Singst du für mich? (Oneshot 12.1)

„Als nächstes spielen wir einen Song von einem Künstler, der schon ein paar Jahre Musik macht, allerdings noch nie so erfolgreich, wie mit diesem Lied war. Über Nacht landete er auf Platz 1 der deutschen Charts. Viel Spaß mit ‚Erinnerung' von Tim Lehmann.", spricht die Frau aus meinem Küchenradio, bevor die langsame Töne eines traurigen Songs beginnen. Tim? Ich wusste nicht mal, dass er wieder einen Song veröffentlicht hatte.

Zwischen meinen Händen drehe ich die halbleere Kaffeetasse, während ich auf seinen Einsatz warte. Seine Stimme klingt nicht mehr so leicht und unbeschwert wie noch vor zwei Jahren. Sie ist voll geladen mit Gefühlen.

Damals bei seinen ersten Songs ohne mich, habe ich ihn dafür bewundert, dass er egal wie emotional das Thema für ihn war, er es mit so einer Leichtigkeit über die Lippen gebracht hat. Selbst wenn er weinend im Studio stand, hatte man am Ende das Gefühl, dass es für ihn befreiend war. Musik bedeutete für ihn Freiheit, dass war mir schon damals klar geworden. Es ist nicht überraschend gewesen, dass er weiter daran festgehalten hatte. Bloß war ihm die Unbeschwertheit entwichen, es klang fast schon hoffnungslos, dabei wollte er mit seinen Liedern anderen immer Kraft geben.

Ich weiß, dass ich kein Recht darauf habe, zu wissen, was passiert ist. Schon über zwei Jahre haben wir nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Wir hatten uns auseinander gelebt. Es war einfach passiert ohne das wir eingeschritten sind.

Wir hatten Gewitter im Kopf, zusammen. Eigentlich war alles gut. Zwei beste Freunde, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht hatten. Nach drei Jahren YouTube beschlossen wir einen Cutter einzustellen, damit Tim seine Ausbildung zum Rettungssanitäter fertig machen konnte. Vielleicht war das der Fehler. Ein eingespieltes System aufzubrechen. Von einem Tag auf den anderen, sahen wir uns nicht mehr jeden Tag. Zwei mal die Woche trafen wir uns für die Video und den Livestream. Anfangs kam er Abends noch kurz vorbei und wir schauten gemeinsam einen Film. Bei dem Gedanken an seine Hand, die gedankenverloren mit meinen Haaren spielt, muss ich immer noch lächeln. Ich hätte es schon damals merken müssen.

Dann hatte er irgendwann Prüfungen, musste lernen und einige Videos mussten ausfallen. Ich hatte schon damals unsere gemeinsame Zeit vermisst, aber es war kein Vergleich zu dem Schmerz, der heute in meiner Brust sitzt.

Tim wirkte damals ausgelaugt und erschöpft, ich bot ihm an, dass wir bis zum Ende seiner Ausbildung eine Kanal-Pause machen. Nach einigem Zögern stimmte er meinem Vorschlag zu und es gab wieder einen Grund weniger, dass wir uns regelmäßiger sahen. In meinen Augen machte ihn diese Ausbildung zu diesem Zeitpunkt nicht glücklich, aber er wollte umbedingt einen Abschluss in der Tasche haben, für den Fall, dass wir mit YouTube irgendwann nicht mehr Geld verdienen sollten.

Ich hatte immer gehofft, dass es nur eine Phase sei und unsere Freundschaft diese Veränderung überleben würde. Warum sollte sie auch nicht? So viele hatte uns wieder und wieder gesagt, dass wir der Inbegriff von Freundschaft seien, dass unsere Freundschaft bis an unsere Lebensende halten würde. Sicherlich hätten wir als beste Freunde diese Zeit auch überstanden, ich konnte darauf vertrauen, dass Tim immer da sein würde, wenn ich ihn brauchen sollte. Aber was niemand gesehen hatte, war, dass wir schon lange keine besten Freunde mehr waren. Ich hatte es selbst erst viel zu spät bemerkt. An unserem letzten gemeinsamen Abend, bevor ich ihn nie wieder gesehen habe.

