V. Aufzug, 1. Szene

"Wisst ihr, was ich mich frage?", fragte Sarah die anderen. Der nächste Tag war angebrochen und nachdem sie das Frühstück gemacht hatten, begannen sie, die Schränke und Vitrinen im Wohnzimmer auszuräumen. "Woher sollen wir das wissen?", lachte Dorothea. Mit Erleichterung stellte Benno fest, dass sich die Anspannung von gestern Abend wieder gelegt hatte. Der Schlaf hatte wahrscheinlich allen gutgetan.

Auch Lasse blickte nicht mehr so finster drein. Sie hatten Pappkisten geholt und verpackten nun alles, was ihnen zwischen die Hände kam. "Es gibt eine Geschichte, die mir noch nicht wieder begegnet ist, von der auch ihr mir nicht erzählt habe", erklärte Sarah.

"Worauf willst du hinaus?", fragte Lasse. "Ihr habt mir von allen Geschichten erzählt, die ihr im Büro gefunden habt. Die riesigen Stapel mit angefangenen Kapiteln und Skizzen und so weiter. Ich habe mich gestern Abend an eine Geschichte erinnert, die noch nicht wieder aufgetaucht ist", antwortete Sarah, während die mehrere Sammeltassen in Papier einwickelte und in einen Karton legte.

"Wir haben aber wirklich alle Schränke ausgeräumt, die im Büro stehen.Ludmilla sagte uns, dass er nirgendwo anders seine Geschichten aufbewahrt", erwiderte Benno. "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir dabei etwas übersehen haben, ist verschwindend gering." "Trotzdem, diese Geschichte ist anscheinend noch nicht wieder aufgetaucht", beharrte Sarah. "Wer weiß, vielleicht hat er sie auch weggeworfen, weil sie ihm überhaupt nicht gefallen hat?", schlug Quintessa vor, aber Sarah schüttelte vehement mit dem Kopf.

"Das ist unmöglich", sagte sie. "Er hat nie etwas von seinem Geschriebenen weggeworfen. Nie!" "Welche Geschichte meinst du denn?", fragte Dorothea. Sarah hielt inne. "Es ist schon lange her, dass ich von dieser Geschichte gehört habe", erklärte sie. "Es kann auch sein, dass ich mir da gerade etwas zusammenreime, ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste."

"Um was ging es?", fragte Lasse nach. "Vielleicht finden wir sie noch, weil wir sie tatsächlich übersehen haben." Sarah setzte sich in den Sessel und faltete die Hände über dem Schoß zusammen. "Es war seine erste Geschichte", erzählte sie. "Damals war er vierzehn, fünfzehn, also etwas jünger als ihr jetzt. Es war die erste, an der er intensiv gearbeitet hat. Er hat mir vor vielen vielen Jahren einmal davon erzählt, wie er sich Pläne geschrieben und Skizzen gemacht hat. Das Buch wollte er, wenn es fertig war, an einen Verlag schicken. Er hatte es fast fertig, aber dann begann das, was ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Von da an hatte er eine Idee nach der anderen und stellte nur selten ein Buch fertig. Also blieb auch seine allererste Geschichte unvollendet zurück und das, obwohl nur noch das Ende gefehlt hat. Er hat die Geschichte seitdem aber nicht mehr angerührt. Wahrscheinlich ist der Entwurf über die Jahre wirklich verloren gegangen."

"Ist man nicht eigentlich stolz auf sein erstes, eigenes Buch?", zweifelte Benno. "Wenn ich sowas zustande kriegen würde, dass ich darüber nachdenke, es an einen Verlag zu schicken, dann lasse ich es doch nicht irgendwo in der Ecke verrotten. Das hebe ich doch auf, oder etwa nicht?" Lasse reichte ihm einen Karton und nickte gleichzeitig. Benno nahm ihn ab und stellte ihn auf den Fußboden. Lasse stand auf der Leiter und räumte die oberen Schränke leer, in denen vor allem viele Kisten standen, in die man in den letzten Jahren sämtlichen Kram geschmissen hatte, den man vorübergehend nicht brauchte.

