SECHSUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

„Ich bin gespannt, ob er noch da ist", überlegte Benno. „Rein physikalisch kann sich ein Freizeitpark nicht in Luft auflösen", erwiderte Lasse. „Ich lasse mich einfach nur noch überraschen. Nach dem, was hier zurzeit abgeht, ist doch alles möglich", erklärte Dorothea. Die drei Jugendlichen liefen in schnellem Tempo durch den Park. Ein Gewitter zog auf, doch das war nicht einmal das, was ihnen am meisten Sorgen bereitete. Seit sie das Kapitel gefunden hatten, konnten sie es kaum erwarten, dies Sylvain zu zeigen.

Der Weg schien heute nur noch länger als ein paar Tage zuvor. Die Stelle, an der sie Dorothea zum ersten Mal begegnet waren, hatten sie schon längst hinter sich gelassen. Avli klammerte sich in dem Rucksack fest, den Benno kurzerhand mitgenommen hatte, um den Drachen nicht immer tragen zu müssen. Der Kleine war ganz aufgeregt gewesen, als die drei ihm von ihrer Entdeckung erzählt hatten.

Eine Erklärung hatte jedoch auch der kleine Drache nicht. Er selbst war eigentlich eine Sache, die einer Erklärung bedurfte. Benno hoffte, dass sie allmählich klären konnten, was in und um das Schloss vor sich ging und nicht noch mehr Fragen aufgeworfen wurden. „Wir dürften bald da sein", verkündetet Lasse. „Der Park wird schon lichter."

„Das mit dem Licht war doch jetzt eine Metapher, oder?", fragte Dorothea scherzhaft, aber mit einem sorgenvollen Blick in Richtung Himmel. „Ist das denn überhaupt noch normal, dass hier täglich ein Dutzend Gewitter ihr Unwesen treiben?", wollte Benno wissen. „Sicher, in Großbritannien soll es viel regnen, aber an sich sagt man doch immer, dass das ein Gerücht ist"

Die Jugendlichen verlangsamten ihr Tempo und blieben schließlich stehen, um kurz durchzuatmen. „Meiner Meinung nach gibt es hier genauso viele sonnige Tage wie anderswo auch, aber das mit den Gewittern ist selbst mir rätselhaft", versuchte sich das Mädchen an einer Erklärung. „Das ist eigentlich erst seit einem guten halben Jahr so."

„Vielleicht eine besondere Wettererscheinung, die kommt und geht", vermutete Lasse. „Aber fast ununterbrochen Gewitter ist schon mehr als eine besondere Wettererscheinung. Wann hat denn mal die Sonne geschienen, seit wir hier angekommen sind? Fast gar nicht", sagte Benno. Dorothea antwortete darauf nichts mehr, sie hatte den Freizeitpark erblickt. Die Gerüste und Bäume ließen aus der Entfernung nichts Böses vermuten, wäre nicht der dunkle Hintergrund gewesen, durch den immer wieder Blitze zuckten. Benno erstarrte.

Dieses Bild kannte er. Genauso hatten sie den Freizeitpark gesehen, als sie zum ersten Mal hier gewesen waren. Es war exakt dasselbe Bild. Die skeletthaften Gerüste der Achterbahn und anderer Attraktionen vor einer dunklen Gewitterfront. „Kommt dir das genauso bekannt vor?", fragte Lasse. Benno nickte. „Scheint, als hätte sich seitdem nichts verändert." „Wollen wir weitergehen? Ich will mir das unbedingt mal aus der Nähe ansehen", verkündete Dorothea. Die beiden Jungen nickten. „Bevor wir uns im Gewitter noch eine Erkältung holen", sagte Benno. „Im Freizeitpark gibt es keine Gewitter."

„Wie kommt das?", fragte das Mädchen verwirrt. „Soweit ich erkennen kann, gibt es kein Dach oder keine Glaskuppel oder dergleichen." „Das hat uns Sylvain erzählt", erklärte Lasse. „Die Gewitter ziehen immer nur am Park vorbei, die Bäume hätten seit Jahren keinen einzigen Wassertropfen abbekommen, aber trotzdem stehen sie noch."

„Sehr, sehr seltsam", murmelte Dorothea vor sich hin. Gerade als sie losgehen wollten, bemerkten sie einen schwarzen Jeep, der sich dem Freizeitpark näherte. Er holperte über die unebene Fläche und verschwand hinter dem Park. „War das beim letzten Mal auch schon so?", wollte das Mädchen wissen.

Lasse schüttelte den Kopf und antwortete: „Die Bewohner können den Park nicht verlassen. Es müssten Fremde sein, wenn sie den Park betreten wollen." „Vielleicht jemand, der einen Spaziergang machen will und deswegen aus der Stadt rausgefahren ist", überlegte Benno. „Hier kommt seit Jahrzehnten keiner her", antwortete Dorothea. „Das Villenviertel ist so ziemlich der verlassenste Ort, den man sich vorstellen kann."

„Schwarze Jeeps bedeuten doch in Filmen auch immer, dass die Gangster im Anmarsch sind", überlegte Lasse. „Drogenbosse, Mörder, Entführer und was es da nicht alles gibt." „Was wollen denn Gangster im Freizeitpark?", fragte Dorothea. Sie versuchte, so gelassen wie möglich zu fragen, aber dennoch klang ihre Stimme panisch.

„Das werden wir ja sehen", antwortete Lasse. „Keine Angst, wir sind ja bei dir." „Ich hoffe, dass ich auch in das wir mit einbeschlossen bin", meldete sich Avli zu Wort. „Du doch am allermeisten", meinte Dorothea und lächelte dem Drachen zu. Plötzlich verlangsamte Benno seine Schritte, sodass Lasse fast in ihn hineingelaufen wäre. „Was ist?", fragte er. „Seht ihr auch diese schwarz gekleideten Männer da am Eingang?"

