18
Hazel kann sich nicht an ihren letzten Streit erinnern und hätte nicht gedacht, dass es jeweils wieder so weit kommen würde. Wenn sie sich gestritten haben war es wenig Kleinigkeiten, weil die andere zu oft abgesagt hat oder sich lange nicht gemeldet hat, aber nie war es um etwas Ernsteres gegangen. Betretene Stille ist zwischen den übrigen drei aufgetreten. Es ist windig geworden, die Kette an dem Schloss der Tür Eingangstür schlägt unablässig gegen das Metall. Hazels Haare kleben an ihrem Gesicht, nicht nur wegen der aufkommenden Windböe, sondern weil auch ihre Augen nicht trocken geblieben sind.
Der Wind in den wenigen, ausgedörrten Bäumen flüstert, so zischend, dass sie glaubt er würde sie verspotten. Resigniert schließt sie ihre Augen, um Runas entsetzte Gesicht nicht mehr sehen zu müssen und den verletzten Ausdruck auf Josephines Gesicht zu vergessen. Das schlechte Gewissen verbreitet sich wie ein Gift in ihrem Körper aus, streckt sich von ihrem Schlüsselbein bis hin zu ihrem Knöchel Gelenk, bis sich alles taub und leer anfühlt.
Auch Runa lässt Josephines Gefühlsausbruch nicht kalt, stumm starrt sie auf ihre Hände und fragt sich, wann aus ihrer glücklichen Beziehung ein unglückliches Chaos herangewachsen ist. Das Hazel ihr die Antwort auf diese Frage nicht geben kann, merkt sie, als sie in den selben leeren und verwirrten Gesichtsausdruck starrt. Die drei bleiben sitzen bis die Sonne hinter der kargen Landschaft verschwunden ist und nichts als Kälte und Dunkelheit hinterlässt. Die Nacht gibt ihnen keine Ruhe, alle vier wälzen sich unruhig hin und her, als würde sie auf heiße Kohle liegen und nur durch Bewegung Erlösung von dem Schmerz finden. Erst als es fast zum Morgen graut fallen Hazels Lider zu und das Geräusch des Windes wird von Josephines Stimme abgelöst, die durch ihre Träume schleicht und sie immer wieder an ihr Versagen erinnert.
Das grelle Licht weckt sie, das ungehindert auf ihre geröteten Augen scheint und langsam die Feuchtigkeit aus ihrer Haut zieht, bis sie sich wie altes Leder anfühlt, dass über ihr Gesicht gespannt wurde. Dieses Mal ist sie nicht als Erste wacht. Die Anderen Fünf sind schon draußen und frühstücken. Statt ihrem Hunger nachzugehen, läuft Hazel zu dem Tisch, an dem Nathan gestern gearbeitet hat. Die Blätter sind nicht mehr da und der PC lässt sich nicht ohne Code öffnen. Angespannt beißt sie sich auf die spröden Lippen, als sie anfängt die Schubladen zu durchsuchen, die alle bis auf eine abgeschlossen sind. Als ihre Finger dann auch noch statt Leere eine Mappe vorfindet, entsteht Misstrauen in ihr.
Entweder Nathan und Harvey sind um einiges dümmer und unvorsichtiger als sie bis jetzt angenommen hat oder sie haben gewollt, dass sie die Mappe findet. Zu gerne hätte Hazel sie aufgeschlagen, sich die Blätter angesehen und jede noch so kleinste Information in sich aufgesaugt, hätte sie nicht die Schritte einer der anderen gehört. Die Mappe verschwindet in ihrer auf dem Boden liegenden Jacke, ein schnelles, wenn auch naives Versteck. Dass es Luna ist, die hinter ihr steht, merkt sie an dem Klacken der Absätze auf dem Betonboden, dass von den Wänden widerzuhallt, bis ein unheilvoller Chor des eintönigen Klangs entsteht. „Guten Morgen.″, ihre Stimme klingt, wie Hazel bemerkt, kratzig bis hin zu näselnd. Anscheinend war sie nicht immun gegen die Abendkälte und verdankt nicht nur der Müdigkeit die Blässe, die sich über ihre Wangenknochen ziert. „Morgen, sind schon alle draußen?″ Zuerst findet Hazel nicht ihren zweiten Schuh, erst als sie sich auf den Boden kniet, bekommt sie die Schnürsenkel des fehlenden Sneakers zufassen. „Ja, wir haben für dich mit gedeckt.″
„Danke, ich gehe davor noch ins Bad. Ich komme gleich nach", erwidert sie, während sie den Staub von ihrer Hose klopft. Kurz überlegt Hazel, ob sie doch noch die Mappe ansehen soll, statt sich frisch zu machen, entscheidet sich aber dagegen. Neugierde ist nicht immer hilfreich. Erst als die gerötete Haut, die in letzter Zeit zu viel Sonne abbekommen hat, gewachsen ist und die Haare frei von Knoten sind, setzt sie sich zu den Anderen. Josephine sieht Hazel nicht an, als sie sich den frischen Teller und den leeren Becher nimmt, stattdessen starrt sie ihre zweite, noch unbestrichene Scheibe Brot an. Nathan und Harvey sitzen auch in der Runde, auch wenn sie geistig nur halb anwesend zu sein scheinen.
