IV. Aufzug, 6. Szene
Seit Tagen war sie verschwunden und er vermisste sie schrecklich. Joris saß gedankenverloren auf einem der Sofas im Ballsaal, der bereits für den nächsten Abend vorbereitet würde. Er starrte auf den Fußboden, immer wieder kreuzten die Füße von Bediensteten sein Blickfeld. Keiner von ihnen hatte sie gesehen und er hatte sie alle gefragt. Quintessa war einfach weg. Sie hatte kein Wort davon gesagt, dass die fortgehen würde, nicht einmal etwas angedeutet. Oder hatte Joris das alles übersehen?
Warum hätte Quintessa das Schloss verlassen sollen? Hier fehlte es ihnen doch an nichts. Joris seufzte. Ohne seine Schwester war es einfach nicht mehr dasselbe wie früher. Die Bälle machten keinen Spaß mehr. Seit sie fort war, saß er nur noch Abend für Abend herum und versuchte, sich der großen Menschenmasse zu entziehen, die sich jedes Mal bis spät in die Nacht vergnügte. Während er immer auf dem Sofa saß und sich mal der eine oder andere neben ihn setzte, beobachtete er. Ihm war noch nie aufgefallen, dass das Orchester jeden Abend dieselben Stücke spielte.
Selbst, dass sich ein Violinist sich immer an derselben Stelle verspielte und es einen grässlichen Misston gab, fiel ihm auf, aber den anderen nicht. Sie tanzten, aßen und tranken, tanzten erneut, erzählten, hatten Spaß. Am ersten Abend waren noch Freunde zu ihm gekommen und hatten versucht, ihn zu überreden, doch nicht alleine dort herumzusitzen, aber sie hatten schnell aufgegeben, als sie mitbekamen, dass sie noch mehr vom Abend verpassen würden. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, stundenlang zu feiern und Spaß zu haben.
Inzwischen fand er es nahezu langweilig, dass er genau wusste, wann das Orchester welches Stück spielen würde und wie die Schrittfolge aussah, die das Paar unweit des Sofas tanzte. War es Quintessa auch langweilig geworden? War sie fortgegangen, um noch mehr von der Welt zu sehen als nur das Schloss? Joris konnte sie fast verstehen. Ihm war schon länger aufgefallen, dass seine Schwester sich seltsam verhielt.
Er hatte immer gehofft, dass sie der Ball am nächsten Abend wieder aufheitern würde, aber anscheinend war dem nicht so gewesen, es hatte es nur noch schlimmer gemacht. Joris war sich sicher, dass Quintessa etwas erkannt hatte, was ihm bisher noch verborgen blieb. Warum fragte er sich erst jetzt, wo sie weg war, weshalb sie jeden Abend, ohne einen einzigen auszulassen, am Feiern waren?
Prinzessin Madison lädt zum Ball, hieß es immer. Joris hatte Madison noch nie gesehen. Keiner hatte die Prinzessin je zu Gesicht bekommen, trotzdem folgten alle ihrer Einladung. Er grübelte, was das zu bedeuten hatte, warum sich Madison nie blicken ließ. Bedeutete ihr das Volk nichts? Oder gab es gar keine Prinzessin? Hatte man sie sich nur ausgedacht, damit die Menschen im Schloss blieben? Waren sie am Ende gar Gefangene? Joris hielt seine Überlegungen durchaus für plausibel. Er bekam, trotz des gut geheizten Saals, eine Gänsehaut. Dass sie alle Gefangene waren, konnte möglich sein.
Wer von ihnen hatte das Schloss denn schon jemals verlassen? Joris wusste von niemandem, der das Gemäuer einmal von außen gesehen hatte. War Quintessa dahinter gekommen, was das alles zu bedeuten hatte und deshalb abgehauen? Sie hätte ihn doch mitnehmen können! Seit Joris sich erinnern konnte, war seine Zwillingsschwester die einzige Verwandte, die immer da war. Seine Eltern kannte er nicht, er konnte sich nicht einmal an sie erinnern. Quintessa war die einzige Familie, die er je gehabt hatte. Nun war sie fort und hatte ihn hiergelassen. Wut stieg in ihm auf, dass sie ihn verlassen hatte, ohne ein einziges Wort zu sagen. Oder hatte sie Ansgt, dass er sie zurückhalten wollte?
Nein, er hätte sie nicht aufgehalten. Er wäre mit ihr gegangen, da sie der einzige Mensch war, der ihm etwas bedeutete. Alle andere waren nur Statisten, die Abend für Abend den Saal füllten. Suchte Quintessa ihre Eltern? Wollte sie endlich aus dem Schloss raus, um die Familie zu vervollständigen? Jemand setzte sich neben ihn und Joris schaute zur Seite. Den Mann, der nun dort saß, hatte er noch nie gesehen.
"Denkst du gerade an Quintessa?", fragte er. "Woher wisst Ihr das?", fragte Joris alarmier. "Nun, man sieht euch doch immer zusammen", antwortete der Mann ruhig und betrachtete den Ring an seinem Finger. "Ihr wart doch unzertrennlich. Da fällt es auf, wenn auf einmal jemand fehlt." "Sie ist verschwunden, schon seit Tagen", seufzte Joris. "Ich vermisse sie. Warum hat sie das gemacht?" "Weil sie dumm ist?", antwortete der Mann und blickte Joris in die Augen. Der Junge zuckte zusammen. "Sie lässt ihr tolles Leben zurück und geht in die weite Welt."
"Was ist, wenn sie die weite Welt sehen möchte und nicht ihr ganzes Leben im Schloss verbringen will?", erwiderte Joris. "Sie sollte dankbar sein, dass Madison euch hier alle im Schloss wohnen und leben lässt. Ihr habt jeden Tag euren Spaß und braucht euch um nichts zu versorgen. Um nichts müsst ihr euch Gedanken machen. Warum sollte man sowas hinter sich lassen?"
"Vielleicht, weil es auf Dauer langweilig wird?", schlug Joris vor. "Das ist der größte Unsinn, denn ich je gehört habe", erwiderte der Mann verächtlich. "Weiß sie denn, was sie da draußen erwartet? Dort wird sie nie ein solches Leben wir hier finden. Irgendwann kann sie nicht mehr zurückkehren und dann wird sie es bereuen, das Schloss jemals zu verlassen haben." "Wart Ihr denn schon einmal außerhalb des Schlosses, dass Ihr wisst, dass es dort draußen nichts Besseres gibt?", wollte Joris wissen.
"Nein, ich habe das Schloss noch nie verlassen, weil ich nicht dumm bin", gab der Mann bekannt. Joris krallte sich mit einer Hand im Stoff des Sofas fest vor Anspannung. Was wollte dieser Mann von ihm? "Ich weiß, was ich hier habe und weil ich damit zufrieden bin, stelle ich es nicht infrage. Das solltest du übrigens auch nicht." "Ich soll also aufhören, mir Sorgen zu machen?", schlussfolgerte Joris.
"Genau. Quintessa ist alt genug, um für sich selbst Sorge zu tragen. Wenn ihr dort draußen etwas zustößt, dann hat allein sie das zu verantworten. Warum war sie auch so dumm?", erklärte der Mann. "Tu mir einen Gefallen, Joris, und sei nicht auch so dumm wie sie. Vergiss sie einfach. Sie hat es nicht verdient, dass man noch einen einzigen Gedanken an sich verwendet." Damit ließ er Joris auf dem Sofa sitzen.
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