Benno deutete auf den überdachten Eingangsbereich mit den Ticketschaltern. Links und rechts von dem Zugangstor standen zwei schwarzgekleidete Männer. „Sehen aus wie Gangster", stellte Lasse fest. „Du und deine Gangster", erwiderte Dorothea. „Sollten wir nicht lieber umkehren?" „Umkehren? Weil am Eingang zwei Männer stehen?", schlussfolgerte Lasse. „Wer weiß, was das zu bedeuten hat, vielleicht hat sich inzwischen auch was im Park getan."

„Das würde mich überraschen", stelle Benno klar. Sie liefen weiter und hatten das Eingangsportal schließlich fast erreicht. „Der Freizeitpark hat heute leider geschlossen", begrüßte ihn einer der Männer. Sie waren beide in etwa so groß wie Lasse, aber wesentlich stämmiger. Es sah aus, als wären sie entweder Freunde von gutem Essen oder würden statt dem Restaurant immer ein Fitness-Studio besuchen. Beide wirkten auf den ersten Blick jedoch nicht gefährlich.

„Wie jetzt, geschlossen?", fragte Lasse. „Geschlossen eben, heute könnt ihr den Park leider nicht besuchen", antwortete der zweite Mann. Das Lächeln würde er zu einem Autoverkäufer passen, fand Benno. Irgendwas stimmte hier doch nicht. „Das ist aber schade", sagte Dorothea und ließ traurig den Kopf hängen. „Jetzt haben wir extra das Ticket für den Bus hierher gekauft."

„Das tut mir leid, aber daran können wir nichts ändern", erklärte der erste Mann. Er trug eine Jacke, deren Reißverschluss offen war. An seinem Gürtel bemerkte Benno die Halterung für eine Pistole. Was es für eine war, konnte er auf die Schnelle nicht erkennen.

„Warum tragen Sie denn Waffen? Ist etwas passiert?", fragte er nach. „Reine Vorsichtsmaßnahme", antwortete der zweite Mann. „Aber keine Angst, es ist wirklich nur zur Sicherheit." „Also kommt man heute nicht in den Park rein?", hakte Lasse noch einmal nach. Die beiden Männer schüttelten den Kopf.

„Es wäre auch besser, ihr geht jetzt", schlug einer von ihnen vor. „Dass ihr jetzt umsonst gekommen seid, tut mir leid, aber daran können wir, wie bereits gesagt, nichts ändern." Die drei Jugendlichen wechselten schnell einen Blick. Dann waren sie sich einig. „Da werden wir dann mal wieder gehen", erklärte Benno. „Einen schönen Tag noch."

„Danke, ebenso", erwiderte der erste Mann. Die drei entfernten sich vom Eingang, beschleunigten doch dann, bis sie schließlich zum Rand des Parks rannten. „Stopp!", rief Avli auf einmal. Sie bremsten und blieben stehen. Benno setzte den Rucksack ab und Avli sprang heraus. „Ihr wollt doch jetzt nicht wirklich zurück zum Schloss gehen?"

Der kleine Drache sah abwartend von einem zum anderen. Er verschränkte dabei die Arme und hatte einen skeptischen Blick aufgesetzt. „Uns bleibt ja nichts Anderes übrig", erklärte Dorothea. „Mir war das gleich komisch. Ich habe wenig Lust, mich in ein Terrain zu begeben, in dem ich mich schon am Eingang nicht wohl fühle."

„Und da wollt ihr jetzt wirklich einfach so zurückkehren und nichts unternehmen?" Avli hörte sich schon fast ein bisschen empört an. „Was sollen wir denn machen? Die beiden hatten Waffen, mit denen ist bestimmt nicht zu spaßen", erwiderte Lasse. „Außerdem sahen die so aus, als könnten sie selbst einen Stein durchbrechen." „Selbst wenn, ihr wisst doch nicht, was mit Sylvain los ist", diskutierte Avli. „Wer weiß, was da vor sich geht. Ich bin mir sicher, der schwarze Jeep und die beiden Männer am Eingang bedeuten nichts Gutes."

„Wir kommen aber auch auf andere Art und Weise nicht in den Park hinein", erklärte Benno. „Rundherum ist nichts als Wiese und da werden wir doch sofort gesehen. Außerdem wissen wir ja nicht einmal, wo sich noch ein Eingang befindet und ob der nicht auch bewacht ist. Und dann, wenn wir erstmal drin sind, haben wir ja immer noch keine Ahnung, wo sich Sylvain und die anderen aufhalten könnten. Viel haben wir bisher nicht gesehen. Also wenn ihr mich fragt, so kommen wir nicht weiter."

„Aber wenn ihr im Schloss herum hockt und euch den Kopf zerbrecht, dann ja?", fragte Avli wütend. Der kleine Drache regte sich auf. „Wo ist denn nur euer Kampfgeist geblieben? Ihr wollt herausfinden, was hier vor sich geht und nutzt eure Möglichkeiten nicht?" „Wie willst du denn herausfinden, was hier vor sich geht? Sherlock Avli?", fragte Dorothea genauso bissig zurück. „Lasst das mal meine Sorge sein", verkündete der Drache. „Ich bin gleich wieder da."

Schon lief er los und war im kniehohen Gras der Wiese verschwunden. „Hoffentlich bedeutet gleich nicht dasselbe wie in drei Stunden. Dann haben wir ziemlich Pech, was das Wetter angeht", meinte Dorothea mit einem Blick in den Himmel.

Das Warten sollte sich jedoch lohnen...

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