Der abwesende Gesichtsausdruck und die tiefen Augenringe, reichen aus um das fehlende Interesse an einer Unterhaltung auszudrücken, trotzdem nimmt sich Hazel vor noch mehr Informationen aus den Beiden herauszuquetschen.
Als alle fertig sind, die Teller aufgeräumt haben und wieder die blaue Plane auf die Stühle gelegt haben, wartet der Mann auf sie, der schon bei ihrer Ankunft in der Lagerhalle war. Seine Brille hängt nur locker auf seiner Nase, als würde sie jede Sekunde herunterrutschen und in viele kleine Teile zerbrechen, in denen sich sein schreckliches, gelbes Hemd widerspiegeln würde. Begrüßen tut er sie nicht, wie auch, schließlich drehen Harvey, Nathan und er ihnen den Rücken zu. „Dürfen wir auch mitreden?″, fragt Hazel, obwohl ein nicht kleiner Teil ihrer selbst sie davon abgeraten hat, sich in die Unterhaltung zu drängen. Weder Harvey, Nathan, noch der Brillenträger sehen begeistert über ihre Frage aus. „Natürlich.″, zwar scheinen die anderen Beiden Nathans Meinung nicht zu teilen, aber seine Zustimmung reicht ihr, um sich neben drei zu stellen. Runa, Josephine und Luna folgen ihr, bis sie einen großen Kreis bilden, als wären sie nicht auf der Flucht in Mexiko, sondern noch Grundschüler und würden einen neuen Schüler in ihre Ränge aufnehmen. „Wir besprechen was heute alles ansteht und wie die restliche Woche voraussichtlich ablaufen wird", erklärt der große, blonde und zieht ein handgeschriebenes Blatt Papier aus seiner Hosentasche, dass über und über mit seiner krakeligen Schrift verseht ist. „Es gab eine kleine Planänderung, auf die wir uns vorbereiten müssen.″ Seine lockere Stimmlage wird der Ernsthaftigkeit der Worte nicht zu Recht. „Wir werden morgen abreisen müssen und davor werden Harvey und ich alle Unterlagen verpacken und abtransportieren müssen.″
Die Zeit vergeht langsam, während das Weiß der Wand, zu hellem gelb zu wechseln scheint und dann doch wieder zu trostlosen, kaltem Grau wechselt, dass nicht die Risse und Spalten im Putz verstecken kann, der schon zu lange an der Decke klebt, um noch dem einstigen Bild der Lagerhalle gerecht zu werden. Die Mappe hat sich Hazel schon angesehen, musste aber feststellen, dass sie nichts weiter als die Baupläne des Gemäuers über ihr enthalten. Das blonde Haar steht zu Bergen, als sie den Kopf auf das Lacken legt und weiter der sturen Nichtstuerei und Warterei nachgeht. Sich mit Josephine zu vertragen wäre eine sinnvollere Beschäftigung gewesen, aber Hazels Stolz lässt es nicht zu, den Groll der gegen sie in den letzten Tagen gewachsen ist, an den Wurzeln zu packen und Josephine um Entschuldigung zu bitten. Wann immer die Spülung oder das Zwitschern eines Vogels zu hören ist, schwingt sie ihr rechtes Bein vor und zurück und schließt für einige Sekunden die Augen, nur um mit neuer Kraft das Weiß anzustarren. Tatsächlich hat sie die Farbe immer gemocht, sogar das meiste ihrer Kleidung in allen möglichen Nuancen und Tönen der Farbe gekauft, um zu aller Zeit das Reine und doch Ernsthafte auszustrahlen, dass die Farbe in ihr auslöst.
