Die Trauer verstecken
Die nächsten Tage vergingen und langsam renkte sich alles ein.
Wenn ich nicht Schotiji in der Küche half, leistete ich Rondra und meinem Bruder Gesellschaft. Tallis verhielt sich Rondra gegenüber sehr abweisend, spielte aber missmutig Fangen und Verstecken mit ihr. Dem Herrn missfiel das, aber Rondra versicherte ihm Abend für Abend, dass sie vorsichtig bei all dem war und wie viel Spaß sie hatte.
Am dritten Tag verlangte Rondra, dass Tallis neben ihr im Unterricht saß und ihr Gesellschaft leistete, was dazu führte, dass am Nachmittag beide rote Striemen vom Schlagstock auf den Fingern hatten. Laut dem Lehrer hatten sie unter dem Tisch heimlich ein Spiel gespielt, wo sie sich gegenseitig auf die Füße traten.
Daraufhin hatte ich Tallis gefragt ob er und Rondra langsam Freunde wurden und er hatte mich angesehen als hätte ich den Verstand verloren. Während er Gefallen an Ail und dem stillen Salimm gefunden hatte, so brachte er Rondra, dem Herrn, Schotiji und vorallem Kailan nichts als Verachtung entgegen. Etwas, was ich von ihm nicht gewöhnt war.
Generell hatte mein Bruder sich verändert. Er war kälter geworden, härter. Es war nicht so, als wären wir auf einmal Fremde, ich sah oft den Jungen den ich kannte in seinem Verhalten durchscheinen, aber es gab Momente da schien er mir vollkommen fremdartig.
Doch nichtsdestotrotz war er Tallis, mein Bruder, den ich schätzte und liebte. Ich war dankbar und froh über jeden Augenblick in seiner Nähe. Insbesondere da ich es vor einigen Tagen für unmöglich gehalten hatte ihn jemals wiederzusehen.
Eines Abends saß ich im Garten, versteckt hinter einem Baum, denn Rondra, Tallis und ich spielten verstecken und Rondra war an der Reihe zu suchen. Die Abendsonne tauchte alles in einen orangefarbenen Schein. Es war meine liebste Zeit des Tages. Ich saß still, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt und betrachtete die Blumen zu meinen Füßen, als Kailan sich zu mir gesellte. Aufgeregt lächelte ich ihm entgegen, in seiner Gegenwart wurde ich gleichsam nervöser als auch ruhiger.
Er erwiderte mein Lächeln, neigte grüßend den Kopf und ließ sich neben mir nieder. So dicht, dass sich unsere Beine berührten. ,,Wir müssen leise sein. Rondra sucht Tallis und mich, wir spielen verstecken." Schärfte ich ihm ein.
Er legte den Kopf schief und grinste. ,,Ein Wunder das sie dich noch nicht gefunden hat. Du hast kein sehr gutes Versteck." Gespielt verärgert stieß ich ihn in die Seite. ,,So? Ich war schon immer besser im Suchen als im Verstecken. Wie ist es bei dir?"
Ich wollte unbedingt mehr über ihn erfahren.
,,Ich bin in beidem gleich gut. Im Verstecken und im Suchen."
,,Ohhh Sicher. Du willst nur angeben!" Er machte große Augen und schüttelte den Kopf.
,,Wenn man in einem der beiden Bereiche sehr gut ist, so wird man es automatisch auch im anderen. Es ist ein Gleichgewicht. Jedesmal wenn du mit Suchen an der Reihe bist, wirst du dich fragen: Wo hätte ich mich versteckt? Und jedesmal wenn du mit Verstecken an der Reihe bist, frage dich: Wo würde ich nicht suchen? Es ist ganz einfach."
Interessiert lauschte ich. Mir gefiel seine Stimme. Dunkel, aber weich. ,,Es klingt als hättest du schon oft Verstecken gespielt?!"
Er wiegte den Kopf hin und her, sein leicht zerzaustes Haar schwang ein wenig mit. ,,Früher habe ich mit meiner Mutter Verstecken gespielt, als ich sehr klein war. Sie sagte mir stets ich solle mich verstecken, sie würde mich suchen. Sobald ich davongerannt war, mit meinen kurzen Beinchen, drehte sie sich um und ging zurück zum Haus oder in die Stadt um zu trinken. Ich wartete jedes Mal in meinem Versteck, auch wenn ich bald lernte, dass sie nie kam. Es war immer einer der Sklaven der mich wieder ins Haus geleitete, wenn der Mond schon hoch am Himmel stand. Einmal war ich wochenlang krank, weil ich die ganze Winternacht draußen geschlafen hatte. Jedenfalls... So habe ich das Verstecken gelernt."
Mitfühlend sah ich ihn an. Was Schotiji über seine emotional kalte Mutter erzählt hatte, schien allzu sehr zuzutreffen. Ich wollte ihn trösten, doch wusste nicht wie. Schließlich entschied ich mich dazu, eine Hand auf seinen Unterarm zu legen. Er hielt still.
Leise fragte ich: ,,Und wie hast du das Suchen gelernt?"
,,Später. Durch meinen Vater. Als ich vierzehn wurde, wurde es Zeit, dass mein Vater mich in seinem Beruf ausbildete. Und im Prinzip ist dieses Handwerk nichts anderes als Suchen. Wir suchen jemanden, der alles tut sich vor uns zu verstecken." Sein Ton war halb scherzhaft, halb ernst.
Eine Weile schwiegen wir. Kailan rückte näher an mich und legte einen Arm um meine Schultern. Mein Herz begann so heftig zu klopfen, dass ich fürchtete, es würde gleich aus meiner Brust springen.
