I. Aufzug, 4. Szene

Sylvain lief zum Ausgang und hatte sich inzwischen an den neuen Anblick gewöhnt. Heute würde er es probieren, den Park zu verlassen. Die Menschen strömten ihm entgegen, als er zu den Ticketschaltern lief. Direkt neben den Häuschen war eine kleine Tür in den Zaun eingelassen, die ursprünglich für die Mitarbeiter gedacht war. In den letzten Jahren war sie zugewachsen, sodass sie fast in Vergessenheit geraten wäre.

Nun war der Weg wieder frei und Sylvain zögerte nicht lange, als er davorstand. Er drehte an dem Knauf und zog die Tür auf. Dann trat er nach draußen und erwartete schon, wieder nach hinten geworfen zu werden. Doch er lief vier Schritte, ohne, dass ihn etwas aufhielt. Er rannte ein paar Schritte und konnte gar nicht glauben. dass er gerade den Freizeitpark verlassen hatte. An diesem Tag lief er über den Parkplatz, betrachtete die Autos und erfuhrt, dass an den Einfahrten zum Parkplatz eine Bushaltestelle war, an der alle halbe Stunde ein Bus hielt und anschließend zurück in die Stadt fuhr.

Bei jedem Mal wagte er sich immer weiter und entschloss sich, dass nun die Zeit gekommen sei, den Freizeitpark zu verlassen. Er half inzwischen in den Restaurants aus, servierte die Gerichte oder räumte die Tische wieder ab. Es machte ihm Spaß, endlich etwas zu tun zu haben und die gute Laune schien alle im Park anzustecken. Sylvain hatte seine Eltern noch nie so gut gelaunt erlebt. Von den Besuchern, die die Restaurants und Essensstände besuchten, hörte er von der Stadt. Die Gebäude, die er von der Achterbahn gesehen hatte, gehörten zu Belfast. Dorthin wollte er gehen.

Er überlegte lange, wie er es seinen Eltern beibringen sollte, aber eines Abends sagte sein Vater von selbst, dass er gehen könnte, wohin er wollte. Seine größte Sorge sei behoben, der Freizeitpark lief wieder und das besser denn je. Sylvain versprach, dass er nicht allzu lange wegbleiben würde und auf jeden Fall wieder nach Hause käme. Nun sollte es soweit sein. Er hatte seine besten Sachen angezogen, sein Vater hatte ihm Geld gegeben, sodass er den Bus und alles andere bezahlen konnte. Sylvain freute sich auf den Ausflug in die Stadt. So lief er, wie einige Besucher, die den Freizeitpark wieder verlassen hatten, zur Bushaltestelle. Er sah den Bus in der Ferne schon kommen, da wurde er von einem Mann angesprochen, der am Wartehäuschen lehnte.

"Wo willst du denn hin?", fragte er interessiert. Sylvain wusste nicht recht, was er antworten sollte. Ein Fremder hatte ihn noch nie direkt angesprochen und wenn, dann nur, um nach einer weiteren Limo zu verlangen. "Ich fahre in die Stadt", verkündete er. "Ohne deine Eltern?", fragte der Mann erstaunt und zog die Augenbrauen nach oben. "Ich bin fünfzehn, bald werde ich sechzehn", antwortete Sylvain verwundert. "Da werde ich ja wohl alleine in die Stadt fahrend dürfen. Außerdem arbeiten meine Eltern den ganzen Tag. Ihnen gehört der Freizeitpark."

"Ach, die Eltern sind die Besitzer dieses Parks?", wiederholte der Mann, aber irgendwas sagte Sylvain, dass dieser Mann schon mehr über ihn wusste, als er bisher gesagt hatte. "Sie hätten keine Zeit, um mit mir in die Stadt zu fahren", ergänzte Sylvain. "Du willst sie wirklich alleine zurücklassen?", fragte der Mann. "Ich bin heute Abend wieder zurück. Eigentlich möchte ich mir nur die Stadt ansehen und vielleicht nach einer Schule suchen, wo ich noch etwas lernen kann." "Du bist bisher nie zur Schule gegangen, oder?"

Der Mann musterte ihn eingehend. "Mein Vater hat mir viel beigebracht. Es kann aber nicht schaden, noch weiter zu lernen, oder?", antwortete Sylvain. "Nein, sicher nicht", meinte der Mann abwesend. Er betrachtete den Freizeitpark. "Was willst du später machen, wenn dir die Schule langweilig wird?" Sylvain bemerkte, wie alle anderen Wartenden in den Bus eingestiegen waren und dieser sich wieder in Bewegung setzte. Nun musste er eine halbe Stunde warten, bis der nächste kam. Allerdings machte der Mann auch nicht gerade den Eindruck, als würde es ihm etwas ausmachen, eine weitere halbe Stunde am Wartehäuschen zu lehnen.

"Mein Vater sagt, ich kann erst mit 18 alleine reisen, aber in den zwei Jahren kann ich doch in Belfast eine Schule besuchen und die Stadt erkunden", erklärte Sylvain. "Ich will ja nicht für immer fortgehen." "Damit würdest du deinen Eltern großen Kummer bereiten", mahnte der Mann. "Das weiß ich. Ich werde auch immer wieder hierher zurückkommen. Allerdings spricht doch nicht dagegen, die Welt zu erkunden. Ein paar Tage hier, ein paar Tage dort und dann wieder hierher zurück, bevor es erneut auf Reisen geht", sagte Sylvain. "Der Plan hört sich doch gut an, nicht wahr?"