"Vielleicht ist es in diesen Jahren irgendwann in einer Kramkiste gelandet", vermutete Lasse. "Davon haben wir ja reichlich viele." "Wir wollen jetzt aber nicht alle davon durchwühlen, um am Ende doch nichts zu finden, oder?", fragte Dorothea alarmiert. "Vielleicht verwechsle ich da auch nur etwas", vermutete Sarah. "Kommt, wir machen weiter."

Damit begann sie wieder, Sammeltassen aus einer Vitrine in Papier zu wickeln. Benno runzelte die Stirn und nahm Lasse den nächsten Karton ab. Obwohl keiner daran glaubte, sahen sie die Kisten doch durch, ob sie nicht doch etwas finden konnten. Viel mehr als Deko, alte Zeitungsartikel und jede Menge anderem Kram war jedoch nicht zu entdecken. Hin und wieder versuchten sie, Sarah etwas zu entlocken, aber sie verriet nichts. Schließlich waren die oberen Schränke ausgeräumt und alle Kisten standen im Wohnzimmer verteilt. "Ich bezweifle, dass wir das alles noch brauchen werden", stellte Sarah fest. "Dann wäre jetzt das Regal dort dran."

Sie deutete auf drei Fächer neben einer Vitrine, in denen mehrere dicke Fotoalben standen. "Die bringen wir in mein Schlafzimmer", bestimmte sie. "Da sind sie vorläufig sicher." Benno nahm die ersten Alben aus dem Regal und gab sie Lasse, der sie fortbrachte. Sarah griff wahllos in das Fach und zog ein rot eingebundenes Album heraus. Sie schlug es auf, strich das Seidenpapier vorsichtig zur Seite. Zaghaft breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als sie die Fotos betrachtete.

"Schau mal hier", sagte sie und zeigte Beno die aufgeschlagenen Seiten. "Das ist Matthias, als er fünfzehn war." Benno brauchte nicht lange, bis er seinen Onkel auf einem der Fotos erkannte. Auch Sarah und seinen Großvater erkannte er sofort wieder. Es zeigte sie im Park hinter dem Schloss im Sommer. Der Graf hatte einen Notizblock und einen Kugelschreiber in den Händen. Auch er lächelte in die Kamera. "Das war ein heißer Sommer damals", erinnerte sich Sarah. "Nicht zu vergleichen mit dem, den wir dieses Jahr hier haben. Er hat ganz oft draußen geschrieben in diesen Tagen."

Sie unterdrückte eine Träne. "Nicht lange danach bin ich weg." Dann klappte sie das Album wieder zu, gab es Benno und packte noch zwei oben drauf. Lasse war inzwischen wieder da und nahm ihm den Stapel ab. Bald hatten sie das Regal leergeräumt. "Was ist das da hinten?", fragte Quintessa. Sie deutete in eines der leeren Fächer. "Haben wir ein Album übersehen?", fragte Sarah überrascht. "Das sieht nicht aus, wie ein Fotoalbum", erwiderte Dorothea. Zwischen der Rückwand einem der Regalböden war ein Buch eingeklemmt. Sie zog das Brett ein Stück nach vorne und griff nach dem Buch.

Es war nur ein blauer Einband, kein Titel oder Autor darauf geschrieben. Das Brett hatte einen Abdruck im Buchdeckel hinterlassen. Dorothea schlug das Buch auf und das Papier raschelte zwischen ihren Fingern. Die linierten Seiten waren handbeschrieben. Sarah sah ihr neugierig über die Schulter, bis ihr das Gesicht entglitt. "Das ist es!", sagte sie aufgeregt. Überrascht sahen die anderen sie an.

"Was ist es?", fragte Benno. "Doch wohl nicht etwa das Buch, von dem du uns erzählt hast?" Er sah zu Lasse, der ebenfalls grinsen musste. So viel Zufall konnte es nicht geben! "Nein, genau das ist es", versicherte sie ernst. Sie nahm Dorothea das Buch aus der Hand und setzte sich wieder in den Sessel. Aufgeregt blätterte sie und überflog die Seiten.

"Ich fasse es nicht", sagte sie. Ihr Gesicht war ganz blass geworden. "Das ist das Buch von Dr. Huffington!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top