VI. Aufzug, 6. Szene

Er wartete ungeduldig. Der Pavillon bot nicht gerade viel Schutz vor dem immer stärker werdenden Wind, der die Zweige der Bäume in alle Richtungen bog. Die Wolken am Himmel wurden immer bedrohlicher und er merkte, dass etwas nicht stimmte. Allerdings konnte er nicht sagen, ob es wirklich nur am Wetter lag. Wo blieb die Königin? Je länger sie auf sich warten ließ, desto ungeduldiger wurde er. Würde sich heute wirklich all das erfüllen, was sie ihm versprochen hatte, was er sich schon so lange wünschte?

Er wusste, dass diese Gedanken dem von einem Kleinkind entsprachen, aber er konnte sich nicht helfen. Viel zu lange hatte man ihn stiefmütterlich behandelt und es war an der Zeit, das zu ändern. Er konnte sich noch nicht vorstellen, am Hofe einen Posten einzunehmen, aber die Vorstellung gefiel ihm trotzdem, dass ihm alle gehorchen mussten. Sie würden Demut und Ehrfurcht vor ihm fühlen, die man ihm so lange nicht entgegen gebracht hatte. Wenn sich doch endlich nur die Königin hier blicken ließe! S

icher, heute fand die Hochzeit statt, aber sie hatte ihm doch selbst diese Zeit vorgeschlagen. War noch etwas dazwischen gekommen? Mischten sich dieses Mädchen und ihre Freunde wieder ein? Wenn er erst zur Herzkönigin gehörte, würden sie beide dafür sorgen, dass diese Kinder nie wieder das Tageslicht sehen würden! Das schwor er sich. Ein Donnerschlag ertönte, wenige Sekunden später folgte ein Blitz.

Der Wind frischte auf und zog unter den Pavillon. Es gab einen hellen Ton, als er um die geschwungene Schale wehte, die in der Mitte stand. Blüten und Blätter wehten den Weg entlang und verwirbelten sich. Dann sah er sie, wie sie langsam die Steinplatten entlang schritt. Ihr langes blaues Kleid wehte im Wind, doch viel mehr konnte ihr das Unwetter nicht anhaben. Im Gegenteil, es unterstrich ihre von Macht erfüllte Aura, die damit nur umso stärker schien. "Entschuldigt bitte, dass Ihr warten musstet", sagte sie, aber es schien ihr nicht wirklich leidzutun. Vor Aufregung wusste er nicht, was er sagen sollte.

"Doktor Huffington, ist alles in Ordnung bei euch?", fragte die Herzkönigin nach. "Ja ja, natürlich", antwortete er mit schwacher Stimme. Er räusperte sich und hoffte, dass sie zurückkehrte. Er wollte vor dieser Person nicht schwächlich wirken. "Seid ihr bereit?", versicherte sie sich. Ihr Blick erwartete eine eindeutige Antwort. Sie schien angespannt, wahrscheinlich der Hochzeit wegen. Es durfte nicht allzu lange dauern, wenn sie heute noch ihren Plan vollenden wollten. Heute würden sie seine Rache, die sich über Jahrzehnte lang angestaut hatte, zu spüren bekommen.

"Ich bin bereit", erklärte er. "Euch ist bewusst, dass Ihr diese Entscheidung nicht wieder rückgängig machen könnt?", erinnerte sie ihn. Sein Blick erstarrte für einen Moment. Davon hatte sie noch nie etwas erwähnt! Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Diese Chance bekam er nicht noch einmal, aber was, wenn es ihm am Hof nicht gefiel? Dann konnte er nicht zurückkehren und war für ewig dort gefangen, wie es den anderen Buchfiguren ergangen war. Aber, sagte er sich, keiner dieser Figuren war so mächtig wie er. Es beruhigte ihn, zu wissen, dass er sich immer einen Ausweg schreiben konnte, der für ihn der beste war. Wer weiß, welche Möglichkeiten sich erst ergaben, wenn er am Hofe tätig war?