"Nun ja, ich weiß nicht", erwiderte der Mann. "Die Welt ist groß und gefährlich." "Das weiß ich", stimmte Sylvain zu. "Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens hier verbringen. Wenn ich ausrutsche und mir das Bein breche ist mir genauso wenig geholfen als wenn mir das in Belfast oder anderswo passieren würde." "Aber wenn es dir hier passiert, können dir deine Eltern sofort helfen", überlegte der Mann. "Bist du erst in der Welt unterwegs, weit weg von zu Hause, musst du alleine zurechtkommen."

"Andere haben das doch auch schon geschafft", entgegnete Sylvain. Er wusste nicht, was dieser Mann von ihm wollte, aber jetzt fühlte er sich nicht mehr so sicher, ob er denn wirklich den Freizeitpark verlassen wollte. "Könntest du damit leben, dass deine Eltern keine Ruhe mehr finden, weil sie sich ständig fragen, wie es dir wohl geht, was du gerade machst, ob alles in Ordnung ist?", redete der Mann weiter auf ihn ein. "Sie würden keine ruhige Minute mehr haben, wenn du weit weg bist und keiner weiß, was du gerade durchmachen musst. Ob du gesund bist, ob du ein Dach über dem Kopf hast oder genug zu Essen."

In Sylvains Ohren hörten sich diese Zweifel altmodisch an. Gab es nicht fast überall auf der Welt Apotheken und Krankenhäuser, sowie Supermärkte? Wenn die Besucher im Park erzählten, musste Belfast nur eine von vielen Städten auf der Welt sein, es sollte sogar noch viel größere geben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Welt so rückschrittlich sein sollte. "Es gibt doch Telefone", schlug Sylvain vor. "Wenn ich jeden Tag anrufe und sage, dass es mir gut geht, reicht das doch aus."

"Aber mit jemandem für ein paar Minuten zu telefonieren ist nicht dasselbe wie ihm gegenüberzustehen", widersprach der Mann. "Irgendwann wirst du es bereuen, dass du fortgegangen bist und nicht hier warst." "Warum sollte ich es denn bereuen?", fragte Sylvain unsicher. "Hör auf meine Worte... wenn du fortgehst, wirst du es irgendwann bereuen", wiederholte sich der Mann und dann lief er über den Parkplatz, verschwand schließlich zwischen den Autos. Sylvain stand noch eine Weile an der Bushaltestelle. Ihm war die Lust auf einen Ausflug vergangen. Vielleicht hatte der Mann auch recht und es war besser, wenn er seinen Plan noch einmal überdachte.

Er konnte auch morgen oder nächste Woche in die Stadt fahren. So lief er langsam zurück zu der kleinen Tür. Genau wie der gesamte Zaun, der den Freizeitpark umlief, war sie in einem dunklen grün angestrichen. Verwundert stellte er fest, dass die Farbe vom Pfeiler wieder abblätterte. Konnte frische Farbe nach ein paar Tagen schon wieder kaputt gehen? Er brach ein Stück der Farbe ab und zerkrümelte sie zwischen den Fingern.

Das Fleck am Pfeiler, das nun nicht mehr dunkelgrün war, zeigte den Rost, der unter der Farbe gelegen hatte. Sylvain zog die Tür wieder ins Schloss und lief weiter. Den Rucksack brachte er wieder zu seinem Trailer, wo er auf seinen Vater traf. "Ich dachte, du wolltest noch fortfahren, in die Stadt?", fragte er verwundert. Sylvain erklärte, dass der Bus zu voll gewesen sei und wenn er auf den nächsten wartete, dass er dann nicht mehr genug Zeit in Belfast hätte. Sein Vater sah ihn verwundert an, aber er nickte. Sylvain wusste, dass es erst eine halbe Stunde nach zwei Uhr nachmittags war und er mit dem letzten Bus um elf zurückfahren konnte.

So lange fuhren die Busse nämlich, da der Freizeitpark an einigen Tagen so lange geöffnet hatte. Meistens waren dann nur noch wenige Besucher da, die Familien waren bereits gegangen und der Freizeitpark gehörte den Pärchen, die lieber in Ruhe durch den Park gehen wollten. Auf jeden Fall hätte er noch genug Zeit gehabt. "Kannst du vielleicht die Einnahmen aus den Kassen holen?", fragte sein Vater. "Da können wir die erste Tageshälfte schon abrechnen."

Sylvain nickte und lief in Gedanken versunken zum Eingang. Die Worte des Mannes wollten nicht verschwinden. "Du wirst es bereuen", hatte er gesagt. "Du wirst es bereuen."

Als Sylvain an den Schaltern stand, ließ er den Blick über die Menschen streifen, die gerade ankamen. Er stellte fest, dass er zwei Jungen unter ihnen wieder erkannte. Sie waren schon einmal hier gewesen, allerdings, als der Freizeitpark noch nicht renoviert und neu war. Sylvain lief zu ihnen, um sie zu begrüßen.

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