I. Aufzug, 3. Szene
Sylvain saß auf seinem Lieblingsplatz. Die Füße baumelten Lose über dem Abgrund, aber es interessierte ihn nicht, dass seine Schuhe jederzeit in sechzig Meter Tiefe fallen konnten. Heute war es nicht allzu windig hier oben und wie jedes Mal genoss er die Ruhe. Wie oft war er schon die Leiter nach oben geklettert und bis zum höchsten Punkt der Achterbahn gelaufen. Hier konnte er dem Alltag entfliehen. Wenn seine Eltern wieder schlechte Laune schoben, weil sich keine Besucher blicken ließen oder wenn die anderen Mitarbeiter vor Langerweile nicht wussten, was sie tun sollten, dann saß er hier oben.
Es war fast jeden Tag dasselbe. Sylvain wusste nicht, wann das letzte Mal Besucher hier gewesen waren, er war sich überhaupt nicht sicher, ob er überhaupt schon einmal Besucher hier erlebt hatte. Er vermutete, dass die Attraktionen, solange er schon lebte, keiner mehr benutzt hatte. Dem Wetter ausgesetzt, das hier oft regnerisch, stürmisch und mit einer hoher Gewitterwahrscheinlichkeit war, hatten die meisten Fahrgeschäfte Rost angesetzt. Während eines Sturmes war das Dach des Aquariums eingestürzt, Fische hatten zu diesem Zeitpunkt allerdings schon lange keine mehr darin gelebt.
Für die Reparaturen fehlte einfach das Geld. Gerade so, dass sie die Trailer in Stand halten konnten, in denen sie wohnten. Da sie Strom, Öl und Wasser für keine anderen Fahrgeschäfte benötigten, konnten sie es für sich selbst verwenden. In einem Garten, versteckt hinter den Trailern, sodass kein Besucher, sofern es denn je welche gegeben hätte, ihn zu Gesicht bekommen könnte, bauten sie alles Nötige an, was sie zum Leben brauchten. Somit gab es für keinen der Parkbewohner einen Grund, jemals den Freizeitpark zu verlassen. Von der Achterbahn aus konnte Sylvain über die große Freifläche vor dem Park blicken. Sie diente eigentlich als Parkplatz, aber zwischen den Pflastersteinen schossen Gras und Unkraut nur so empor, sodass inzwischen die ganze Fläche begrünt war.
Hinter dem Parkplatz erhob sich der Wald. Auf der anderen Seite konnte Sylvain in weiter Entfernung die Umrisse von Hochhäusern ausmachen. Dort musste eine Stadt liegen, die er wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen würde. Es war ihnen einfach nicht möglich, den Freizeitpark zu verlassen. Sobald sie versuchten, über die Grenze zu treten, kamen sie nicht mehr weiter, als würden sie von einer unsichtbaren Mauer zurückgehalten. Mehr als ein Dutzend Mal hatte Sylvain es probiert, bis er schließlich voller Wut und Verzweiflung aufgegeben hatte. Die anderen hatten sich schon lange damit abgefunden, dass sie wohl für immer hier leben mussten. Nur Sylvain wollte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen.
Er wollte raus aus dem Freizeitpark, etwas lernen, die Welt sehen. Wie gerne hatte er als kleiner Junge den Geschichten der Mitarbeiter gelauscht, die von ihrer Schulzeit erzählt hatten, von ihren Freunden, von den Klassenfahrten, von den Streichen, die sie Mitschülern und Lehrern spielten. Der kleine Junge Sylvain hatte immer mit leuchtenden Augen zugehört und sich gewünscht, dass seine Zeit in der Schule genauso sein würde und er später auch einmal so viele Geschichten erzählen konnte. Bis heute wartete er vergeblich auf den Tag, an dem ihn seine Eltern an den Ort namens "Schule" brachten.
Inzwischen wusste er, dass dieser Tag wohl nie mehr kommen würde. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ihm sein Vater beigebracht und das würde reichen, um später einmal den Freizeitpark weiterführen zu können. Sylvain war fünfzehn Jahre alt und wusste, dass er alles wollte, nur nicht den Posten seines Vaters übernehmen. Was gab es denn für Möglichkeiten? Der Freizeitpark würde weiter vor sich hin faulen und verfallen, bis eines Tages die Gerüste der Achterbahnen und der Riesenräder einstürzten. Ohne Besucher, die auch in Zukunft ausbleiben würden, käme eine Renovierung nie in Betracht. Von daher würde das Leben so weitergehen wie bisher und nichts konnte sich verändern.
Dazu musste er nicht einmal lesen können. Es brachte ihn in diesem Leben eh nichts. Doch Sylvain wollte mehr über die Welt wissen. Was hatte es mit der Stadt auf sich? Was gab es dort zu erleben? Was lag hinter dem Wald? Gab es noch andere Städte auf der Welt? Welche anderen Wesen lebten noch auf der Erde, außer die Vögel, die hin und wieder über dem Freizeitpark ihre Runden drehten? Sylvain sehnte sich nach Antworten auf diese Fragen, aber er würde sie wohl nie bekommen.
