17

Hazel erschrickt so sehr bei dem Anblick, dass sie sich an der Spucke in ihrem Mund verschluckt und hustend aufwacht. Es ist schon hell draußen, trotzdem ist sie die Erste, die wach ist. Sie findet nicht direkt ihre Schuhe, bis Hazel sich daran erinnert, dass sie das Paar unter ihr Bett geschoben hat. Die Schnürsenkel sehen mitgenommen aus, genau wie die Sohlen. Ihr ist schwindelig als sie aufsteht, was entweder an ihrem leeren Magen oder an dem Mangel von Flüssigkeit in ihrem Körper liegt. Müde reibt sie sich die juckenden und leicht geröteten Augen, verharrt aber als sie direkt in die Augen einer anderen, auch wachen, Person blickt. Nathan. Den Namen hat sie im Auto aufgeschnappt und sich bis jetzt merken können. „Schon wach?″, gelassen wendet er sich wieder den Tisch vor ihm zu. Statt Nathan zu antworten, tritt Hazel neben ihn und wirft selbst einen Blick auf den Blätterhaufen.

„Das ist das Virus, oder?″ Er wirft ihr einen Seitenblick zu, verhindert aber nicht, dass sie das Papier hochhebt, um die Zeichnung und den Text zu entschlüsseln. „Sieht ganz danach aus″

Vorsichtig fahren ihre Finger die Linien nach, die mit Tinte auf das weiße Papier gedruckt wurden. „Und du denkst auch, dass all das hier klappen könnte?″ „Ich denke nicht es nicht nur, ich weiß es.″ Die Antwort bringt Hazel dazu den Mund zu verziehen, bis die schmale Linie kaum mehr von ihrer Haut zu unterscheiden ist. „Bis jetzt war kein Aufstand gegen unsere aktuelle Regierung erfolgreich, wieso sollte das bei Tick anders sein?″ Nathan seufzt, bevor er sich zu ihr umdreht und seinen blonden Kopf nach unten hält. „Ich verrate dir was, ist aber streng geheim.″ Kurz wirft er einen Blick hinter sie, bis er mit leiser Stimme fortfährt. „Es wird nicht schiefgehen, weil es kein Aufstand ist″ „Kein Aufstand?″ Verneinend schüttelt er den Kopf. „Wenn es ein Aufstand wäre, hätte die Regierung uns längst abgeschossen. Dass wir am Leben liegen liegt einzig und allein daran, dass wir in Namen der Regierung handeln.″

Selbstgefällig tippt er sich selbst an den Kopf. „Wie meinst du das?″ Das Fragezeichen in Hazels Kopf wird mit jedem Wort, das die Beiden wechseln größer, statt kleiner. „Wir sind zu viele, viel zu viele um genau zu sein. Alles würde zusammenbrechen, wenn die Menschheit weiter so stark wächst. Früher sind wenigstens noch ein Paar an Krebs krepiert, aber mittlerweile breiten wir uns uneingeschränkt aus. Die Regierung kann aber nicht einfach Medikamente wieder zurückrufen oder das Kinder bekommen vollständig verbieten, also...″ Abwartend sieht er sie an, bis sie seiner Aufforderung nachgeht. „Also?″ „Sind wir dafür da für Unruhen zu sorgen, Unruhen lösen Aufstände aus, Aufstände Gewalt und Gewalt führt zu Toten. Harvey hat für die Regierung gearbeitet, ich für die Forschungsstation, bis sie uns den Auftrag "Tick" zugeteilt haben.″
Die Informationen dringen nur langsam zu Hazel durch. Ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist, kann sie nicht sagen. Es klingt zu absurd, um wahr zu sein, aber auf der anderen Seite hat Nathan Recht. Die Regierung hätte um einiges härter reagieren müssen, statt sie laufen zu lassen. Ihre Überlebenschancen müssten dadurch um einiges höher sein als gedacht, aber beruhigen kann sie der Gedanke nicht. Es ist alles zu verwirrend.

Sie blickt zu Luna, Josephine und Runa, die alle drei noch tief und fest schlafen. Ob sie es wissen? Josephine bestimmt. Hazel ist so sehr in ihren Gedanken versunken, dass sie Harveys Ankunft nicht bemerkt. Erst als Nathan und er sich begrüßen, nimmt sie ihre Umwelt wieder wahr. Die Tüte in Harveys Händen raschelt, als er selbst an den Tisch tritt und die Zeichnung zur Seite legt. „Du solltest, die Blätter lieber nicht offen herumliegen lassen, Nathan.″ Hazel wirft einen Blick in die Tüte, bis Harvey sie wieder wegzieht. „Ich versuch's.″ Harvey greift hinein und zieht einen Haufen von Oberteilen und Hosen hervor, den er Hazel wortlos hinhält.

Die Kleidung fühlt sich erstaunlich weich an, auch wenn die braune Farbe schon mitgenommen und abgetragen aussieht. „Kannst dich im Bad umziehen, wir haben aber kein warmes Wasser", rät ihr Nathan, der den restlichen Inhalt der Tüte in drei Stapel aufteilt.

