Fliegen lernen (Oneshot 5.1)
Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Es wird alles gut. Es sind bloß kleine Turbulenzen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
Immer wieder wiederholte Tim dieses Mantra in seinem Kopf, während er im Flugzeug nach Madeira saß. Immer wieder fragte er sich, wie Jan neben ihm, es schaffte, seelenruhig zu schlafen. Immer wieder ruckelte das Flugzeug unkontrolliert in alle Richtungen, kombiniert mit seiner Höhenangst, war dieser Flug Höllenqualen für ihn.
Am liebsten hätte er Jan aufgeweckt, um seine beruhigende Stimme zu hören und von Gisela abgelenkt zu werden. Und dann könnte er sich vielleicht auch an ihn klammern oder zumindest seine Hand halten. Bloß er konnte Jan nicht wecken, den er wusste wie froh dieser immer war, wenn er einen Flug durchschlafen konnte, dann würde er nämlich nicht die anderen Fluggäste mit seinen Ticks nerven. Und einfach so nach seiner Hand greifen, würde, falls Jan aufwachte, auch sehr seltsam wirken.
„Sehr geehrte Fluggäste, da wir gerade durch kleinere Turbulenzen fliegen, bitten wir Sie sich an ihre Plätze zu begeben und sich anzuschnallen."
Kleinere Turbulenzen. Kleinere Turbulenzen. Wir werden nicht abstürzen. Es wird alles gut. Kleinere Turbulenzen. Kleinere Turbulenzen.
Natürlich war er schon ein paar Mal geflogen, aber dieses Mal gab es nicht eine ruhige Minute. Plötzlich machte das Flugzeug wieder einen Satz nach unten, oder zumindest fühlte es sich so an. Tims Herz setzte für einen Moment aus und langsam machte sich in ihm das ungute Gefühl breit, dass er diesen Flug nicht überleben würde. Entweder würde das Flugzeug abstürzen oder er würde an seiner Angst zugrunde gehen.
Einen Vorteil hatte diese Ruck jedoch, Jan wachte langsam auf. Müde rieb dieser sich die Augen und brauchte erstmal einige Sekunden, um sich zu orientieren. Dann schaute er rüber zu Tim, der sich fest an seinen Sitz klammerte. So fest, dass bereits das weiß seiner Knöchel durch die Haut schimmerte. Seine Augen waren weit aufgerissen und einzelne Schweißperlen bahnten sich ihren Weg über sein Gesicht. Beruhigend legte Jan seine Hand auf Tims Oberschenkel und strich darüber. „Keine Angst, das ist normal beim fliegen. Angsthase!" Er bekam keine Antwort von Tim, stattdessen wurde seine Hand von Tims halb erdrückt, als dieser danach griff. Er akzeptierte den Schmerz und hoffte einfach, dass es Tim etwas half.
Fest klammerte er sich Jans Hand, welche dieser so einladend auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Es brachte sogar etwas und wenigstens seine Atmung konnte er langsam aber sicher etwas kontrollieren. Dankbar versuchte er Jan anzulächeln, kam jedoch nicht dazu, da das Flugzeug plötzlich eine starke rechts Kurve machte. Beide wurde feste in ihre sitze gedrückt und wäre nicht die Armlehne dazwischen gewesen wäre Tim auch auf Jan drauf gerutscht.
Hektisch rannte eine Stewardess durch den Gang, immer wieder fiel sie fast hin, da das Flugzeug immer noch ziemliche Schräglage hatte. Als sie auf der Höhe von Tim war, hielt dieser sie auf und fragte, ob das noch normal sei. „Natürlich, in Kürze werden wir die Turbulenzen durchflogen haben.", klärte sie ihn höflich auf, um dann hektisch weiter zu stolpern. „Siehst du, es ist nichts.", bestätigte nun auch Jan die Aussage und spürte dabei tatsächlich, dass der Druck auf seine Hand langsam nachließ. Trotzdem hoffte er, dass sie weiter Händchen halten würden, denn er empfand schon länger etwas für Tim, konnte es ihm aber nie sagen, denn zu groß war seine Angst, dass ihre Freundschaft daran zerbrechen könnte.
In Kürze sind die Turbulenzen rum. Einatmen. Ausatmen. Es wird alles gut. Einatmen Ausatmen. Jan ist bei mir, dann kann es nur gut enden.
Plötzlich machte das Flugzeug einen noch engere Kurve nach rechts und sank dabei auch noch mit der Spitze extrem ab. Die Passagiere verstanden noch gar nicht, was gerade passierte, da befand sich das Flugzeug schon in einem Strudelflug senkrecht auf die Erde herab. Alle Gegenstände die nicht niet- und nagelfest waren, flogen durch die Kabine. Personen flogen gegen die Decke und verletzten sich dort. Andere wurde fest in ihre Sitze gepresst, sodass sie fast nicht mehr atmen konnten. Man hörte Menschen schreien und andere weinen. Denn allen war in diesem Moment klar geworden, dass es sich nicht mehr um einen gewöhnlichen Linienflug handelt.
Genauso standen auch Jan und Tim die Panik ins Gesicht geschrieben. Fest umklammerten sie gegenseitig ihre Hände und versuchten somit irgendwo in diesem Chaos halt zu finden. Tim, der schon die ganze Zeit Angst hatte, fühlte sich nun bestätigt. Er hatte es von Anfang an gewusst. Jan hingegen sah vor seinem innern Auge sein Leben an sich vorbei ziehen und hatte plötzlich das Bedürfnis Tim alles zu sagen. Dass er ihn liebte, denn jetzt würde es sowieso nichts mehr bewirken. Er war wütend auf sich selbst es nicht früher getan zu haben, denn vielleicht hätte es doch irgendein Happy End gegeben.