Egal, aus welcher Sicht er es betrachtete, den Freizeitpark konnte er nicht verlassen. Andere Kinder würden ihn bestimmt beneiden, um das Leben, das er hier führte. Er war sich sicher, dass nicht jedes Kind in einem Freizeitpark aufgewachsen war, wo es so oft wie es wollte mit dem Riesenrad fahren oder es nur Zuckerwatte essen konnte, wo es normal war, den höchsten Punkt der Achterbahn als Lieblingsplatz zu haben. Vor allem dieses Mystische des kaputten Freizeitparks machte dieses Leben doch spannend.
Das Ächzen der Stäbe im Wind, das Knarzen der Holzdielen und das Quietschen der ausgedienten Bremsen. Früher fand Sylvain es toll, hier zu leben, in dem unendlich groß scheinenden Freizeitpark verstecken zu spielen und immer wieder neue Geheimnisse zu entdecken, die man wohl nur als Bewohner des Parks entdecken konnte und nicht als Besucher. Nun war die Zeit vorbei, als ihm der Park unendlich groß vorkam und als es noch Geheimnisse zu lüften galt. Inzwischen fühlte er sich im Park gefangen und langweilte sich einfach nur noch. Er wollte raus hier. Zwar konnte er seine Eltern nicht für immer verlassen, aber was sprach denn dagegen, die Welt zu entdecken und immer mal wieder zu Besuch vorbei zu kommen?
Sylvain seufzte. Er stellte sich vor, wie der Freizeitpark wohl ausgesehen haben mochte, als er noch neu war, als noch tausende Besucher an den Ticketschaltern Schlange standen. Die Informationstafeln am Eingang hingen gerade, ihre Farben waren nicht verblichen, die Holztafeln rochen noch nach Lackierung. Aus den Wegen schoss kein Unkraut empor. Die Leuchtbuchstaben über dem Aquarium funktionierten und strahlten hell. Im Aquarium waren die Becken mit blauem Wasser gefüllt, bunte Fische lebten in ihren eigenen, bunten Welten. Die Gondeln des Riesenrades rosteten nicht, die Lampen an der Kuppel blinkten um die Wette und keine von ihnen war kaputt.
Die Sicherheitsgurte der Achterbahn schnallten die Besucher fest in den Sitz, wenn sie nach oben gezogen wurden. Das freudige Geschrei klang durch den ganzen Park, wenn sie plötzlich nach unten sauste und durch den Looping raste. Die Besucher erfreuten sich an der Musik, die im ganzen Park aus den Lautsprechern klang und überall roch es nach leckerem Essen. Zuckerwatte, gebrannte Mandeln, Schokoladenkuchen, Pizza, Currywurst. Schöne Tage verbrachten die Besucher hier. Unvergesslich. Sylvain glaubte fast, den Geruch in seiner Nase zu wahrzunehmen. Sein Unterbewusstsein redete ihm ein, dass dieser Geruch weg sein würde, sobald er die Augen öffnete.
Doch auch dann war der Geruch noch da. Konnte seine Einbildung das alles hervorrufen, fragte er sich? Im nächsten Moment erschrak Sylvain. Die Musik dröhnte wieder aus den Lautsprechern. Hatte jemand die Leitungen repariert? Dann bemerkte er, dass sich das Riesenrad drehte. Stimmengewirr drang zu ihm hinauf und das, obwohl es doch sonst so ruhig war im Park. Er stand auf und stellte erschrocken fest, dass das Geländer der Achterbahn blau angestrichen war. An keiner Stelle blätterte die Farbe ab oder rostete das Metall. Sylvain blickte nach unten. Die Holzbretter waren mit glänzenden Nägeln befestigt worden, als hätte man sie gerade erst angebracht.
Vor Schreck wusste Sylvain gar nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Aus dem nichts war der Freizeitpark zu dem geworden, was er sich in Gedanken vorgestellt hatte. Wie war das möglich? Alles funktionierte, nichts war mehr kaputt. Sylvain sah, wie Autos auf den Parkplatz rollten. Das Gras war verschwunden, erst jetzt sah er die immense Größe des Parkplatzes, der sich zusehend mit Autos füllte. Erschrocken hastete er zur Bahn, setzte sich und schnallte sich an. Der Gurt drückte ungewöhnlich fest auf seine Brust. Dann löste er die Bremse, die sich, im Gegensatz zu sonst, leicht nach unten drücken ließ. Er war noch gar nicht darauf vorbereitet, dass das Gefährt plötzlich nach unten schoss.
Er raste durch den Looping und kam an der Station wieder zum Stehen, ohne dass Bremsen quietschten, dass es in den Ohren wehtat. Sylvain traute seinen Augen kaum, als Besucher in der Station darauf warteten, in die Bahn einsteigen zu können. Einer der Mitarbeiter lächelte ihm zu. "Funktioniert reibungslos, oder?" Die genickte Antwort des verdutzen Sylvains bekam er gar nicht mit. "Alles einsteigen!", rief er. Mit freudigen Gesichtern setzen sich die Besucher in die Bahn.
Der Mitarbeiter drückte die Sicherheitsbügel nach unten und versicherte sich, dass alle die Gurte angelegt hatten. Dann betätigte er den Knopf und die Bahn wurde nach oben gezogen. Sylvain begann erst langsam zu realisieren, was hier vor sich ging. Es war nach wie vor der Freizeitpark, in dem er aufgewachsen war. Nur sah er jetzt eben so aus, wie ein richtiger Freizeitpark auszusehen hatte. Und das gefiel Sylvain.
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