Dass es kein richtiges Bad ist, sondern eher eine Rumpelkammer mit einer Toilette und einem rostenden Waschbecken, muss Hazel selbst herausfinden. Der Anblick im Spiegel ist schrecklich. Hazels Haut ist speckig, ihre Haare, die sie sonst immer mit dem Lavendel riechenden, sündhaft teurem Shampoo gepflegt hat bis es glatt und glänzend ihren Rücken herabhing, gleicht eher dem festen Filz, aus dem eine ihre kleinen Einkaufstaschen gemacht ist. Selbst ihre sonst reine, weiche Haut weicht Rötungen auf und fühlt sich trocken und kratzig an. Das kalte Wasser macht es nicht wirklich besser, sondern erlöst sie nur von dem längst getrockneten Schweiß.

Die Plastikbürste, die auf dem Waschbecken liegt, kämpft vergeblich mit den vielen Knoten in ihrem dichten Haar. Erst als sie mit ihren Fingern die größten Knoten aus ihren Haaren gelöst hat, schafft es Hazel durch ihr Haar zu fahren, wobei sie das Haar, das Nahe an ihrer Wunde ist, auslässt. Den Verband macht sie vorsichtig ab und legt ihn auf die Ablage des Waschbeckens. Dann wäscht sie ihre Haare, zumindestens so gut sie kann, über den viel zu kleinen Waschbecken. Dreimal stößt sie sich den Kopf an, bis all der Schmutz den Abfluss heruntergespült ist.

Ihren Mund spült sie mit Wasser aus und verteilt einen Spritzer, der fast leeren, roten Zahnpastatube mit ihren Fingern auf ihren Zähnen. Die Tür quietscht als Hazel sie wieder hinter sich schließt und den Weg zurück in den Hauptraum einschlägt. Die anderen sind mittlerweile wach. Mit knackenden Gelenken setzt sich Hazel neben Runa und schüttet sich Wasser in eines der Gläser ein. Das Brot schmeckt nicht wirklich gut, aber der Hunger macht es wieder wett. Es ist nichts außer ihr Kauen zu hören und ab und an das Quietschen des Metalls. Fünf Brote ist Hazel bevor das Sättigungsgefühl einsetzt und sie zum Aufhören zwingt. Während des Essens hat sie sich weiter den Kopf über Harveys Worte zerbrochen, wenn sie stimmen hat Harvey sie belogen. Die Geschichte mit seinem Bruder wäre ausgedacht, genau wie fast alles andere, dass er ihr gesagt hat. Hin- und hergerissen, stellt sie ihren Teller zur Seite und steht auf. Behutsam streicht sie ihre Bettdecke glatt und stellt ihr halbvolles Glas neben den Bettfuß. Dass Harvey ihr gefolgt ist, weiß sie auch ohne sich umdrehen zu müssen, trotzdem bleibt sie still und drückt ihr Kissen platt.

„Es wäre am besten, du würdest Runa nichts davon erzählen.″ Dass er Nathans Worte meint, muss er nicht aussprechen. „Stimmt es denn was Nathan gesagt hat?″, stellt sie ihm die Frage, die ihr seit heute Morgen auf der Zunge brennt. „Ja.″ „Wieso hast du mich angelogen?″ Fragend sieht sie Harvey an, der das Kissen anstarrt, dass sie vor ein paar Sekunden noch in den Händen gehalten hat. „Ich habe dich nicht angelogen, wir haben dir beide nur die halbe Wahrheit erzählt, aber gelogen hat niemand.″ „Es wäre angemessen, mir die ganze Wahrheit zu erzählen, findest du nicht?″ Erwidert Hazel, die noch einmal über ihre Bettdecke streicht. Harvey fährt sich entnervt über sein Gesicht, bevor er das Gespräch wieder aufnimmt. „Ich kann dir im Moment nicht mehr erzählen, du weißt eh schon mehr als geplant.″ Das Glas ist noch kalt, als sie es hochnimmt und auf ihren Nachtisch stellt. Dabei trifft sie Harveys Arm, dessen Besitzer ihr nur widerwillig Platz macht. Es muss mittlerweile schon Mittag sein, aber sicher ist sich Hazel nicht. Es riecht nach Regen, als sie wieder in den Hauptraum tritt und auf Runa stößt, die einen grauen Einteiler trägt.

