Epilog
Draußen war es kühl geworden. Die Hitze der letzten Tage hatte sich verzogen, ebenso die vielen Gewitter, die sie mit sich gebracht hatte. Für die meisten Menschen, die dieses für Nordirland ungewöhnliche Wetter miterlebt hatten, würde es wohl ein seltenes Naturphänomen bleiben, das hin und wieder vorkommen konnte.
Es gab jedoch einige wenige Personen, die wussten, was sich dort wirklich zusammengebraut hatte. Der Fluch von vielen Ideen, von zu viel Fantasie, von der Möglichkeit, spielend einfach neue Welten zu erschaffen und ständig etwas Neues zu erfinden, dass kaum etwas zu Ende gedacht werden konnte. Das Vermächtnis, das der Welt überlassen wurde, als diese vielen Entwürfe von fernen Welten, in denen die spannendsten Geschichten spielten, nie beendet vor sich hin ruhten.
Und schließlich die Rache derer Buchfiguren, die nicht akzeptieren konnten, dass ihre Geschichte unfertig war, ohne einen Anfang, ohne Tiefgang und, was am tragischsten war, ohne ein Ende. Man hatte ihnen Leben eingehaucht, doch was war mit den Buchfiguren, die kaum mehr als ein blasser Entwurf waren, kaum mehr als ein flüchtiger Hirngespinst, den man nicht weiterverfolgt hatte?
Es ist natürlich, daran zu verzweifeln, wenn man nicht weiß, wer man selbst ist. Wenn alles nur Fragen aufwirft, aber Antworten nirgendwo zu finden sind. Und dann die, die diese Verzweiflung nicht länger aushalten und alles daran setzen, ihre Fragen zu beantworten, dabei auch nicht davor zurückschrecken, andere Figuren zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren.
All das blieb diesen meisten Menschen verborgen, die nur fertige Bücher zu lesen bekamen und allen darin vorkommenden Buchfiguren mit ihrer Fantasie Leben einhauchten, wenn sie in ihre Welt eintauchten. Doch hinter dem Buchdeckel, zwischen den Zeilen, in den Tiefen von hunderten Buchseiten geschah noch so viel mehr, was den meisten Menschen verborgen blieb.
Benno, Lasse, Dorothea und Sarah liefen langsam zurück zum Schloss. Das Anwesen mit seinem Glaspavillon wirkte seltsam verlassen, nun, da sie wussten, dass es nicht mehr bewohnt war. Doch die Niedergeschlagenheit war einem kleinen Triumphgefühl gewichen, das immer weiter anschwoll. Benno wusste, dass ein Abschied nicht immer etwas Schlechtes bedeuten musste.
Auch, wenn er diese absolut absurde und unglaubwürdige Geschichte niemandem erzählen konnte, würde sich jedoch immer daran erinnern, was er mit den anderen erlebt hatte. Das verband die vier auf eine gewisse Art und Weise. Und es hatte sich ja schließlich doch alles zum Guten gekehrt. Zumindest fast alles, wie Benno feststellte.
Lasse stapfte mit finsterer Miene hinter ihnen her und schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass der Abstand zwischen ihm und den anderen immer größer wurde. Schließlich hielt es Dorothea nicht mehr aus und sie lief zu ihm. "Was ist denn los?", hörte Benno sie fragen. Lasse antwortete nicht, doch das Mädchen ließ sich nicht so schnell abwimmeln. "Du bist doch jetzt nicht etwa sauer wegen Emilias, oder?"
Fast klang es so als würde sie lachen. Sarah schmunzelte. Benno und seine Großmutter liefen schneller, damit die beiden in Ruhe reden konnten. "Da war nichts, worüber du dir Sorgen machen musst!", erklärte Dorothea bestimmt. "Wenn man es so sieht, war Emilias doch nicht mehr als nur eine Buchfigur."
"Für einige Zeit aber eine ziemlich lebendige Buchfigur", erwiderte Lasse knurrig. Dorothea lachte. "Du redest dir jetzt ein, dass da was war. Aber du weißt insgeheim genau, wie es dazu kam. Du warst ja schließlich von Anfang an dabei!" Lasse blieb stehen und sah Dorothea zum ersten Mal wieder richtig an. Er zog zweifelnd eine Augenbraue nach oben.
"Trotzdem", beharrte er. "Ohne Grund hätte er dich ja nicht fast zu ... zu seiner... Frau gemacht." Dorothea seufzte. "Ich bin froh, dass es nicht soweit gekommen ist. Das mit Emilias und mir... das wäre nichts geworden. Klar ist es möglich, dass man sich in eine Buchfigur verlieben kann, aber das ist doch nicht dasselbe wie sich im richtigen Leben zu verlieben." Lasse schien zu überlegen.
"Du brauchst nicht eifersüchtig auf Emilias zu sein. Der Prinz war am Ende nur ein Hirngespinst."Sie sah ihn fast flehentlich an. "Wenn du willst, kannst du ja mein Prinz sein." Sie lächelte nervös, als ihr bewusst wurde, wie kitschig das gerade geklungen haben musste. "Der Junge soll sich einen Ruck geben", meinte Sarah leise. Obwohl sie mit Benno dem Schloss schon näher gekommen war, hatten sie alles mitgehört. Sarah wollte sich schon umdrehen, doch Benno zog sie weiter.
