V. Aufzug, 2. Szene
"Moment!", gebot Dorothea Einhalt. "Das Buch über wen?" Benno war sich sicher, dass auch er sich nicht verhört hatte. Seine Gedanken überschlugen sich und es brauchte eine Weile, bis er sie wieder unter Kontrolle hatte. "Warum gibt es ein Buch über Dr. Huffington?", fragte er. Sarah hob die Schultern und sah unsicher von einem zum anderen. "Es ist nicht das Buch über Dr. Huffington, sondern von Dr. Huffington", korrigierte sie. "Das ist keine Biografie."
"Also ist Dr. Huffington genauso eine Buchfigur des Grafen wie ich?", schlussfolgerte Quintessa. "So ist es", stimmte Sarah zu. Sie betrachtete das Buch als wäre es ein Fremdkörper von einem anderen Planeten. Warum fanden sie das Buch erst jetzt? Benno konnte sich nicht daran erinnern, jemals in den Notizen des Grafen etwas über diese Geschichte gefunden zu haben und das, obwohl sie das Büro schon mehrmals auf link gedreht hatten. Inzwischen sollten sie alles, was der Graf jemals zu Papier gebracht hatte, schon in der Hand gehabt haben. Dass das Buch über Dr. Huffington erst jetzt auftauchte, ließ den Jungen daran zweifeln, dass sie in dieser Angelegenheit jemals zu einem Ende kommen würden.
"Ich hätte nicht gedacht, dass er es aufgehoben hat", murmelte Sarah. "Ich war mir ziemlich sicher, dass dies die Geschichte war, die er am liebsten ungeschehen gemacht hätte." "Warum das denn?", wollte Lasse wissen. "Es war doch immerhin sein allererstes Buch!" "Er war sechzehn, als er es geschrieben hat", erinnerte ihn Sarah. "Wenn ihr einmal alt seid, werdet ihr auch nicht alles gutheißen, was ihr in eurer Jugend fabriziert habt. Vor allem, was solche Dinge hier angeht."
Fast etwas anklagend hielt sie das Buch in die Höhe. "Er hat immer gesagt, dass sein Schreibstil früher scheußlich war. Irgendwann konnte er das, was er Jahre zuvor geschrieben hatte, nicht mehr ertragen, weil es ihm einfach zu schlecht vorkam." "Der Schreibstil verändert sich doch aber laufend, oder?", überlegte Dorothea. "Wenn ich mir überlege, wie ich in der dritten Klasse einen Aufsatz geschrieben habe und das mit heute vergleiche." "Über etwas wie Aufsätze von damals kann man lachen", meinte Sarah. "Diesem Buch konnte er jedoch nicht einmal ein Lächeln abringen, weil es ihm einfach zu plump erschien." "Also hat er es irgendwann in eine Ecke gestellt, wo er eh nie hingeguckt hat, weil er ja fast immer in seinem Büro war", schlussfolgerte Benno.
Sarah nickte bestätigend. "Es sind fast 60 Jahre, die diese Geschichte alt ist", sagte sie. "In der Zeit kann viel passieren. Irgendwann gerät es dann in Vergessenheit." "Für uns wäre es vielleicht wichtiger gewesen, es wäre nicht in Vergessenheit geraten", fand Lasse. "Ich vermute mal, dass wir hier unseren Übeltäter haben."
"Das ist eine ziemlich gewagte These", fand Sarah. "Wir sollten vorsichtig mit diesem Buch sein." "Warum?", zweifelte Lasse. Sarah beugte sich weiter vor und flüsterte, als wollte sie wirklich sicher gehen, dass sie keiner hört. "Der Architekt... er sieht haargenau so aus, wie er ihn hier in diesem Buch beschreibt!" Sie sah über die Schulter zur Tür als würde sie erwarten, dass eben jene Person gleich im Wohnzimmer stehen würde. Benno gefiel die Sache nicht. Der Psychologe Huffington, der Architekt, der geheimnisvolle Mann aus der Zwischenwelt und jetzt die Buchfigur Dr. Huffington- sie alle schienen ein und dieselbe Person zu sein.
Viel mehr als das Aussehen kannten sie nicht, aber inzwischen glaubte der Junge nicht mehr daran, dass das alles nur Zufall sein sollte. Nicht im Schloss, nicht in dieser Angelegenheit. "In sechzig Jahren kann sich eine Buchfigur mächtig entwickeln", philosophierte Quintessa. "Wenn ich von mir ausgehe... ich habe keine Ahnung, wie alt ich bin. Allerdings gibt es mich bei weitem noch nicht so lange wie diesen Dr. Hufftington. Selbst ich habe in der Zeit verstanden, was es heißt, dass die eigene Geschichte nicht beendet wurde und man dadurch immer weiter an sich selbst zweifelt."
"Du meinst also, Dr. Huffington hat sich so entwickelt, weil er am meisten Zeit von allen Buchfiguren dazu hatte?", fragte Benno nach. "Das läge auf der Hand", stimmte Sarah zu. "Je länger eine Geschichte ruht und kein Ende hat, desto mehr Zeit haben die Buchfiguren, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie ihr eigenes Ende gestalten können."
"Das klingt irgendwie gruslig", fand Dorothea. "Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich uns hiermit allesamt für verrückt erklären."
"Was für ein Ende soll es aber sein, wenn er unser Übeltäter ist?", fragte Quintessa. "Ich würde mir doch als Buchfigur ein so schönes Ende wie nur möglich gestalten." "Wir können nicht in die Figuren hineinblicken", seufzte Sarah. "Schon dich würde man für einen normalen Menschen halten, wenn ich dir auf der Straße begegnen würde." Quintessa grinste etwas. "Es hört sich scheußlich an, so etwas sagen zu müssen, aber Dr. Huffington ist wahrscheinlich inzwischen mehr Mensch als wir alle zusammen."
Das Grinsen in Quintessas Gesicht fror ein und Benno lief ein kalter Schauer über den Rücken. "So wie künstliche Intelligenz?", fragte Lasse. "Wie man es vergleichen kann, weiß ich nicht. Wahrscheinlich trifft es das sogar am besten", antwortete Sarah. "Auf jeden Fall ist Dr. Huffington mehr als gefährlich und sollte nicht unterschätzt werden." Die Wohnzimmertür schlug auf und Benno zuckte zusammen. Zusammen mit einem eiskalten Lufthauch betrat der Architekt das Zimmer.
"Können wir morgen mit diesen Zimmern anfangen?", fragte er nach. Missbilligend ließ er den Blick über die Kartons schweifen. Es erklärte sich von selbst, dass sie es nicht bis morgen schaffen würden, das Wohnzimmer leer zu räumen. "Wir geben uns Mühe", antwortete Sarah und zwang sich zu einem Lächeln. Der Architekt verzog keine Miene. Sein Blick fiel auf das Buch in ihren Händen und seine Augen blickten noch strenger drein. Benno wagte kaum, ihn anzusehen.
"Dann sehen wir uns morgen", versprach er und es klang wie eine Drohung. Als er das Wohnzimmer verlassen hatte, atmeten alle erleichtert aus. Dorothea war kreidebleich geworden und auch aus Quintessas Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Sarah umklammerte das Buch, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. "Dann stellen wir uns der Gefahr doch einfach", schlug Benno vor.
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