15
Blau, ist das Einzige, das Hazel sieht während sie in den Abgrund stürzt. Dunkles Blau wie die Tiefsee, helles Blau wie die Tapete in ihrem Kinderzimmer und ein blau Grau, dass sie an die Haut eines Haifischs erinnert. Es zieht in ihrer Magengegend, hoch bis in ihren Haaransatz. Die Luft und Zeit kommt ihr Zäh vor, als würde sie nicht fallen, sondern schwimmen. Sie sieht nicht ihr Leben an sich vorbeiziehen, fängt nicht an über ihre Entscheidungen nachzudenken, stattdessen herrscht Leere in ihrem Kopf. Hazel kann sich Nichtmal mehr an ihren Namen erinnern, während sie in die Tiefe fällt. Es zischt, schrillt und pfeift in ihren Ohren, die jetzt nicht mehr von ihren blonden Haaren geschützt sind. Es kommt ihr so vor als hätte sie die Unendlichkeit erreicht. Das Ziehen in ihrem Magen und die Angst ist abgeflacht, der Druck auf ihren Kopf scheint wie aufgelöst, sie fühlt sich schwerelos. Wäre es möglich gewesen, hätte sie vielleicht sogar die Arme in die Luft gesteckt, um nach den weißen Wolken zugreifen, die auf einmal so nah aussehen. Hazel schließt ihre Augen und löst die Fäuste, die ihre Hände gebildet haben. Der Schmerz trifft nicht sofort ein, zu sehr wird ihr Körper von dem Aufprall erschüttert. Die Luft, die zuvor noch Hazels Lunge gefüllt hat, verlässt ruckartig ihren Körper. Und dann spürt sie es, das unertragbare Brennen, das sich auf ihren ganzen Körper ausbreitet. So bleibt sie liegen, beträgt stumm und regungslos die Schmerzen, die über ihren Körper wüten. Nicht mal weinen kann Hazel, während sie versucht wieder Herr über ihren Körper zu werden. Sie glaubt nicht, dass sie sich was gebrochen hat, dafür war der Abstand zu gering, oder nicht? Vielleicht ist es auch die naive Hoffnung, die aus ihr spricht. Noch immer zu ängstlich sich zu bewegen, versucht Hazel tief ein und auszuatmen. Dreimal wiederholt sie das. Die Augen noch immer geschlossen versucht sie ihre Arme zu bewegen und stellt erleichtert fest, dass die Bewegung mit leichten Schmerzen möglich ist.
Mit neuem Mut bewegt Hazel auch ihr rechtes Bein, zischt auf als die raue Hose über die aufgeschürfte Haut schleift, aber auch das lässt sich ohne große Schmerzen machen. Nur ihr Rücken und ihr Hinterkopf brennen wie Feuer, sie muss nicht nachschauen um zu wissen, dass sie blutet. Wäre sie auf Asphalt gefallen, wäre das ganze um einiges schlechter ausgegangen, aber der Müll und Kartonberg, auf dem sie liegt, hat sie weitestgehend beschützt. Mit dem Abnehmen des Pochens in ihrem Kopf, fängt Hazel an den Gestank wahrzunehmen, der sich in ihrer Kleidung und ihren Haaren festsetzt. Erst jetzt, wieder vollständig wach durch den Geruch der Abfälle, denkt sie wieder an die Verfolger, vor denen sie schon längst weiter wegrennen müsste und versucht sich aufzurappeln. Die ersten Schritte sind etwas holprig, aber langsam kommt Hazel in einen Rhythmus, mit dem sie schnell genug sein könnte. Schritt für Schritt kämpft sie sich vor, versucht wieder raus aus der Gasse zu gelangen und einen anderen Weg einzuschlagen. Ihre Schritte werden schneller als sie jemand hinter sich hört. Hazel schreit als ihr Arm gepackt wird und sie nach hinten gezogen wird. Die Angst lähmt sie, es dauert einige Sekunden bis sie anfängt, um sich zu schlagen und sich zu wehren. Ihre Knöchel fangen an zu schmerzen, als sie auf Widerstand treffen. Ihre Sicht ist nicht ganz klar, Hazel kann die Gesichter vor ihr nicht erkennen, sondern sieht weiße und gelbe Punkte, die vor ihr hin und her schweben. Dann wird alles schwarz und die Zeit fühlt sich wieder zäh an.
„Wir können nicht mehr warten, wir müssen nach vorne, sonst endet alles im Chaos, Harvey", sagt Nathan und schließt die Tür der Fahrerseite des Autos. „Fahr los", entgegnet Harvey und sieht nach vorne, die letzten Kämpfe spielen sich am Ende der Straße ab, der Platz vor und hinter ihnen füllt sich langsam wieder mit Menschen, die kurz zuvor noch in ihre Häuser geflohen sind. „Sind noch weitere Helikopter oder Drohnen auf dem Weg?″ „Wissen wir nicht, aber wir müssen bald hier weg, bevor weitere Sicherheitsleute kommen", antwortet Nathan und drückt aufs Gas. Harveys Fingerknöchel sind weiß, als er in seine Tasche fasst und nach seinem Handy sucht. „Sind die Anderen auf ihren Positionen?″ „Ja, alles ist vorbereitet.″ Josephine und Runa unterhalten sich leise auf der Rückbank, bevor Josephine sich nach vorne lehnt und Harvey ihr Handy reicht. Videos und Fotos sind auf dem Handy zu sehen, die alle die Helikopterabstürze zeigen. Er reicht Josephine das Handy wieder zurück, bevor er wieder nach vorne starrt und mit seinen Händen weiter auf seinem Bein trommelt.
