dünne Risse zu werfen. Luna ist gleich hinter ihr und hält sich kurz nach der Landung an Hazels Arm fest, damit sie nicht wieder ins Schwanken gerät. Kurz glimmt Eifersucht in Hazel auf, als sie Lunas perfekte, erdfarbene Haut, ihre glatten und glänzende schwarzen Haare und die hellen blauen Augen länger als flüchtig betrachtet. Tief wie das Meer und gleichzeitig so strahlend Blau wie der Himmel an einem heißen Sommertag, sind Lunas mandelfarbenen Augen, die von tiefschwarzen Wimpern umgeben werden. Hazels Haare sehen wahrlich stumpf gegen ihre aus, obwohl sie in ihren Heimatsort jeden vierten Montag im Monat ihre Friseurin - Helenena, einer rundlichen Frau, die schon seit über zwanzig Jahren Haare schneidet und legte - besucht, sich die Spitzen schneiden lässt und eine nach Rosen duftende Maske bestellt. Kanada vermisst sie mehr als alles andere, nun wo die Sonne wieder unbeschränkt auf sie herabrennt und sie in die Gesichter lauter fremde Menschen starrt. Das hätte sie beunruhigen müssen, aber das tat es nicht. Vielleicht lag es an dem Streit oder den mangelnden Schlaf den sie in der viel zu heißen Nacht bekommen hat. Oder es liegt am Sturz, gestern hatte die Wunde wieder mehr weh getan und der Aufprall hatte vielleicht ihrem Geist mehr Schaden zugefügt als sie vermutet hatte. Es waren komische Gestalten, die bisherigen Tick-Anhänger waren gewöhnliche Personen, Menschen die Familien hatten, gewöhnlichen Berufen - soweit sie das Glück hatten eine der wenigen Angestelltenplätze ergattern zu können - aber die vor ihr sahen abstrakt, ja schon fast unwahr aus. Die Augen waren zu hell und zu beißend in der Farbe um echt sein zu können und die Haut war über und über mit Zeichen verziert, die noch vor einigen Zeiten als modern durchgehen könnten aber heute nicht mehr als ab sonderbar sind. Es fällt ihr schwer nicht zu starren, während Harvey und Nathan begrüßt werden.

Der Mann in der Mitte hat die Haare kurz rasiert, ein blaues Sakko an und ein grünes und ein lilanes - fast schon fliederfarbenes - Auge, dass immer nach oben und unten zuckt. Tatsächlich bevorzugt die Oberschicht oft ausgefallene Mode, zumindestens sind die Schaufenster der teuren Boutiquen, die Läden die mit Kameras und Sensoren ausgestattet sind, voll mit seltsamer Kleidung. Schrillen langen Röcken, klobig geschnitten Jacken und exotischen Kopfbedeckungen. Aber in diesem Ausmaß hatte sie es nie zu Gesicht bekommen. Wie eine graue Motte umgeben vom schillernden Schmetterlingen, fühlt sie sich, als auch sie sich vorstellen. Der Mann, dessen Hand sie schüttelt, scheint schon länger ergraut zu sein, abgesehen von den blauen, grünen und gelben Strähnen die sich am Ende seines langes Haaren um das Sonnenlicht streiten. „Sehr erfreut, Hazel.″ Sein Händedruck ist warm, die Stimme schwingt beim Reden auf und nieder und der Schmuck um sein Handgelenk klimpert bei jeder Bewegung. Als Ozel stellt er sich vor, ein komischer Name der auf seinen, alles andere als ordinären Besitzer, maßgeschneidert zu sein scheint. „Schade, dass wir uns aus einen so unerfreulichen Grund kennenlernen.″
Er scheint ihre Überraschung über seine Worte zu bemerken und legt seine alters gezeichnete Hand auf ihre schmale Schulter. „Wieso ist der Grund unerfreulich?″ Seine buschigen, grauen Augenbrauen heben sich in die Höhe. „Ist eine Flucht nicht immer unerfreulich? Zum Glück konntet ihr schnell genug die Lagerhalle verlassen, es hat ein schreckliches Feuer gegeben.″ „Ein Feuer?″ „Oh ja, die Regierung wollte euren Tod wohl wie einen Unfall aussehen lassen.″
Hazel wird ganz blass um die Nase, ihre Beine - zwar noch etwas blau und mitgenommen von dem Sturm - die sie sonst immer verlässlich tragen, geraten ins Wanken als sie an den möglichen Tod denkt.
„Oh Gott.″ Runa, die dem Gespräch gelauscht hat, schafft es nicht ihren Mund wieder zu schließen und sich den entsetzten Ausdruck aus ihrem Gesicht zu wischen. „Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, wir haben alles im Griff.″ Harvey der zuvor noch mit Nathan gesprochen hat, wendet sich jetzt ihnen zu und versucht der Panik den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Alles im Griff? Ich dachte, die Regierung hilft euch, Nathan? Dabei fährt ihr euren eigenen, verrückten Egotrip″ Der Kloß in ihrem Hals scheint zu wachsen, das Sprechen fällt ihr schwer, zu sehr zittert ihr dünner Körper. „Wir haben nicht gedacht, dass unser Verrat so schnell auffällt. Der Protest wird auf morgen früh verschoben, das ist alles. Wir sind hier sicher. Nachdem zweiten Protest kann nichts mehr schiefgehen.″ Ihre Hände zuckten, am liebsten wäre sie auf ihn losgegangen, hätte ihn angeschrien, all den Frust, all die Angst losgelassen, aber sie lässt es. Wie so viele Male. Findet ihre Fassung wieder und schluckt die Wut herunter, bis nur noch der bittere Nachgeschmack übrig ist. „Ich werde bei dem nächsten Aufstand sicherlich nicht mitmachen.″ „Du bist aber wichtig für den nächsten Aufstand, wir alle müssen, als geschlossene Einheit auftreten, um die Menschen für Tick zu begeistern.″ Keiner von ihnen will die Augen des anderen loslassen. „Ihr seid die Redner, es würde nicht auffallen, wenn Runa und ich nicht mitmachen.″ „Nein, dieses Mal wird jeder von uns etwas sagen. Und anschließend wird es ein kleines, gemütliches Feuer geben.″ Nathan bringt Hazel dazu doch den Blick abzuwenden und sich stattdessen auf sein Grinsen zu konzentrieren. „Was für ein Feuer?″ Runa hat die Arme in die Seite gestemmt, dabei kommen die Muskelansätze zum Vorschein, die sie dem jahrelangen schleppen und heben zu verdanken hat. „Wenn der Protest den Höhepunkt erreicht, beenden wir die Show mit dem Abfackeln des Regierungsgebäudes. Das Ganze muss nur schnell gehen, jetzt wo unser Verrat aufgeflogen ist.″

