ZWEI

ZWEI

„Soll ich dir jetzt dein Zimmer zeigen?", wollte Ludmilla wissen. „Ich warte noch auf Lasse. Er hat mit vorhin vom Flughafen eine Nachricht geschickt", antwortete Benno. „Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis er hier ist." „Du hast hier draußen Empfang?", wunderte sich Ludmilla. „Ich bin froh, wenn ich meinen Kindern gerade so schreiben kann, dass ich später nach Hause komme. Von neumodischer Technik hielt der Graf ja nichts."

Sie deutete auf das große, schwarte Telefon im Flur. Es hatte eine Schnur und eine Drehscheibe, wie die wenigsten Telefone heutzutage noch. „Der Graf mochte es altmodisch. Gerade so, dass er einen Computer hatte, um seine Geschichten zu schreiben. Im Sommer, wenn es angenehm warm war, was aber in den seltensten Fällen vorkommt, saß er draußen, im Garten oder im Park und hämmerte auf seiner Schreibmaschine herum", erzählte die Haushälterin. „Kennst du seine Geschichten überhaupt? Er hat sie ja alle auf Englisch verfasst."

„Er war doch erfolgreich damit. Viele seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Natürlich habe ich sie gelesen", erklärte Benno. „Erfolgreich kann man so und so definieren", murmelte Ludmilla. Sie brachte die Töpfe zurück in die Küche, um sie noch einmal auf den Herd zu stellen, sodass das Essen nicht kalt wurde. Als sie zurückkam, erklärte sie: „Der Graf, also dein Stiefgroßvater, hat zwar hunderttausende Bücher verkauft, was an sich eine riesige Menge ist, aber das Geld, das er dafür bekommen hat, war eigentlich nichts. Wenn ein Buch fünfzehn Euro kostet, kommen höchstens, aber wirklich höchstens, zwei Euro beim Autoren an."

„Dann ist klar, warum hier alles so aussieht wie es aussieht", stellte Benno fest. Ludmilla nickte traurig. „Wir rechnen jeden Tag damit, dass wir entlassen werden, weil einfach kein Geld da ist", sagte sie. „Onkel Mattse hat zwar durch seine Arbeiten als Dokumentarfilmer ziemlich viel Geld verdient, aber du kannst ja nicht verlangen, dass er es hier investiert. Er hat hart dafür gearbeitet und wer weiß, ob dieses Gemäuer überhaupt noch zu retten ist."

„Und wenn er es verkauft?", überlegte Benno. „Das wäre seine Entscheidung, aber ich wäre unendlich traurig. Seit zwanzig Jahren komme ich jeden Tag hierher. Früh um sieben stehe ich hier auf der Matte, abends gehen acht gehe ich wieder. Dann habe ich den ganzen Tag hier verbracht, aber ich habe ja zwei Kinder, einen Mann und eine Wohnung nahe dem Stadtzentrum. Darum muss ich mich ja auch kümmern. Aber ich hänge so an diesem Gemäuer! Es hat so etwas mystisches, majestätisches, schönes an sich... ich kann es einfach nicht erklären", erzählte Ludmilla. „Der Gärtner, die Putzfrau und ein, wie soll ich sagen, Diener, arbeiten und wohnen hier. Die kleinen Wohnungen liegen im Erdgeschoss, auf der anderen Seite der Eingangshalle."

„Einen Diener?", wiederholte Benno. „Eine Art Haushälter. Junge für alles... er heißt Louis ", antwortete Ludmilla. Benno lachte. „Also ein Buttler?", schlussfolgerte er. „Wenn man es so nennen will", sagte die Haushälterin lachend. Sie seufzte. „Ach, ich bin einfach so froh, dass du hier bist. Dass du hier bei mit, im Speisesaal sitzt", sie wuschelte Benno durch die Haare. „Es war schade, dass ihr nur so selten hier wart", fuhr sie fort.

„Aber wir haben doch telefoniert und Nachrichten geschrieben", erwiderte Benno. „Ja, aber am Telefon kriege ich ja nicht mit, wie groß du geworden bist", meinte Ludmilla. „Du bist ja schon so groß wie ich! Als deine Eltern mit dir zum ersten Mal hier waren, warst du ein Baby. Dann konntest du schon laufen, als ihr uns das nächste Mal besuchtet. Beim nächsten Mal warst du schon ein Schulkind und dann schon wieder in der fünften Klasse. Seitdem wart ihr nicht mehr hier."

„Die fünfte Klasse ist ja auch schon ein paar Jahre her", meinte Benno. „Nach den Ferien gehe ich schon in die zehnte." „Da kannst du mal sehen wie die Zeit vergeht", seufzte Ludmilla. „Kannst du dich denn überhaupt noch an den Grafen erinnern?" „Nicht wirklich", antwortete Benno. „Wenn wir hier waren, war Onkel Mattse auch immer da. Da habe ich die meiste Zeit mit ihm verbracht." „Der Graf war lieber für sich allein mit seinen Ideen. Die Zeit in Birmingham und Manchester, beide große Metropolen, haben ihn gelehrt, die vielen Menschen zu meiden. Wenn er keinen Überblick hatte, nicht bestimmen konnte, war er verloren. Deswegen verbrachte er die Zeit lieber in seinem Zimmer mit seinen Ideen. Wir, also seine Angestellten, haben ihn manchmal zum Frühstück und zum Abendessen gesehen", berichtete Ludmilla. „Onkel Mattse ist immer bei uns. Mal wuselt er hier, mal wuselt er darum."

„Wo ist er jetzt eigentlich?", wollte Benno wissen. „Er hat einen Termin bei einem Notar in Belfast. Es geht, mal wieder, um das Testament. Was aus dem Schloss wird und so weiter. Denn nicht nur, dass es steinalt ist. Es steht unter Denkmalschutz und deswegen kann man nicht einfach den Borer ansetzten. Nein, da müssen es bestimmte Bohrköpfe aus bestimmen Material sein. Du kannst dir vorstellen, was Denkmalschutz bedeutet. Ausgaben, Ausgaben, Ausgaben, um jeder gegeben Vorschrift gerecht zu werden", Ludmilla holte Luft.

„Also kann es noch dauern, bis er wiederkommt?", vermutete Benno. Ludmilla nickte. „Wenn Lasse da ist, zeige ich euch das Schloss. Oder wollt ihr lieber selbst auf Erkundungstour gehen?" „Das entscheiden wir dann", antwortete der Junge. „Können wir auch das Zimmer vom Grafen sehen?" „Natürlich, das ist doch kein Museum", gestattete Ludmilla. „Es ist alles frei zugänglich. Du willst schnüffeln, ob der Graf noch irgendwo unveröffentlichte Manuskripte herumliegen hat oder ob du eines seiner Ideenbücher findest."

Benno nickte. „Ich habe ja selbst schon ein bisschen geschnüffelt", gestand Ludmilla. „Ich glaube, der Graf wäre sogar froh, dass sich jemand für seine Ideen interessiert, die nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben."

Dass Ludmilla mit dieser Aussage Unrecht hatte, sollten alle Beteiligten, aber vor allem Benno und Lasse, in den nächsten Wochen noch herausfinden.

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