Aber jetzt kommt ihr die Farbe nichts weiter als kalt und eintönig vor, als würde man ein seelenloses Wesen anstarren. Wahrscheinlich wäre sie vor Langeweile wahnsinnig geworden, hätte sich nicht Runa neben ihr gesetzt und sie aus dem Strudel aus wirren Gedanken und dem trostlosen Gefühl gezogen. „Ich glaube ich weiß jetzt was Tick wirklich ist.″ Gespannt setzt sie sich auf, sieht sich noch einmal um, um sicherzugehen, dass niemand sonst den folgenden lauschen kann und widmet dann ihrer Aufmerksamkeit Runa, die schon zu den nächsten Worten ansetzt. „Tick, eigentlich als Projekt Z4 benannt, dient ursprünglich der Eindämmung der Ausbreitung des menschlichen Lebens und der Sicherstellung des notwendigen Lebensraums. Harvey und Nathan wurden für die Leitung des Projektes ausgewählt, wieso weiß ich nicht. Die Unterlagen, die ich gestern zu Gesicht bekommen habe, als alle noch geschlafen haben, geben ganz genau vor wie und wann das Projekt durchzuführen ist, außerdem ist ein Kontaktgerät vorhanden, um die Regierung auf dem Laufenden zu halten. Das Kontaktgerät war allerdings nicht nur ausgeschaltet, sondern funktionsunfähig gemacht. Die Rede die Harvey bei dem Aufstand gehalten hat und der Helikopterabsturz waren in den Unterlagen nicht zu finden.″
„Ich glaube sie haben beschlossen, den eigentlichen Plan fallen zu lassen und ihrer eigenen Vision nachzugehen.″
Beide verfallen in Schweigen, erst jetzt, nachdem Runa ihre Einsicht mit Hazel geteilt hat, wird ihr das Ausmaß dieser Informationen bewusst. Nervös beißt sich auf ihre von Natur aus roten Lippen, bis die aufkommende Angst wieder abschwillt und das Frösteln aufhört, dass nicht den kalten Mauern zuschulden ist. „Was machen wir jetzt?″ Ratlos vergräbt Hazel ihr Gesicht in ihren Händen, druckt die Innenflächen über die Seiten ihrer Stirn, bis es zieht und unangenehm spannt. Dann sieht sie wieder Runa an, die Schwierigkeiten zu haben scheint, auf ihre Frage die richtige Antwort zu finden. „Wir können nicht viel machen, am besten wir warten bis morgen ab.″ „Ich kann nicht glauben, dass das alles wirklich passiert und nicht einfach nur ein Albtraum ist.″
Runas Gesichtsausdruck wird sanfter und ihre Augenbrauen, die sich zuvor angespannt zusammengezogen haben sinken, wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück, als sie Hazels Hand nimmt und über ihren blassen Handrücken streicht. „Ich weiß.″ Sie reden noch lange an dem Abend, wenn auch nicht über Tick oder über irgendetwas, dass sie an die letzten Wochen erinnert und auch wenn es nur für einen Moment ist, vergessen sie, wieso sie auf den Boden der Lagerhalle sitzen und denken nicht an morgen, an heute oder an gestern. Runas eigen Geruch, eine Mischung aus süßlichen Duft, der vor allem an ihren Haaren klebt und dem fruchtigen zitrus Geruch, der aus der silbernen Deo-Sprühdose stammt, die immer neben ihrem Bett steht, hängt noch immer in Hazels Nase als sie im Bett liegt.
Still lauscht sie den regelmäßigen Atem der anderen und ab zu dem Knarzen, wenn sich jemand auf der schmalen Matratze zur Seite dreht. Das Haarband, dass sie um ihr Handgelenk gebunden hatte, hat einen roten Abdruck hinterlassen, den ihre Finger immer wieder auf und abfahren. Zu viele Gedanken schwirren ihr wie Vögel, in buntem Federkleid, langen, spitzen Krallen und hellem Gesang durch den Kopf. Ihre Decke liegt auf dem Boden, zu warm wurde ihr es, als sie auf den Schlaf gewartet hat. Es dauert noch eine ganze Weile, bis die Vögel endlich verstummen und Hazel zur Ruhe kommt, bis ihr gleichmäßiger Atem mit den anderen einstimmt.
Der Tag ist noch heißer als der Letzte. Unerträglich erscheint Hazel der Lärm, als sie die Lagerhalle verlassen und die drei Wagen vor dem Eingang halten. Auseinanderhalten oder das Modell benennen kann sie nicht, zu sehr blendet sie das Licht, das sich in der glänzenden schwarzen Lackierung widerspiegelt.
Die Reifen haben tiefe Spuren hinterlassen, die in der beißenden Hitze sofort trocken und spröde werden. Viele Sachen haben sie nicht dabei, schließlich haben Harvey und Nathan sich schon gestern um den Transport der wichtigen Unterlagen und Computer gekümmert. Die Luft in den Autos ist noch stickiger und heißer als draußen, wie eine Wand schlägt sie ihnen entgegen und scheint ihre Atemwege zu blockieren, bis sie nur noch röchelnd Luft holen können. Ein Fingernagel bricht Hazel ab, als sie die schwere Autotür hinter sich schließt. Genervt sieht sie den Nagel an, der statt gleichmäßig gefeilt wie ihre anderen Nägel eine Kurve macht und in einer scharfen Spitze endet. Die Fensterscheiben sind so sehr getönt, dass man meinen könnte, es wäre schon später Nachmittag, wenn man aus einem der vier Fenster sieht. Es riecht weder nach Neuwagen noch muffig in dem Auto, aber die Hitze bringt das Plastik trotzdem zum Stinken. Der Geruch verursacht Kopfschmerzen, die mit jeder Minute in dem schnell fahrenden Wagen schlimmer zu werden scheinen.
Ihre Hose hat beim Einsteigen Staub und Schmutz abbekommen, was sich weder durch drüber wischen noch mit Klopfen aus dem Stoff lösen lässt. Die Fahrt dauert eine ganze Weile, manchmal sind die Straßen unversehrt und aalglatt dann wieder rau und felsig, bis sie nur noch auf einem breiten Sandweg fahren, der so viel Sand und Staub aufwirbelt, dass das Fahrerfenster milchig statt klar ist. Hazel kann nicht verhindern, dass sie sich umso näher sie ihrem neuen Ziel kommen, umso mehr wünscht, sie wären in der Lagerhalle geblieben und Runa hätte ihr nicht von ihrer Erkenntnis erzählt.
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