Anders als Runa und Hazel, scheinen Harvey und Nathan nicht die Lächerlichkeit ihrer eigenen Worte bewusst zu werden. „Das ist Wahnsinn und unmöglich, die knallen euch ab bevor ihr auch nur die Möglichkeit habt einen Fuß in das Gebäude zu setzten.″ Runas Arme bohren sich schon ihre Seiten, bis ihre Taille der einer Wespe gleicht und die Fingerknöchel blasser als der Rest ihrer Hände erscheinen. „Deshalb sind wir zu Ozel gefahren. Wir sorgen schon dafür, dass ihr am Leben bleibt also atmet tief ein und aus und kommt wieder runter.″ Nathan fasst sich durch das blonde Haar, während er versucht die Beiden zu beruhigen. „Sag uns nicht was wir zu haben, wegen euch beiden stecken wir erst in der ganzen Scheiße.″ Runas Arme spannen sich deutlich an, erst als sich Josephines raue Hand auf ihre Schulter legt, scheint sie sich wieder etwas zu beruhigen. „Es passiert niemanden etwas.″ Die Worte wirken wie Öl in einem Feuer, die brennende Flamme steht kurz vor der Explosion. „Du bist nicht mehr du selbst Josephine. Wie ein braves Hündchen rennst du Harvey und seinen dummen Ideen hinterher, bis einer von uns draufgeht und du endlich aus deiner Traumwelt aufwachst.″ Ihre kupferfarbenen Haare schwingen wild umher, es sieht aus als würde sie in Flammen stehen, die Augen glänzend und die Wangen gerötet. Josephine weicht zurück, wie ein getretener Hund, bis auch sie die Wut an den Füßen packt. Ihre Stimme werden immer lauter, bis nur noch Schreien und keine Worte mehr zu hören sind. „Es reicht.″ Alle fahren herum.
Das ausgerechnet Luna - die bis jetzt nicht oft ein Wort mit ihr oder Runa gewechselt hat - den Streit beendet, hätte Hazel nicht gedacht. Ihre harsche Stimme zeigt Wirkung, sowohl Runa als auch Josephine fahren zu ihr herum, um dann peinlich berührt in eine andere Richtung zu starren. Vor Peinlichkeit werden Josephine und Runas Wangen blass rosa, bis die Röte sich selbst über den Hals und die Ohren ausbreitet und ihre Köpfe vor Scham glühen. Das Gebäude vor ihnen ist schlicht, ein einfacher Kasten, dessen einzigen Besonderheiten die fehlenden Fenster und die überdimensionale Größe sind. Anders als die Lagerhalle vor ihnen scheinen die Mauern noch nicht lange auf den Grund zu stehen. Die braune Farbe ist frisch, ohne jede Makel und die schwere Eisentür macht den Eindruck mehr als durch ein Schloss gesichert zu sein. Es erinnert sie an einen überirdischen Bunker, gemacht um Wind und Wetter und jeglichen anderen Angreifer zu trotzen.