Ihr ungeduldiger Blick ruhte auf ihm und er konnte nicht mehr länger überlegen. "Ich werde es tun", sagte er und versuchte, dass seine Stimme so fest wie möglich klang. Die Herzkönigin nickte nur knapp. Wo blieb die Wärme, die sie ihm bei ihrem Gespräch vor wenigen Tagen erst entgegengebracht hatte? "Die Entscheidung will wohlüberlegt sein", sinnierte sie und begann, langsam um die große Schale in der Mitte zu schreiten. Er wich ihr aus. "Aber ich denke, dass ein Mann wie ihr keine Probleme haben dürfte, diese Entscheidung zu treffen, oder?"

Ihr Lächeln war nicht echt. Irgendetwas stimmte mit dieser Person nicht, dachte er und im nächsten Moment, dass er sich nichts anmerken lassen durfte. Heute Nacht würde seine Rache alle Buchfiguren treffen und auch die Herzkönigin sollte nicht verschont bleiben! Sie konnte ihr Machtgefühl ruhig noch etwas auskosten, es würde eh nicht mehr lange wären. "Habt Ihr das Buch dabei?", fragte sie. Er tastete nach der Innentasche seines Mantels und war froh, dass der Einband des Buches noch dort war.

Dann zog er es heraus und betrachtete es einen Augenblick in seinen Händen. Die vielen leeren Seiten würden sich bald mit einem glorreichen Ende füllen! "Legt es in die Schale", forderte sie ihn auf und deutete in die Mitte des Pavillons. Sie trug Handschuhe, fiel ihm auf, während er das Buch vorsichtig in die Schale legte. Hatte sie die sonst auch getragen? Er wusste es nicht und war sich unsicher, ob es nun etwas zu bedeuten hatte oder ob sie einfach zu ihrem heutigen Kostüm gehörten.

Als er das Buch abgelegt hatte. trat er wieder einen Schritt zurück. Obwohl hier alles verlasen schien, war die Metallschale sauber und glänzte, keine Spur von Rost, als hätte jemand das Ritual genauestens vorbereitet. Wieder klang die Schale, als der Wind darüber strich und das Buch aufschlug. Ein paar Seiten blätterten sich um und gaben das leere, ungeschriebene Ende frei. "Euer Kartenspiel fehlt doch jetzt noch, oder?", fragte er aufgeregt. "Nur mit der Ruhe, Doktor", antwortete sie sanft. Aus einer winzigen Tasche zog sie ein Lederetui. Der Knopf knackte, als sie es öffnete und andächtig die Karten herausholte.

"Seht ihr, das ist es", sagte sie. Er wusste es doch schon, sagte er sich, wenn es einen gab, der diese Figur besser kannte als sie selbst, dann war er das. Gott, wie dumm sie doch alle waren, diese Buchfiguren. Sie beugte sich herunter und ordnete die Karten so in der Schale an, dass sie sein Buch komplett verdeckten. Er beobachtete sie dabei genau. Rutschten ihre Haare nach vorn, wenn sie den Kopf beugte?

Einen Moment hatte es den Anschein, aber es konnte auch nur durch den Wind kommen. Allerdings bestärkte diese Beobachtung seinen Verdacht, dass mit der Königin etwas nicht stimmte. Trug sie eine Perücke? Das war die logischste Erklärung, fand er, denn wer zeigte am Hofe schon zu einem solchen Anlass seine echten Haare? Egal, sagte er sich, er brauchte die Herzkönigin nur noch einen kurzen Moment, dann konnte er seiner Rache freien Lauf lassen. Etwas raschelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Die Königin hatte ihre Karten ausgebreitet und trat nun ebenfalls zurück.

Für einen Moment betrachteten beide die Schale. "Dann kann es losgehen", sagte die Herzkönigin. Obwohl er versuchte, es zu unterdrücken, schlug sein Herz schneller. Aufregung stieg in ihm auf und damit auch Schwäche. Warum hing in diesem Moment nur so viel von dieser einen Person ab? Sie nahm noch einmal die Tasche zur Hand und zog ein kleines blaues Fläschchen heraus. War das Parfum? Die Nervosität steigerte sich, denn das war einer der wenigen Momente, in denen er nicht wusste, was passieren würde, in denen er keinen Einfluss nehmen und alles verändern konnte.

