VIER
Ludmilla kramte einen Schlüsselbund hervor. Wie selbstverständlich suchte sie den passenden Schlüssel heraus und schloss zuerst die eine Tür, dann mit einem anderen Schlüssel auf der gegenüberliegenden Seite eine andere Tür auf. "Ihr könnt euch aussuchen, wer welches Zimmer nimmt", erklärte die Haushälterin. "Jedes hat ein eigenes Badezimmer und einen Balkon."
"Wie im Hotel", meinte Lasse. "Zimmerdienst gibt es aber nicht", erwiderte Ludmilla lachend. "Wenn ihr etwas braucht, dann müsst ihr den Weg nach unten schon selbst zurücklegen. Ihr findet mich, oder jemand anderen, immer im Erdgeschoss." Lasse und Benno nickten zustimmend. "Dann lass' ich euch jetzt erstmal alleine", beschloss Ludmilla und ging den Flur wieder zurück und die Treppe hinunter.
Jetzt standen die beiden Jungen alleine auf dem Flur. "Nimmst du das linke Zimmer und ich das rechte?", fragte Benno. Lasse zuckte mit den Schultern. "Mir ist es relativ egal. Ich habe eh nicht vor, den ganzen Tag im Zimmer zu hocken." Damit nahm er seine Koffer und verschwand im linken Zimmer. Benno betrat das seine.
Es war ziemlich groß und der Junge wusste nicht, was er zuerst bestaunen sollte. Die Holztafeln an den Wänden waren so groß wie er und mit Schnitzereien versehen. Alle sahen unterschiedlich aus, hatten aber dennoch einen roten Faden: die Drachenfigur, die auf jeder Tafel bei einer anderen Handlung zu sehen war.
Mal saß sie auf einem Ast, ein anderes Mal hatte sie die Flügel ausgebreitet und flog. Für Benno hatte es den Anschein, dass sie jeden Moment aus der Holztafel herausfliegen könnte. Er blinzelte und schon war die Drachenfigur wieder nur eine Wölbung im Holz. Die Decke war nicht weniger verziert.
Auch im Stuck fand sich die Drachenfigur wieder. Ob sie etwas zu bedeuten hatte? Sonst wäre sie nicht so oft abgebildet, dachte sich der Junge. Er stellte seinen Koffer ab und legte den Rucksack auf den Stuhl, der am Schreibtisch stand. Das Polster war dunkelrot, die Füße und die Lehne aus dunklem Holz mit einer auffallenden Musterung.
Auch die anderen Möbel schienen sehr wertvoll. An den Wänden hingen Ölgemälde, die unterschiedliche Landschaften zeigen. Berge, Wiesen, Wälder, einen See. Benno drehte sich, doch der schöne Schein blieb nicht. Auf den zweiten Blick sah er die Risse in den Wänden, die zwar nicht tief, aber dennoch deutlich sichtbar waren. Einer reichte von der Holztafel bis zur Decke und durchsetzte auch den Stuck.
Wenn das der Teil des Schlosses war, der noch den besten Zustand aufwies, dann wollte Benno gar nicht erst wissen, wie es in anderen Teilen des Schlosses aussah. Er ließ sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Hier herrschte eine Stimmung, die er nicht so wirklich zu beschreiben vermochte. Irgendwie erdrückend, auf der anderen Seite auch etwas fröhlich, aber auch aufgeregt. Etwas lag in der Luft.
Benno musste plötzlich grinsen. Vielleicht waren es die Figuren des Grafen, die hier herumgeisterten. In den Büchern hatte es die Guten, die Bösewichte, die Zicken, die Schüchternen, die Außenseiter, die Obercoolen und alle anderen Arten von Menschen gegeben. Aber auch Drachen, Hunde und Katzen hatten eine Rolle in den Büchern des Grafen gespielt. So viele unterschiedliche Charaktere.
Vielleicht war auch die Drachenfigur an den Wänden und an der Decke einer von diesen Charakteren gewesen? Benno hatte alle Bücher des Grafen gelesen, doch an einen solchen Drachen konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht könnte es auch eine dieser Geschichten sein, die nie an die Öffentlichkeit gelangt war, die nach Jahren immer noch in einer Schublade im Schreibtisch des Grafen lag. Bei Gelegenheit würde er nachsehen, Ludmilla hatte es ja sogar erlaubt. Er stand wieder auf, um seinen Koffer auszuräumen.
Über dem Tisch, der an der Wand stand, war eine Reihe Steckdosen angebracht. Sie waren definitiv aus dem letzten Jahrtausend und wirkten nicht mehr ganz sicher. Aber wenn bisher nichts passiert war, dann sollte doch auch jetzt nichts passieren?, fragte sich Benno. Egal, der Handy-Akku musste geladen werden. Er suchte das Ladekabel aus dem Koffer und schloss das Handy an.
Wie er den Stecker in die Steckdose stecken wollte, bemerkte er eine Bewegung in den Augenwinkeln. War Lasse hereingekommen, um zu sehen, ob er schon fertig war? Benno drehte sich um, doch er sah niemanden.
Der Junge sollte jedoch bald erfahren, wer "niemand" war...
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