,,Ob Rondra Tallis schon gefunden hat?" Murmelte ich nachdenklich. Wenn dem so war, würden die beiden zu zweit nach mir suchen und ich wusste nicht wie Tallis reagieren würde, wenn er mich und Kailan so sah.
Kailan sah auf. Er betrachtete mein Gesicht aufmerksam und schien meine Gedanken zu erraten. ,,Du möchtest nicht, dass er uns eng beieinander sieht?" Ich wand mich zögerlich. ,,Nun, Kailan, es ist nur..."
,,Er mag mich nicht." Kailan grinste als er meinen geschockten Gesichtsausdruck bemerkte. ,,Er mag mich nicht. Genauso wenig wie er die anderen Dunja mag. Es war nicht schwer zu bemerken, dein Bruder ist ähnlich einfach zu lesen wie du."
Ich krallte meine Hand in den Stoff meines Gewandes. ,,Bitte, er wird sicher anfangen dich zu mögen, sobald er dich erst einmal kennt. Es hat nichts mit dir zu tun..." Kailan legte mir einen Finger an die Lippen und löste beiläufig meine Finger aus dem Stoff.
,,Ich weiß das er es nicht so meint. Es hat nicht direkt etwas mit mir zu tuen, eher mit der Tatsache das ich ein Dunja bin. Siehst du es nicht? Er hasst grundsätzlich die Dunja, weil es dieses Volk war, was ihm alles genommen hat."
Ich runzelte die Stirn. ,,Aber damit hast du nichts zu tun. Und das weiß er, er ist nicht dumm."
,,Sicher weiß er es. Aber er will es nicht sehen. Vermutlich ist es einfach seine Art mit der Trauer umzugehen, so ist es einfacher für ihn." Meine Augen wurden wachsam. Ich rückte von Kailan ab. ,,Welche Trauer? Von welcher Trauer redest du?"
Seine Stimme klang gepresst und ernst. ,,Ich rede davon, dass eure Mutter tot ist und er es gesehen hat." Ich sprang auf, wollte wegrennen. Er packte mein Handgelenk und hielt mich fest.
,,Lass mich los!" Schrie ich und trat ihm gegen das Schienbein. Ich wollte einfach nur weg von ihm. Von dem was er gesagt hatte. ,,Lass mich los!" Er schüttelte den Kopf. Ich ballte eine Faust und zielte in sein Gesicht. Mühelos fing er sie ab und drückte meine Handgelenke gegen den Baumstamm. ,,Erst wenn du mir zugehört hast."
Ich versuchte mich loszureißen, aber er war zu stark. Dann versuchte ich erneut nach ihm zu treten, doch er reagierte nicht einmal. ,,Lass mich los." Verlangte ich. Was fiel ihm ein mich hier festzuhalten?
Noch einmal versuchte ich meine Handgelenke aus seinem Griff zu winden. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und gab ein leises Tzzz-Geräusch von sich. ,,Du bist wirklich schlecht in solchen Sachen. Möchtest du, dass ich dir mal das ein oder andere beibringe?"
,,Nein. Ich möchte das du mich loslässt." Ich hatte aufgehört mich zu wehren und sah ihn nun feindselig mit verengten Augen an. Er seufzte. ,,Gleich. Erst wenn du dir eingestehst, dass deine Mutter tot ist. Denn das ist sie und du kannst nicht vor der Wahrheit davonrennen."
Ich schrie beinahe vor Wut. ,,Sie ist nicht tot! Mutter könnte niemals gestorben sein!" Und sicher könnte man von der Wahrheit davonrenn- Nein! Das was er behauptete war keine Wahrheit. Es konnte einfach nicht sein.
,,Sieh mich an, Tialda."
Ich kniff die Augen zu.
,,Dann eben nicht. Deine Mutter ist tot. Und du musst es dir eingestehen. Nur so kannst du deinem Bruder helfen und ihr könnt beide versuchen auf eine gesündere Art zu trauern. Wenn du es weiter verleumdest, wird es nicht weggehen, sondern es wird sich in dein Inneres fressen und dann, in deinem allerschwächsten Moment wird dieses Wissen hervorkriechen und der Schmerz wird dich überwältigen."
Ganz langsam öffnete ich meine Augen wieder. Ich spürte wie sie feucht wurden. ,,Nein." Flüsterte ich nur.
,,Doch." Sagte Kailan und ließ von mir ab. ,,So, ich habe dich losgelassen. Nur zu, du kannst mich ruhig schlagen oder anschreien. Solange es dir hilft." Er trat einen Schritt zurück und breitete die Arme aus. ,,Komm. Ich bin bereit."
Zaghaft hob ich eine Faust an, aber ich wollte Kailan nicht schlagen. Ich wollte einfach nur, dass er, oder irgendjemand, mir sagte das das alles gar nicht wahr war. Das es gelogen war. Das Tallis sich geeirt hatte.
Aber dem war nicht so.
Es war wahr. Meine Mutter, meine wunderbare, liebevolle Mutter war ebenso tot wie mein kluger, fleißiger Vater. Sie war tot. Gegangen. Weg. Entgültig und für immer.
Diese Erkenntnis sickerte zu mir durch und ich fühlte wie mir die Tränen in rascher Folge aus den Augen fielen. Ehe ich mich versah war Kailan an meiner Seite und zog mich in seine Umarmung. Ich krallte die Finger in seinen Rücken und weinte an seiner Schulter, bis uns einige Zeit später die beiden Kinder fanden.
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