„Tim!", schrie er gegen den Lärm an. Und langsam wendete sich der angesprochene zu ihm um. Und obwohl es gar keinen Sinn machte in dieser Situation strahlte Tim Ruhe aus. Vielleicht war er nicht so überrascht, weil er es schon die ganze Zeit gefühlt hatte. Vielleicht auch einfach, weil es Tim war. „Was?", fragte Tim. „Bevor wir sterben, muss ich dir noch was sagen: Ich liebe dich!"
In Tims Gesicht spiegelten sich die verschiedensten Emotionen wieder, aber Jan bekam keine Antwort. Stattdessen wirkte plötzlich so eine starke G-Kraft auf ihre Körper, dass sie regelrecht mit ihren Sitzen verschmolzen. Während Tim damit kämpfte, das Brötchen vorhin nicht woeder auszuspucken, hatte Jan das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Mehrere Sekunden bewegte sich nichts im Flugzeug, alles wurde fest an seinen Ort gepresst.
Und dann war wieder alles normal. Das Flugzeug flog gerade weiter. Die Passagiere jedoch konnten gar nicht fassen, was gerade passiert war und wie knapp sie am Tod vorbei geschrammt sind. Dann machte sich Erleichterung breit. Leute lachten hysterisch auf, andere weinten vor Glück.
Tim und Jan saßen mit fassungslosen Gesichtern in ihren Sitzen. Die Hände haltend. Keiner der beiden traute sich in diesem Moment sich zu bewegen. Nach etlichen Minuten fand Jan seine Stimme wieder: „Wir haben überlebt. Wir haben einfach überlebt!" „Ja das haben wie wohl.", antwortete Tim. Dann sagte keiner mehr was. Nur langsam sickerten die vergangenen Minuten in ih Bewusstsein. Tims Angst, die kleinen Turbulenzen, die etwas größeren Turbulenzen, wie sie sich aneinander klammerten, wie der Sturzflug begann, wie Jan seine Gefühle gestand.
Jan bekam wieder Angst, eigentlich war er nicht davon ausgegangen, dass er diesen Flug überleben würde. Dass er Tims Reaktion darauf erleben würde. Er traute sich nicht mehr Tim anzuschauen, geschweige denn zu berühren. Schnell wollte er seine Hand aus Tims lösen, doch dieser verhinderte dies, in dem er den Griff verstärkte. Dann legte Tim seinen Kopf auf Jans Schulter und begann leise zu weinen. Das war alles zu viel für ihn.
Jan versuchte mit aller Kraft ruhig zu bleiben, aber sein Herz fing wieder an zu hüpfen. Aber nicht wie auf einem Trampolin, wo es Spaß macht. Nein, es fühlte sich eher an als ob sein Herz mit doppeltem Salto in einen Dornenstrauch gesprungen wäre. Am Anfang noch ganz schön, aber dann sehr schmerzhaft, als er realisierte, dass Tim seine Gefühle nie erwidern würde.
„Wir entschuldigen uns für jegliche Unannehmlichkeiten und werden nun unseren Landeanflug nach Madeira Airport fortsetzen. Unsere voraussichtliche Ankunftszeit ist 15:30 Uhr.", beendete der Kapitän seine Durchsage. Und tatsächlich landeten sie eine halbe Stunde planmäßig auf Madeira. Von außen betrachtet, sah es wahrscheinlich wie ein gewöhnlicher Linienflug aus, aber wer genauer hinschaute sah in den Gesichtern der Passagiere, dass hier gar nichts gewöhnlich war.
Tim und Jan hatten nicht weiter miteinander gesprochen und selbst Jans Tourette schien der Flug noch in den Knochen zu stecken, denn nur selten zuckte er etwas. Jan war mittlerweile zu dem Entschluss gekommen, das Thema gar nicht anzusprechen, denn je länger er darüber nachdachte, desto mehr ging er davon aus, dass Tim sein Geständnis sowieso freundschaftlich verstehen würde. Tims Gehirn hingegen war immer noch auf Überlebensmodus. Alle Informationen, die nicht zwingend dafür notwendig sind, wurden verdrängt.
Ich bin am leben. Ich bin am leben. Das Flugzeug ist nicht abgestürzt. Ich bin am Leben.
Mehr kam nicht in seinem Kopf an. Gleichzeitig war im zwar klar, dass auch noch mehr passiert war und seine Emotionen ihm irgendwas sagen wollten, aber alles war ein großer Nebel und komplett unwichtig zum überleben.
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Das war der erste Teil dieses Oneshots, der zweite wird dann flogen sobald ich motiviert genug war, ihn zu schreiben. In meinem Kopf ist die Geschichte zwar schon fertig, aber halt noch nicht abgetippt.
Eventuell merkt man in diesem Oneshot meine extremes Interesse am Fliegen, an Flugzeugen und an Flugzeugabstürzen. Und für alle die meinen das sein total unrealistisch, dass ein Flugzeug plötzlich abstürzt und sich dann wieder fängt: Nein, ist es nicht! Schaut euch Mayday, Mayday - Alarm im Cockpit an.
Ich hoffe es hat eich gefallen und ihr wollt die Fortsetzung auch sehen!
Liebe Grüße
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