ZWEIUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
"Dieser Anblick ist atemberaubend, oder?", fragte Joris. Quintessa und er waren, als sie bemerkt hatten, dass Dorothea, Benno und Lasse stehen geblieben waren, umgedreht. "Auf gewisse Art und Weise schon", stimmte ihm Dorothea zu. "Inzwischen ist es doch schon nichts Besonderes mehr, oder Bruderherz?", fragte Quintessa. "Ich weiß nicht, was du hast, aber ich könnte hier jeden Abend Stunden verbringen. Die Menschen beobachten, den Tanzenden zugucken, die Musik hören", erwiderte Joris begeistert.
"Es würde mich wundern, wenn du es in nächster Zeit nicht überhast", meinte seine Schwester spitz. "Keine Angst, das wird schon nicht passieren." Joris lachte. "Wer ist diese Prinzessin Madison, von der ihr gesprochen habt?", fragte Lasse. "Ihr kennt wohl Prinzessin Madison nicht?" Synchron sogen die Geschwister die Luft ein und blickten die drei für einen Augenblick sprachlos an. Schon einen Wimpernschlag später hatten sie das Lächeln wieder aufgesetzt. "Das ist ja nicht schlimm", erklärte Joris schnell. "Diese Wissenslücke lässt sich schnell schließen."
"Dann erklärt mal", forderte Dorothea sie auf. "Prinzessin Madison ist die einzige Tochter des Königs und der Königin", fing Joris an zu erklären, wurde von Quintessa aber unterbrochen: "Sonst wäre sie nicht die Prinzessin. Ich glaube, ganz so unwissend, sind unsere neuen Gäste nicht." "Wie dem auch sei", fuhr Joris fort. "Ihre Eltern sind seit geraumer Zeit verschwunden. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten. Nun wäre Madison an der Reihe zu regieren. Sie weigert sich aber, den Thron anzunehmen, wenn sie nicht genau weiß, was mit ihren Eltern passiert ist. Aber jemand muss regieren und so hat der erste Minister den Thron vorläufig übernommen. Madison nutzt seitdem ihre neue, freie Zeit, um zu feiern. Sie liebt es und nutzt deshalb jede Gelegenheit, um eine Feier oder gleich einen Ball zu organisieren."
"Das hier ist einer der Bälle, oder?", wollte Dorothea wissen. "Ein kleiner Ball oder eine große Feier, je nachdem, wie ihr es bezeichnen wollt", erklärte Joris. Ihr lächelte Dorothea zu, die ihm jedoch einen eisigen Blick zuwarf. "Und weiter?", fragte Benno. "Was möchtest du denn noch hören?", erwiderte Joris verwirrt.
"Was ist der Anlass dafür, dass ihr seit Wochen feiert?", schlug Lasse eine Frage vor. Joris und Quintessa sahen sich an. Sie konnten nicht antworten, da keiner von den Geschwistern den Anlass kannte. "Eigentlich ist es mir egal, welcher von Madisons Goldfischen Geburtstag hat, Hauptsache, dass wir feiern können", verkündete Joris. "Und jetzt habt endlich etwas Spaß! Wir sind hier, um fröhlich zu sein."
"In ein paar Minuten beginnt der erste Walzer des Abends", erklärte seine Schwester. "Bis dahin sollten wir uns einen Platz mit einer guten Sicht sichern. Es ist jedes Mal wieder schön mit anzusehen", schlug Joris vor. "Ich kann euch den Platz zeigen." "Es ist doch bestimmt der, den wir jeden Abend haben, oder?", fragte Quintessa. Joris nickte.
Auf der Empore war die Dichte an Feierwütigen nicht geringer als unten. Hier mussten sie sich genauso durchdrängeln, aber an der Enge schien sich keiner zu stören. Joris führte sie auf die lange Seite der Empore, ziemlich genau in der Mitte über dem Eingang, den Benno, Lasse und Dorothea genutzt hatten.
Die Tanzfläche war inzwischen geräumt worden. Rundherum drängelten sich die Menschen nun noch dichter. Benno erinnerte dieser Anblick an eines dieser Konzerte mit tausenden Besuchern, wo diese sich kaum bewegen, aber trotzdem Spaß haben konnten, was das Zeug hielt. Für einen Moment war auch das Orchester verstummt.
Alle bereiteten sich auf den Eröffnungswalzer vor. Alle schauten gebannt zum Dirigenten, während sich eine erwartungsvolle Stille im Saal ausbreitete. Dann setzte das Orchester an und die Eröffnung begann mit einer feierlichen Polonaise. Die Tänzer schritten elegant über die Tanzfläche, bevor sie sich zur Ausgangsstellung zum Walzer positionierten. Benno wandte den Blick von den Tanzenden ab und sah sich die Menschen, die um ihn herumstanden. Alle waren wie hypnotisiert von dem Geschehen und der Junge konnte sie fast verstehen.
Die Atmosphäre, die sich im Raum ausgebreitet hatte, konnte man nicht so recht beschreiben. Auf der einen Seite das Feierliche, Stimmungsvolle und Beschwingte und dann aber auch etwas Erdrückendes, doch Benno konnte nicht sagen, woher es kam. Inzwischen schienen die Tänzer im Dreiviertel-Takt über die Tanzfläche zu schweben. Von ihnen ging etwas Schwereloses aus und das Tanzen schien so leicht. Sie drehten sich links herum und in der nächsten Runde rechts herum. Dabei war kein einziges Paar dabei, das einmal aus dem Takt geriet oder eine Bewegung nur ein bisschen verzögert ausführte.
