VIERUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
"Hier seid ihr also", stellte Benno erleichtert fest. "Wir haben euch schon gesucht", ergänzte Lasse. "Uns war es im Saal einfach zu laut. Wir mussten mal reden", erklärte Dorothea. "Was ist los?", fragte Benno, als er Quintessa verweintes Gesicht sah. "Sehr viel", antwortete Dorothea. "Zu viel, um genau zu sein."
"Was meinst du damit?", wollte Lasse wissen. "Das erzähle ich euch, wenn wir wieder zu Hause sind." "Ihr wollt schon gehen?", fragte Quintessa und versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. "Wir müssen leider", erklärte Dorothea. Bis vor einigen Minuten hatte sie es kaum erwarten können, endlich den Ball verlassen zu können, doch jetzt wollte die Quintessa ungern alleine lassen.
"Ich hoffe, ihr kommt uns bald wieder besuchen", sagte sie. "Es würde mich sehr freuen." "Natürlich kommen wir wieder", versprach Dorothea. "Wir müssen nur noch Avli suchen", stellte Benno fest. "Der wollte eigentlich mit uns mitkommen, aber anscheinend ist er noch im Saal." "Dann holen wir ihn und dann machen wir uns auf den Heimweg", beschloss Lasse.
Quintessa nickte und erhob sich. "Ich begleite euch noch." Zu viert gingen sie in den Saal zurück. Am Eingang sahen sie sich um, doch von Avli war weit und breit nichts zu sehen. Noch immer standen die Menschen dicht gedrängt beisammen, der Ball hatte an Lautstärke nichts verloren. "Wo ist Joris eigentlich?", fragte Quintessa. "Er ist vorhin zu seinen Freunden gegangen", antwortete Benno. "Keine Ahnung, wo sie jetzt sind."
"Ich werde sie suchen", verkündete Quintessa. Zum Abschied umarmte Dorothea sie, als würden sich die beiden Mädchen schon Jahre lang kennen. Gerade, als Quintessa sich umdrehte, um ihren Bruder zu suchen, schimmerte ihr Kleid bläulich. Das Schimmern griff schnell auf andere Gäste über, bis schließlich der ganze Saal blau flackerte. Dann begann sich langsam alles aufzulösen. Ein Glas fiel zu Boden, kurz bevor es jedoch zersprang, verschwand es auf einmal.
Wo bis eben noch die Gäste getanzt hatten, schwebte jetzt nur noch ein einzelner Schleier zu Boden. Er löste sich langsam auf. Auch die Kleidung von Benno, Lasse und Dorothea löste sich auf. Schließlich war alles verschwunden, was bis eben noch zum Ball gehört hatte. Die drei Jugendlichen waren auf einmal alleine in dem riesigen Saal. Auch die Empore war nicht mehr da.
Dafür trugen sie wieder ihre richtigen Sachen. "Was ist denn jetzt auf einmal los?" Die Stimme hallte in dem leeren Raum. Avli kam zu den drei Jugendlichen gelaufen und blickte sich verwundert um. "Es ist alles verschwunden", stellte Dorothea fest. "Jetzt sieht alles wieder so wie sonst aus." Das Schachbrettmuster war weg, an dessen Stelle bedeckte jetzt dunkles Parkett den Boden. Die Spielkarten an den Wänden hatten den Holztafeln Platz gemacht, die generell im ganzen Schloss zu finden waren. An den Wänden standen, jeweils im gleichen Abstand auf Podesten, Ritterrüstungen, die im Laufe der Jahre ihren Glanz verloren hatten.
"Wie kann das möglich sein?", fragte Benno. "Es können sich doch nicht hunderte Menschen plötzlich in Luft auflösen." "Der blaue Schimmer", sagte Dorothea plötzlich, worauf Benno und Lasse gleichzeitig mit "Was?" antworteten. "Es ist genau wie in meiner Traumwelt", erklärte das Mädchen. Sie schritt langsam durch den Saal. "Die Träume haben immer mit einem blauen Schimmer begonnen und geendet. Es sah genauso aus wie hier. Plötzlich flackerte alles und dann war es weg." "Du meinst, dass das hier auch so eine Art... Traumwelt ist?", schlussfolgerte Benno.
"Es träumt doch aber keiner von uns", erwiderte Avli. "Ich sagte, es ist eine Art Traumwelt", stellte Benno richtig. "Eine Parallelwelt", überlegte Lasse. "Es ist bewiesen, dass es mehrere Dimensionen gibt. Warum sollte dann nicht in einer anderen Dimension an diesem Ort hier ein Ball stattfinden?"