Unschlüssig bleibt Hazel steht und überlegt fieberhaft, ob sie Runa einweihen soll oder nicht. Würde sie es machen, müsste sich Runa nicht mehr um ihr Leben fürchten, aber Hazel würde auch riskieren Runa in Gefahr zu bringen. Schließlich kennt sie nur Puzzleteile und kann sie noch nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammensetzen. „Hey, hast du noch Schmerzen?″ Fast aus Reflex fast sich Hazel an den Kopf, wo die Wunde ist, die Runa gestern Abend noch mehr oder minder verbunden hat, nachdem sie Hazel aufgeweckt hat. „Ich hab den Verband zum Haarewaschen abgenommen, aber es tut nicht mehr wirklich weh.″ Runa scheint ihr gar nicht richtig zuzuhören, sondern sieht sich Hazels Hinterkopf selbst an. „Sieht gut aus, zumindestens hat es nicht mehr geblutet.″ Das scheint den Beiden zu reichen, um das Thema fallen zu lassen und Luna und Josephine nach Draußen zu folgen.
Es ist noch wärmer als gestern, die Luft ist schwül und der Boden scheint unter der wütenden Sonne zu dampfen. Die Zwei haben sechs Stühle aufgebaut, die gerade noch im Schatten der Lagerhalle hinter ihnen stehen und die Beine ausgestreckt. Obwohl Hazel in der Nacht deutlich länger als die empfohlenen acht Stunden geschlafen hat, fühlt sie sich müde und schlapp.

„Ich hasse es zu warten." Die kleinen Wassertropfen in Josephines Haaren leuchten wie kleine, feingeschliffene Edelsteine in der Sonne. „Wenn du uns nicht mit rein in die Scheiße geritten hättest, müssten wir nicht warten", erwidert Runa spitz und rückt ihren Stuhl zu Recht, der ein kürzeres Bein hat und deshalb immer vor und zurückschwangt. „Ich hab mich dafür schon bei dir entschuldigt, außerdem hätte ich dich mit reingezogen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es die richtige Entscheidung ist.″ Runa schnauft. „Stimmt, weil deine Entscheidung ja immer aufgegangen sind.″ Die Spannung zwischen den Vier scheint fast überzuschlagen, bevor Hazel das Wort ergreift. „Wir sollten uns nicht streiten, unsere Lage ist beschissen genug.″ Auch Luna bleibt nicht still, streicht aber erst in aller Ruhe mit ihren Fingern durch ihre langen, schwarzen Haare.

„Ich würde unsere Lage anders einschätzen, schließlich hat alles beim Aufstand geplant. Jetzt müssen wir nur noch die letzten Schnüre ziehen und es ist geschafft.″ Da ist die Spannung wieder, schneller zurück als Hazel es vermutet hätte. Sie starrt in den blauen Himmel, an dem keine einzige Wolke vorbeizieht. Das Blau wirkt fast schon hypnotisierend, so satt und rein ist die Farbe über ihr. Nicht wie das Blau des Meeres oder das Blau ihres Lieblingskleides, es scheint fast schon majestätisch, so blass und doch so intensiv ist es.

Ihr rechtes Bein schwenkt vor und zurück, während sie dem Gespräch wieder Luft einhaucht. „Was haben Harvey und Nathan euch versprochen für eure Hilfe?″ Dass das die falsche Frage ist, sieht sie an Lunas und Josephines Gesichtern und Mundwinkeln, die sich merkwürdig zur Seite ziehen, als würde ein grobhändiger Puppenspieler an ihnen zerren . „War es Geld Josephine? Konntest du dir deshalb die Wohnung leisten?″ Josephine ist nicht der Mensch der in Gelegenheit gerät, der sich von einem Lehrer durch eine Predigt einschüchtern lässt oder sich von seiner Mutter ins Gewissen reden lässt. Trotzdem kann Hazel kurz das Flackern in ihren Augen entdecken. „Ja, er hat mir Geld gegeben, aber darum geht's nicht. Anders als du hatte ich nie eine Chance, durfte nie auf einer der guten Schulen gehen, wurde nicht für die eh schon viel zu wenigen Jobs ausgesucht und dazu hätte ich nie ein Kind bekommen dürfen. Mir hat niemand je eine Chance gegeben, für jedes Fitzelchen an Geld oder Ansehen musste mir selbst den Arsch aufreißen, ohne irgendeine Form von Hilfe. Ich bin abgerutscht, in die falschen Kreise geraten, bis Harvey mir den Job angenommen hat.″

„Es tut mir leid, Hazel. Leid, dass ich nach dem ersten Strohhalm gegriffen hat, der mir hingehalten wurden. Ich habe Hilfe gebraucht und Harvey war die Hilfe. Dass unsere Freundschaft darunter zerbrechen könnte, wollte ich nicht, aber ich konnte nicht nein sagen. Nicht nachdem ich weiß wie es ohne Stütze ist, wenn man nicht weiß wie das Leben weiter gehen soll.″
Josephine ist aufgestanden, die rechte Hand zur Faust geballt und nach unten gestreckt. Die Wassertropfen in ihren Haaren sind nicht mehr das einzige das glitzert, auch ihre Augen haben das glänzen angefangen. Das Beben ihrer Unterlippe, bevor sie sich umdreht und in das Innere ins Lagerhaus läuft, trifft Hazel. Sie muss schlucken, so lange hat Josephine es nicht zugelassen, dass sie hinter die Fassade des taffen Mädchens blickt, das alleine in der Lage ist die Welt aus den Angeln zu heben.

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