"Lassen wir die beiden mal alleine", bestimmte er. Da sie nicht hörten, dass Lasse etwas sagte, konnten sie sich denken, was folgte. Schließlich erreichten sie die Einfahrt zum Schloss. Im Mondschein sah das Anwesen nicht so schlimm aus, wie Benno es in Erinnerung hatte und er konnte nicht glauben, dass das nur wegen der Dunkelheit so aussah. Er war sich ziemlich sicher, dass Dr. Huffington auch hier seine Finger im Spiel gehabt hatte und jetzt, da er weg war, würde die Renovierung auch deutlich leichter fallen.
Die Tür war noch nicht abgeschlossen. In der Eingangshalle brannte noch etwas Licht und kaum, dass sie die Halle betraten, kam Matthias aus dem Seitengang zum Speisesaal. "Wo wart ihr denn so lange?", fragte er, aber er schien die Antwort nicht richtig abzuwarten. Man sah ihm an, dass er etwas Interessantes erfahren hatte.
"Ist etwas passiert?", fragte Sarah. "Und ob!", antwortete Matthias. "Vorhin kam in den Nachrichten, dass man ein Architekturbüro habe auffliegen lassen. Die Hinweise von Kunden, die man über den Tisch gezogen hatte, haben sich gehäuft und da ist die Polizei der Sache auf die Spur gegangen.
Die Räumlichkeiten existieren noch, aber vom Chef und von all seinen Mitarbeitern fehlt jegliche Spur. Das Büro existierte nur, um die Kunden abzuzocken. Könnt ihr euch das vorstellen?" Sarah und Benno konnten sich sehr wohl vorstellen, was das bedeutete, aber sie schüttelten die Köpfe. "Und wir sind auch auf ihn reingefallen?", fragte Sarah stattdessen. "Ist ja unglaublich!", meinte Benno so überrascht, wie es ihm möglich war. Matthias fiel jedoch nichts auf, er wurde nicht über die Nachrichten fertig."Ich habe schon gewusst, dass da etwas nicht stimmt. Warum sonst passiert denn hier nichts, aber die Rechnungen und Kostenvoranschläge werden immer höher?"
"Was ist jetzt mit dem Geld, das du ihm schon gezahlt hast?", fragte Sarah. "Man will sich darum kümmern, dass alle Kunden zumindest einen Teil des Geldes zurückkommen", erklärte Matthias. "Da die Ermittlungen jedoch noch am Anfang stehen, kann dazu noch nichts Konkretes gesagt werden. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das auch so hinkriegen. Die Verluste sind verkraftbar." Er lächelte seine Mutter an. "Unserem Theater im Schloss steht nun nichts mehr im Wege!"
"Ich höre gute Nachrichten", erklang in diesem Moment Dorotheas Stimme. Sie kam mit Lasse in die Eingangshalle und zwischen den beiden schien wieder alles in Ordnung. Sarah zwinkerte Benno zu und der Junge grinste. "So, ich schlage vor, wir gehen jetzt ins Bett!", sagte sie bestimmt. "Ich bin müde." Jetzt, wo sie es sagte, verspürte Benno auch, wie die Müdigkeit von ihm Besitz ergriff. Die letzten Nächte waren schließlich sehr kurz ausgefallen und da jetzt alles vorbei war, hatte er nichts dagegen, diesen Schlaf nachzuholen.
Lasse und Dorothea schien es ähnlich zu ergehen. Ein paar gemeinsame Tage in Belfast hatten sie noch vor sich und diese wurden definitiv entspannender werden. Benno wusste, dass diese Zeit schnell vergehen würde, doch was sich hier ergeben hatte, würde sich nicht wieder im Sand verlaufen. Das war erst der Anfang! Also gingen sie nach oben. Im Büro des Grafen brannte jedoch Licht.
"Haben wir vergessen, das auszumachen?", fragte Dorothea überrascht. "Als wir das letzte Mal hier waren, war doch noch Tag?", erwiderte Benno zweifelnd. Vorsichtig öffneten sie die Tür zum Büro, auf alles gefasst. Sogar, dass Dr. Huffington ihnen gegenüberstand, darauf war Benno auch vorbereitet. Doch es waren nur zwei Drachen, die auf dem Bett saßen, eine Dose Erdnüsse zwischen sich.
"Was macht ihr denn hier?", fragte Dorothea erfreut. "Ist der kleine dicke Drache doch nicht verschwunden?", meinte Lasse ungläubig. "Nein, der ist klein und dick und dort, wo er hingehört", verkündete Avli schmatzend. "Was ist denn mit eurer eigenen Geschichte?", fragte Benno.
"Das können wir uns auch nicht erklären", meinte Xenia schulterzuckend. "Aber es gibt eben Geschichten, die verfolgen einen ein Leben lang!"
***
ENDE
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