"Dann könnten wir ihn aber nicht sehen, geschweige denn mit den Gästen kommunizieren", widersprach Dorothea. "Das ergibt alles keinen Sinn. Vorher ist das noch nie aufgetaucht. Dann ist es plötzlich da aber genauso schnell wieder verschwunden." "Über was hast du dich eigentlich mit Quintessa unterhalten?", fragte Benno. "Sie hat mir viele Dinge erklären wollen, die aber irgendwie nicht zusammen passen", antwortete Dorothea. Seufzend ließ sie sich auf den Boden sinken. "Es ergibt einfach alles keinen Sinn."
"Wir werden schon heraus finden, was das zu bedeuten hat", hoffte Lasse. "Wie denn nur? Wir finden immer wieder neue Dinge heraus, die noch mehr Fragen aufwerfen, die wir nicht erklären können. Wenn das so weitergeht, lasse ich mich noch in die Psychiatrie einweisen. Wir können ja nicht einmal mit jemandem darüber reden, ohne dass er uns gleich für verrückt hält. Was wir erlebt haben, glaubt uns keiner, der nicht selbst dabei war und alles gesehen hat. Und das sind leider nur wir drei." Dorothe seufzte schwer.
"Vier, bitte schön", korrigierte sie Avli. "Ich zähle auch noch dazu." "Aber nur als halbe Portion, also dreieinhalb", gab Lasse zurück. "Immer wird man auf seine Größe reduziert", jammerte der kleine Drache. "Die Welt ist so ungerecht!" "Und so verwirrend", ergänzte Dorothea. "Ich wollte euch ja eigentlich fragen, ob wir heute noch zu dem Freizeitpark gehen wollen, den ihr gestern entdeckt habt. Aber nach den heutigen Erlebnissen verschieben wir das lieber auf morgen." Die beiden Jungen stimmten ihr zu. Alle drei mussten erst einmal ihre Gedanken ordnen.
***
Ludmilla fiel sofort auf, dass mit den dreien etwas nicht stimmte. Sie hatte heiße Schokolade gekocht und Kuchen gebacken. Auch ihr Lob, dass sie sich jetzt gar nicht mehr trauen würde, etwas in der Küche zu machen, aus Angst, die Ordnung zu zerstören, konnte sie nicht wirklich positiver stimmen.
"Was ist denn los mit euch?", fragte die Haushälterin und setzte sich zu ihnen an den Tisch im Speisesaal. "Habt ihr etwas Schlimmes erlebt?" Dorothea schüttelte den Kopf. Sie hatte Ludmilla sonst immer alles erzählt. Zu ihrer Mutter hatte sie nicht mehr so oft Kontakt und mit der Zeit hatte Ludmilla diese Rolle übernommen.
Dorothea versuchte jedoch immer, sich etwas zurückzuhalten, da sie wusste, dass Ludmilla mit ihrer Arbeit und ihren eigenen Kindern genug Probleme hatte. Dabei hätte sie sich jetzt gern alles von der Seele gesprochen. Alles, was sie in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Auch Benno und Lase hätten Ludmilla am liebsten alles erzählt, aber sie wussten, dass sie mit niemandem darüber reden konnten. Auch wenn Ludmilla immer gut gelaunt und verständnisvoll war, diese Geschichte würde auch sie nicht so leicht hinnehmen.
"Eigentlich nicht", antwortet Dorothea vage. "Ich habe Benno und Lasse heute den Südflügel gezeigt, mit dem Rittersaal. Da ist mir einmal mehr bewusst geworden, wie schlecht es um das Schloss steht." "Ist es das, was dir Sorgen macht?", fragte Ludmilla. Dorothea nickte. Ihre Worte umschrieben in etwa das Erlebte, auch wenn Ludmilla diese bestimmt in einem anderen Zusammenhang verstand. "Vielleicht bin ich auch einfach nur müde", versuchte sie sich an einer anderen Erklärung. "Die letzte Schulwoche ist sehr anstrengend."
"Dann legst du dich am besten jetzt etwas hin und ruhst dich aus. Morgen hast du deinen letzten Schultag und dann erstmal Ferien", munterte Ludmilla das Mädchen auf. Dorothea lächelte und nickte.
Sie war sich sicher, dass ihre Ferien alles andere als ruhig werden würden...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top