Die Außenwand hat eine sonderbare Musterung, kleine Zacken stehen immer wieder heraus und ab und zu ist ein kleiner, flacher goldfarbener Kreis zu entdecken, der wie ein Auge aus dem Dunkelbrauen Grund starrt. Alles rund um den Bunker ist fein säuberlich gepflegt, satter grüner Rasen springt fünf Meter vor dem Eingang aus dem Boden und umrandet das kalte Gemäuer. Nur ein schmaler Pfad, der das Tor und den Parkplatz verbindet, durchbricht das perfekte Bild. Ozel geht voran, tritt sicher mit geschmeidigem Gang auf die großen glatt polierten Steine, die auf den Weg gesetzt wurden und öffnet das prachtvolle Tor. Erst müssen sich Hazels Augen an das grelle Licht gewöhnen, bevor sie Umrisse der Einrichtung und ihrer Bewohner erkennt.
Die Menschen hier haben nicht mehr viel mit Ozel überein, statt sonderbarer Mode tragen sie feine Anzüge und die Frauen pompöse Kleider. Alle Köpfe drehen sich zu ihnen um, was wiederum doch sonderbar ist, wenn man in Betracht zieht, dass die Menschen vor ihnen ohne Zweifel der Elite angehören. Einige Gesichter kommen Hazel bekannt vor, wenn sie ihnen auch nicht den richtigen Namen zuordnen kann, zu viele neue Eindrücke huschen über ihre Netzhaut. „Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich Ihnen Harvey und Nathan vorstellen zu dürfen, die Gründer und Leiter von Tick.″ Weder Luna, Hazel, Josephine und Runa können Ozel das Nichtnennen ihres Namen übel nehmen, zu sehr sind sie von den bunten und fast schon leuchtenden Getränken abgelenkt, die eine dünne, zierliche Kellnerin an die Menge verteilt. Das lilane Getränk, das Hazel erwischt hat, schmeckt so süß, dass es auf der Zunge prickelt und im Rachen kitzelt. Kaum hat sie es leer getrunken, verspürt sie den Drang nach einer neuen süßen Verführung zu greifen. Harveys erste Gesprächspartner sind ein betagtes Paar, das laut Ozel länger im Vertrauen mit den Staatschefen steht, hauptsächlich, weil das Portemonnaie des Herrn droht überzuquellen. Nathan dagegen unterhält sich mit einer größeren Gruppe, die nicht weniger interessiert an seinen Lippen zu hängen scheinen. Auch mit Josephine und Luna unterhalten sich die edel angezogenen Gäste, nur das Interesse gegenüber Hazel und Runa scheint sich in Grenzen zu halten.

Stören tut es Hazel nicht, es ist weitaus interessanter Harvey und Nathan weiter zu beobachten und ab und zu Gesprächfetzten aufzufangen, die hoffentlich nach einer Weile Sinn ergeben. Die Luft wird immer wärmer und stickiger und die vielen Getränke machen Hazels Zunge schwer und färben ihre Wangen rot. „Du solltest nicht mehr trinken, morgen ist ein wichtiger Tag.″ Das Glas wird ihr von Harvey weggenommen, der sich zur Feier des Tages die braunen Haare nach hinten gekämmt hat, statt sie wie sonst über seine hellen Augen fallen zu lassen. „War das vorhin ernstgemeint? Habt ihr wirklich vor das Regierungsgebäude in Brand zu setzten? Oder war das nur eine andere Lüge?″ Sie spricht gerade so leise, dass die nächst stehenden sie nicht hören können. Harvey beugt sich zu ihr herunter, als er antwortet. „Das war keine Lüge und da Nathan und ich euch bis jetzt am Leben gehalten haben, haben wir auch für morgen dein und Runas Vertrauen verdient.″ Ihre grünen Augen leuchten in dem warmen Licht wie glatt geschliffene Smaragde. Noch sieht er keinen Hass in ihnen, nur Abneigung und Zweifel. Nach morgen werden sie nicht mehr glänzen, wenn sie ihn ansehen. „Es gibt also morgen keine bösen Überraschungen? Alles läuft so - abgesehen von meinem Sturz- wie beim letzten Aufstand?″ Ihren Blick hat sie schon wieder auf das Glas gerichtet, zu verlockend sehen die bunten Getränke aus, in denen nicht selten exotisches Obst oder ein farbenfrohes Schirmchen steckt. Wenn Hazel sich mit der Zunge über die Lippen führt, kann sie das letzte lilafarbene Getränk noch schmecken. „Nein, es wird nur mehr Widerstand seitens der Regierung und mehr Teilnehmer unserer Seite aus geben, aber es wird wie beim letzten Mal alles - ohne große Verluste - gut gehen.″ Schwerfällig reißt sie den Blick von den beschlagenen Gläsern los und sieht wieder Harvey an, der sich noch weiter zu ihr heruntergebeugt hat. „Ich glaube dir kein Wort.″
Der Anflug eines Lächelns breitet sich auf Harveys Gesicht auf. „Ich verspreche es dir, hoch und heilig.″ Wären Hazels Gedanken noch klar gewesen und nicht nur auf die süßen Getränke fixiert, hätte sie ihn vielleicht wirklich zur Rede gestellt. Hätte nicht einfach schweigend sein Versprechen angenommen, damit sie endlich nach dem nächsten Glas greifen kann. Aber sie war es nicht.


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