Nicht mehr lange und sie sind da. Die Schüsse und Rufe werden immer lauter und der Rauch versperrt ihnen die Sicht, weshalb Nathan langsamer fahren muss. Josephine und Runa ziehen sich dieselben, schwarzen Masken über ihre Gesichter. Nur noch ihre Augen und ihre Stirn sind zu sehen. Harvey ist der Erste, der aussteigt als der Wagen zum Stehen kommt und der Motor das Arbeiten aufhört. Einige Köpfe drehen sich zu ihnen um, die Meisten bemerken sie allerdings nicht, zu sehr sind sie abgelenkt von der Auseinandersetzung. Autos sind als Wall zwischen Masken- und Uniformträgern aufgebaut. Schüsse fallen ununterbrochen, nur langsam kriechen die Menschen an den Autos entlang und versuchen ihre Gegenüber auszuschalten. Menschen schreien und weichen zurück, als eines der umgekippten Autos das Brennen anfängt, nachdem es von einer Reihe von Schüssen getroffen wurde. Das Chaos wird ausgenutzt, schnell klettern ihre Gegner durch eine Lücke, um zu den Maskenträger durchzudringen und eröffnen das Feuern. „Zurück!″, ruft Nathan den Maskenträgern zu, bevor er eine Nebelkugel wirft. Eine rote, kleine Kugel, dessen Gas saurem Regen ähnelt. Der Nebel löst ein Brennen in den Augen und ein unangenehmes Prickeln auf der Haut aus, das immer stärker wird, bis es unerträglich scheint. Die Kugel zeigt sich wirksam, einige der Waffenträger gehen zu Boden, die Restlichen schaffen es nicht mehr zu zielen und stellen das Feuer ein. Nathan fängt an zu schießen, während Harvey eine andere Rarität aus dem Kofferraum zieht. Josephine und Runa helfen währenddessen den Verletzten, in dem sie ihnen Rückendeckung gewähren, während sie aus ihren Verstecken robben. Die nächste Kugel löst keinen Nebel, sondern Feuer aus. Harvey steckt sie in seine Tasche, bevor er Nathan folgt, der mit seinem Gefolge durch die Autos schreitet und auf die Gegner zielt. Das Adrenalin fließt durch seine Ader, während er über die Verletzten steigt und auf die Quelle der Gefahr zuläuft.
Er greift nach seiner Waffe, als Nathan vor ihm stehen bleibt und wirft einen Blick über den Trümmerhaufen. Autoreste, Abfall und Dreck haben die Landschaft vor ihnen gebaut, die von Hügeln und Tälern durchwachsen ist. Es ist wie verstecken spielen, solang sich niemand bewegt, müssen sie warten oder suchen. Harvey tastet seine Tasche ab, bis er wieder die rote Kugel spürt und diese langsam aus seiner Tasche zieht. „Geh hinter mich. Ich werfe sie in den Hügel″, sagt zu Harvey Nathan, der sich noch einmal nach möglicher Gefahr umsieht, bevor er seinen Befehl Folge leistet. Harvey zieht die Sicherung heraus, holt mit seinem rechten Arm aus und wirft die Kugel nach vorne. Kurz ist es still, niemand scheint sich zu rühren, dann knallt es. Das Feuer brennt noch nicht mal richtig, bevor es auf die nächsten Autowracks übergeht und seine Zungen nach dem rostenden Metall ausstreckt. Sie müssen zurückweichen um von der Hitze und dem Rauch nicht erschlagen zu werden, der durch die Lücken wabert und ihnen die Sicht nimmt. Die Flammen strecken sich immer weiter in den Himmel, so hoch, dass Harvey den Kopf in den Nacken legen muss, um die Flammenspitzen zu sehen. Rufe sind zu hören, bevor ihre Gegner abziehen, die nichts gegen den Brand ausrichten können. Seine Augen glitzern, sind ein Spiegel des Feuers, das in ihnen Golden leuchtet und strahlt. Es ist hypnotisierend. So sehr Harvey es versucht, er kann den Blick nicht von dem Spektakel vor ihm nehmen. Erst Nathans Hand auf seiner Schulter bricht den Zauber und lässt ihn aus seiner Starre schrecken. „Zeit für unsere Ansprache. Wir sollten uns aber beeilen, sonst kommen die nächsten Helikopter.″
Nickend sieht Harvey ein letztes Mal in die Flammen, bevor er sich umdreht und das Feuer hinter sich lässt. Nur der Geruch von Rauch schwebt noch in der Luft als sie auf Nathans Auto zulaufen, um das sich schon die Maskenträger versammelt haben, wie die Motten um das Licht.