Es war alles absolut synchron und schien schon fast etwas Ferngesteuertes zu haben. Das Lächeln schien auf den Gesichtern festgefroren und somit war es alles andere als authentisch. Trotzdem brach das Publikum in tosenden Jubel aus, als die letzten Töne des Walzers verklangen. Die Tänzer verbeugten sich und schritten, die Damen bei den Herren eingehakt, von der Tanzfläche. Das Orchester setzte sofort zum nächsten Walzer an und schnell stürmten die Besucher die Fläche. „Es ist einfach jeden Abend wieder toll", schwärmte Joris.
Quintessa nickte halbherzig. „Wir sollten weitergehen. Unser Weg wird am Büffet vorbeiführen, da könnt ihr vielleicht euren Freund wieder einsammeln." „Das klingt ja gerade so, als wäre es schon wieder vorbei", stellte Dorothea verwirrt fest und bedachte das andere Mädchen mit einem skeptischen Blick. „Ach... nicht weiter wichtig", wehrte Quintessa ab. „Mir geht es heute nicht gut, ich denke, ich sollte nicht mehr allzu lange hierbleiben."
Dorotheas Blick wurde noch eine Spur skeptischer und Benno war sich sicher, dass diese Ausrede nicht nur in seinen Ohren ziemlich halbherzig geklungen hatte. „Vorher zeigen wir unseren neuen Freunden aber noch weiter das Schloss, oder?", fragte Joris. „Danach kannst du dich immer noch zurückziehen."
„Du hast recht. Es wäre unhöflich, jetzt schon zu gehen", stimmte ihm Quintessa zu. Sie straffte die Schultern und sofort erschien wieder das Lächeln auf ihrem Gesicht, das für einige Minuten verschwunden war. „Von der Empore gehen noch einige Türen aus in kleine Salons. Dort halten sich entweder die älteren Gäste auf oder die jüngeren, je nachdem, wer gerade etwas Abstand von dem Trubel unten braucht", erklärte sie. Lasse nickt vage. Inzwischen hatten sie die andere Seite der Empore erreicht, auf der wieder eine Treppe nach unten führte.
„Unten gehen wir nach links zum Büffet", gab Joris bekannt. Am Ende der Treppe führte eine große Flügeltür in einen weiteren, aber wesentlich kleineren Saal, in dem lange Tafeln aufgebaut waren, auf denen man die verschiedensten Speisen aufgetischt hatte. „Seht ihr euren kleinen Freund?", fragte Quintessa. Den Jugendlichen fiel eine Gruppe junger Menschen ins Auge, die im Kreis um etwas herum zu stehen schien. Benno, Lasse und Dorothea näherten sich der Gruppe. Auf einem kleinen runden Tisch stand Avli, der von mindestens einem Dutzend Menschen umringt wurde. „Das seid ihr ja endlich!", beschwerte sich Avli. „Ich dachte schon, ihr kommt nie wieder!"
„Gehört der kleine Hund zu euch?", fragte ein Mädchen. „Ich bin kein Hund!", stellte Avli klar. Benno nickte. „Oh, wie niedlich, dass ihr ihm Sprechen beigebracht habt", sagte das Mädchen. „Hast du dich schon mit dem Büffet auseinandergesetzt?", fragte Lasse. „Oh ja", antwortete der kleine Drache. „Während ihr nicht da wart, habe ich die Zeit genutzt, um mal das ein oder andere zu probieren. Es gibt einige Dinge, die ich sehr empfehlen kann. Das schlimmste allerdings ist, dass es kein Gericht mit Erdnüssen gibt."
„Warum habt ihr euren Hund nicht schon eher einmal mit hergebracht?", fragte ein Junge. „Er ist so lustig. Die Feiern wären bestimmt noch um Einiges unterhaltsamer gewesen." „Wir sollten gehen", sagte Dorothea an Benno und Lasse gewandt. „Mir gefällt hier etwas nicht." Sie drehte sich um und ging schon wieder Richtung Ausgang. Lasse eilte ihr hinterher, Benno schnappte sich schnell den Drachen. „Macht's gut, meine Freunde! Wir sehen uns bestimmt einmal wieder!", rief Avli.
Plötzlich waren auch wieder Joris und Quintessa aufgetaucht. „Wollt ihr wirklich schon gehen?", fragte sie enttäuscht. „Der Abend hat doch gerade erst begonnen", ergänzte Joris. „Ich denke, wir waren lange genug hier", meinte Dorothea. „Wir sollten jetzt nach Hause gehen." Nur leider kam ihnen in diesem Moment Sibille entgegen. „So ein Zufall, dass ich euch hier wiedersehe!", rief sie erfreut aus. Dorothea sah noch weniger begeistert aus als einige Moment zuvor.
„Ich habe gerade keinen Tanzpartner", beklagte sie sich. „Darf ich mit dir eine Runde Walzer tanzen? Es wäre mir ein großes Vergnügen!" Noch ehe Lasse wusste, wie ihm geschah, hatte Sibille ihn am Arm gepackt und schleifte ihn sanft, aber bestimmt, zur Tanzfläche. „Scheint so, als würdet ihr doch noch nicht gehen können", stellte Quintessa fest. Dorothea sah sich um und hoffte, dass der nächste Walzer etwas schneller gespielt wurde.
Doch auf einmal waren auch Benno und Joris verschwunden und sie war alleine mit Quintessa...
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