"Noch könnt Ihr es Euch anders überlegen", verkündete sie mit einem Seitenblick auf ihn, während sie den winzigen Korken aus dem Flaschenhals drehte. "Nein, ich habe mit entschieden. Bringen wir es hinter uns", sagte er. Die Herzkönigin trat wieder an die Schale und träufelte ein paar Tropfen aus der blauen Flasche auf die Karten. "Keine Angst, es wird nichts passieren", erklärte sie. "Das gehört alles dazu." Er warf einen Blick nach draußen. Gerade breitete ein Blitz seine Arme über den ganzen Himmel aus. Fasziniert betrachtete er das Schauspiel, bevor ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte, dass es in seinen Ohren krachte. Als er sich wieder zur Schale trete, blieb sein Herz für einen Augenblick stehen. Die Herzkönigin betrachtete ein loderndes Feuer in der Schale. Die Funken flogen nach allen Seiten und der kräftige Wind nährte das Feuer.

"Was tut Ihr da?", schrie er außer sich. "Ihr habt doch gesagt, es wird nichts passieren!" Panik ergriff ihn und es ihm egal, ob das zu dem Ritual gehörte oder nicht. Sein Buch lag dort in der Schale und drohte, von den Flammen vernichtet zu werden. Mit bloßen Händen griff er in das Feuer und versuchte, sein Buch zu retten. Es durfte nicht verbrennen! Dieses Buch bedeutete ihm sein Leben! Die Karten verbrannten und wurden vom Wind emporgehoben. Aschereste verdeckten seine Sicht, zündeten seinen Anzug sein. Mit einem Aufschrei sprang er zurück, die Schmerzen brannten auf seiner Haut, so schnell hatte sich das Feuer durch den Stoff gefressen.

Er klopfte das Feuer mit der anderen Hand aus und sobald er merkte, wie die Flammen nachließen, versuchte er, sein Buch zu retten. "Warum tut Ihr denn nichts?", schrie er die Herzkönigin an. In seiner Stimme lag die pure Angst und er hatte noch nie Angst gefühlt. Er suchte den Blick der Königin, doch die betrachtete nur mit einem Lächeln das Feuer. Er durchwühlte die Karten, schob die heiße Asche mit bloßen Händen zur Seite, dass der Schmerz ihm die Sinne raubte. Die Königin packte plötzlich seine Hände und hielt sie fest, drückte sie nur tiefer in das Feuer hinein.

Er versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden, doch er war wie betäubt. Sein Herz schlug schnell, in seinen Ohren dröhnte das Knacken des Feuers. "Warum?", brüllte er die Königin an. Sie lächelte ihn an und sie sie beide sich gegenüberstanden, die Hände in den Flammen, sah er, dass es nicht die Herzkönigin war. "Wie kannst du nur?", presste er heraus und schleuderte all seine Wut in Richtung der Frau gegenüber. "Du wirst kein Unheil mehr treiben", verkündete sie ruhig. "Nicht in dieser Welt, nicht in deiner Welt. Überhaupt nicht. Du wirst nie mehr einer Buchfigur etwas zuleide tun."

Das Feuer fraß sich seinen Weg über die Arme, verbrannte den Stoff und seine Haut. "Das hier ist dein Ende!", rief sie und ließ seine Hände los. Er wurde nach hinten geschleudert. Der Wind leitete den Flammen ihren Weg und somit konnte er nur hilflos zusehen, wie er verbrannte. Die Frau gegenüber sah das Schauspiel an als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt. Dann ertönte ein Donner und er zerfiel zu Asche.

Mit einem Schlag fiel seine gesamte Gestalt in sich zusammen. Der Aschehaufen blieb nicht lange liegen, sofort wurde er vom Wind fortgeweht, hinaus in den Garten, in das Unwetter verteilten sich die Überreste. In der Schale lagen die verkohlten Reste einer Karte und schwarze Stücke von dem, was einmal ein Buchumschlag gewesen war. Die Seiten waren mit ihm zusammen zu Staub zerfallen und für immer verloren. Die Glut würde auch noch die letzten Reste vernichtet.

Zufrieden betrachtete Sarah ihr Werk.

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