Es herrscht Stille auf dem Schlachtfeld eingekehrt, sämtliche Schreie, Schüsse und Rufe sind verstummt, um einer unheimlichen Ruhe Platz zu machen. Josephine steht vor dem Wagen, die Maske leicht verrutscht und die kürzeren Haare wirr durcheinander. „Ich hab das Video hochgeladen, aber keinen Empfang mehr. Sie müssen den Empfang gekappt haben.″ „Darum kümmern wir uns später. Ist Hazel bei euch?″, erwidert Harvey und versucht einen Blick in das Innere des Gefährts zu erhaschen. „Nein, Nathans Leute sind noch nicht wieder zurückgekommen.″ Die Worte treiben ihn den Schweiß auf die Stirn. Alles kann scheitern, wenn er den Grundstein seines Vorhabens verliert.
„Wo ist deine Freundin?″, fragt Harvey. „Sie wollte Hazel und den Rest suchen", antwortet Josephine und zieht dabei ihre Maske wieder an Ort und Stelle. „Alleine?″ „Nein, sie wird begleitet. Ich wollte nur hierbleiben, falls ihr Hilfe braucht.″ Nathan hat sich währenddessen mit einem der Maskenträger unterhalten, dessen Name Harvey entfallen ist, aber dessen Statur ihm bekannt ist. Der schmächtige Mann, der vor einer Stunde mit ihm auf dem Häuserdach war. Die Schultern sind noch immer eingezogen, als er den Drei den Rücken zudreht und auf die Häuserfront zuläuft. „Bereit für die Ansprache?″, fragt Harvey Nathan, dem schon in Angesicht der Menschenmenge, auf der anderen Seite des Wagens, der Schweiß auf der Stirn steht. Harvey öffnet eine der Autotüren, stellt seinen Fuß auf die Stufe und klettert so auf das Dach des Autos. Nathan tut es ihm gleich und stellt sich auf seine linke Seite. Dann warten sie, solange bis jeder sie sieht und sämtliche Gespräche verstummt sind. Die Sonne brennt mittlerweile auf den Platz nieder und die Hitze ist so stark, dass die Luft über den Boden flackert. Der Himmel ist wolkenlos, nur der noch nicht abgezogene Rauch hält einen Teil der Sonnenstrahlen auf und verdunkelt das Licht, als würden sich Gewitterwolken am Himmel türmen.
Josephine legt das Mikrofon auf das Dach, dass nicht größer als eine Erbse ist und unaufhörlich blinkt, bis Harvey danach greift und es an seiner Jacke befestigt. Erst dann beginnt er zu sprechen.
„Der Kampf ist noch nicht vorbei. Wir haben der Regierung zu viel Macht verleiht, ihnen jede Entscheidung über unser Leben abnehmen lassen. Der Dank dafür sind Morde und Verbote, nicht mal Kinder dürfen die meisten von uns bekommen. Sie stellen sich über uns, sehen uns als ihre Figuren in ihrem Spiel, dabei sind wir diejenigen, die den Staat bilden. Ihr Morden wird nicht aufhören, jenen von uns die nicht so wertvoll für das System sind, die nicht über das perfekte genetische Erbe verfügen, wird jegliche medizinische Hilfe untersagt werden. In unserem System ist laut ihnen kein Platz mehr für einfache Menschen, wir sind Ballast für sie, nehmen ihnen den Wohnraum und die Ressourcen weg.
Wer etwas dagegen sagt, verschwindet, wird eingesperrt oder mundtot gemacht. Sie machen uns zu ihren Sklaven, Meinungs- und Gedankenlos, nur noch leere Hüllen, die ihren Wünschen nachgehen und ihren Zielen hinterherlaufen. Es ist Zeit das zu beenden, aufzuhören nachzugeben, sondern uns selbst wieder die Macht geben, die wir verdienen. Wir sind das Volk, wir regieren, wir entscheiden und wir haben das Recht zu leben. Jeder der sich dem in den Weg stellt, hat keinen Platz in unserem neuen System, dessen Zeit heute anbricht.″ Zurufe ertönen, das Feuer in Harveys Augen breitet sich aus, die Menschen werden lauter und drängender, bis sich die Rufe zu einem Schlachtgesang vereinen. Nathan gibt das Zeichen, er hebt seinen Arm und streckt seine Faust in die Luft. Dann passiert es. Die Maskenträger, die von ihnen auf den Dächern platziert wurden, reagieren auf das Signal und lösen die Kettenreaktion auf, auf die alle auf dem Platz gespannt warten. Die Häuserwände werden nacheinander von jeweils einem riesigen Tuch verdeckt, dass die Maskenträger an der Dachfassade befestigt haben. Erst schwenken die Tücher zu sehr hin und her, um die Bilder auf ihnen zu erkennen. Dann sieht man es. Ein Raunen geht durch die Menge.
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