Wir hatten nach einer halben Ewigkeit mal wieder fast einen ganzen Tag gemeinsam verbracht und einfach unseren Spaß gehabt. Wir waren uns so vertraut wie immer. Abend rangelten wir noch miteinander. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es genau dazu gekommen war. Ich konnte diesen kleinen Kampf für mich entscheiden und saß auf dem am Boden liegenden Tim. Mein Kopf war plötzlich ausgeschalten gewesen und ich war gefangen in Tim grinsendem Blick. Wie selbstverständlich hatte ich meine Hand an seine Wange gelegt. Wir waren uns näher gekommen und schlussendlich lagen meine Lippen auf seinen. Er erwiderte meinen Kuss. Mir war in diesem Moment klar geworden, dass wir eigentlich schon längst ein Paar sind. Viel zu lange hielten wir den andern fest und pressten die Lippen auf einander, um noch zu behaupten, dass da keine tieferen Gefühle zwischen und gewesen wären.

Anschließend war Tim aufgesprungen, hatte panisch seine Sachen geschnappt und war aus meiner Wohnung geflohen. Völlig verwirrt von der Situation und überfordert von meinen Gefühlen hatte er mich auf dem Wohnzimmerteppich zurück gelassen.

Er hatte sich nicht nochmal gemeldet, ich mich ebenso nicht. Anfangs dachte ich, unser Kuss und meine Gefühle hätte unsere Bindung zerstört. Aber später, als ich mich in Erinnerungen wälzend unsere Videos von damals anschaute, wurde mir klar, dass meine Mutter recht hatte: Tim hatte meine Gefühle erwidert. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch schon viel zu viel Zeit vergangen, in der wir Fremde waren. Ich hatte mich nicht bei ihm gemeldet.

Vielleicht hätte ich es tun sollen, dann würde ich jetzt nicht durchs Radio erfahren müssen, dass Tim einen neuen Song veröffentlicht hat und damit offensichtlich sehr erfolgreich ist. Ob er in den vergangenen Monaten noch mehr Lieder rausgebracht hat?

Damals habe ich ziemlich plötzlich aufgehört auch nur irgendeine Information über ihn wahrzunehmen, weil es mir jedesmal das Herz gebrochen hat zu wissen, dass ich die Chance auf ein UNS verpasst hatte.

Zum ersten Mal seit fast zwei Jahren rief ich sein Instagram-Profil auf. Das neue Lied gehört zu einem Album, was bald erscheinen soll. Er beschreibt unter einem Post, dass die neuen Lieder in eine andere Richtung gehen, weil er mit einer persönlichen Geschichte abschließen möchte. In den Kommentaren unter dem Bild häufen sich die Vermutungen unserer ehemaligen Fans, ob ich etwas damit zu tun haben könnte.

Ich stehe auf und schalte das Radio aus, um stattdessen über meinen Bluetooth-Lautsprecher Tims Songs abzuspielen. Alle Lieder handeln von Träumen für die man kämpfen sollte, dass man einfach man selbst sein sollte, dass man sich nicht runterziehen lassen soll. Nur sein neuester Song... er ist anders. Er spricht davon, dass er immer versucht andere zu ermutigen ihr Ding zu machen, er aber selbst in Erinnerungen hängt. Viel zu viel über vergangene Entscheidungen nachdenkt. Je öfter ich ihm zuhöre, wird mir klarer, dass er von uns singt. Es ist nicht offensichtlich und man kann es wahrscheinlich nur verstehen, wenn man uns sehr gut kennt, aber dann ist es mehr als deutlich.

Vielleicht weil mich seine Lieder genauso motivieren, wie seine Fans. Vielleicht, weil ich auch abschließen möchte. Vielleicht weil sich mein Gehirn immer noch abschaltet, wenn ich mich zu sehr mit Tim beschäftige, greife ich wieder nach meinem Smartphone und antworte auf seine Story zum Songrelease: „Ist der Song über uns?" Ich will die Nachricht schon zurück ziehen, aber was habe ich schon zu verlieren?


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Kaum gibt es einen Stream-freien Abend kommt ein Oneshot! Yeah! Mal sehen, wann ich dann zu Teil zwei davon komme 😂 falls ihr den überhaupt wollt...

Die Idee kam mir übrigens, weil ich zurzeit sehr viele Larry-Geschichten lese...

Liebe Grüße  

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