SECHS

SECHS

„Warum bist du eigentlich hier?", fragte Avli Amil, nachdem er mehrere Pfoten voll weiterer Erdnüsse gegessen hatte. „Weil...", wollte Benno antworten, aber ihm fiel keine richtige Antwort ein. Warum war er eigentlich hier? Onkel Mattse hatte gefragt, ob Benno ein paar Tage bei ihm verbringen wolle und er hatte einfach zugesagt. Seine Freunde waren über die Sommerferien verreist und so war ein Treffen oder eine kleine Party fast unmöglich, weil immer jemand weg war.

Also hatte er seine Koffer gepackt und in letzter Sekunde hatte sich ergeben, dass Lasse mit nach Belfast kam. Benno hatte ihn seit den Winterferien, die schon über ein halbes Jahr zurücklagen, nicht mehr gesehen und so hatten die beiden beschlossen, vier Wochen hier in Belfast zu erbringen. Keiner ahnte, was sie hier erwarten würde.

Einen sprechen, Erdnüsse-liebenden Drachen hatte sich Benno erst recht nicht vorgestellt. „Ich höre?", forderte Avli seine Antwort. „Keine Ahnung", gab der Junge zu. „Eigentlich bin ich nur wegen meinem Onkel hier." „Du meinst den Sohn des alten, schrulligen Mannes?", fragte Avli. „Wenn er wirklich so alt und schrullig war wie du sagst, dann meine ich den", antwortete Benno. „Und wie er alt und schrullig war", sagte Avli bestimmt. „Ich meine, er war über siebzig, für einen Menschen ist das doch alt. Und wer schreibt denn sein Leben lang als Beruf Geschichten? Ich bitte dich!"

„Jedem das seine", meinte Benno. „Wenn er es gern getan hat?" Avli nickte bestätigend. „Und wie er es gerne gemacht hat", stimmte er dem Jungen zu. „Aber leider wird er meine und viele andere Geschichten nun nicht mehr zu Ende schreiben." „Du hast ja für die nächsten vier Wochen erstmal uns", meinte Benno. „Lasse und mich. Vielleicht kannst du mit uns was unternehmen. Du könntest uns das Schloss zeigen. Den Park auch. Am besten alles. Immerhin wohnst du ja schon lange hier, habe ich Recht?"

„Das könnte ich tatsächlich machen", staunte Avli. „Seit Jahren hatte ich schon keine sinnvolle Beschäftigung mehr. Aber wer ist Lasse?" „Mein bester Kumpel. Er wohnt eigentlich in den USA, aber da er jetzt auch Ferien hat, machen wir hier sozusagen Urlaub. Sein Zimmer ist das gegenüber", erklärte Benno. „Ah, das Zimmer der Gräfin", sagte Avli. „Der Gräfin?", wiederholte Benno. „Klar, sonst gäbe es ja deinen Onkel Mattse nicht", erklärte der Drache. „Sie hat den Grafen geheiratet, als er schon ein Mann Ende der vierziger war. Kurz darauf ist dein Onkel Mattse geboren. Ein paar Jahre herrschte hier Friede, Freude, Käsekuchen, aber dann ist die Gräfin ausgezogen. Was mit ihr passiert ist, weiß ich nicht. Als Matthias mit der Schule fertig war, ist er auch auf einmal verschwunden. Er war immer mal hier, aber das kam selten vor. Jetzt ist der Graf gestorben und sein Sohn ist auf einmal wieder da."

„Heißt es nicht Friede, Freude, Eierkuchen?", fragte Benno. „Ich mag Käsekuchen lieber", verkündete Avli. „Vor allem wenn Ludmilla ihn bäckt." „Vielleicht bitte ich sie, mal wieder einen Käsekuchen zu backen", meinte Benno augenzwinkernd. „Ohja, das wäre nett!", strahlte Avli. „Dafür zeige ich euch das Schloss auch zwei Mal. Wollen wir gleich los? Es gibt viel zu sehen." „Wir haben vier Wochen Zeit, bleib ruhig", besänftigte der Junge ihn. „Aber ein bisschen herumführen könntest du uns schon."

Benno stand auf und lief zur Tür. „Kannst du mir vielleicht helfen?", rief auf einmal eine Stimme. Der Junge drehte sich um. Avli stand an der Bettkannte und sah hinunter. „Wenn ich da runterspringe, brechen meine Flügel ab." „Du musst doch auch irgendwie hochgekommen sein", erwiderte Benno. „Klettern kann ich", erklärte Avli. „Und sonst habe ich immer ein Kissen heruntergeworfen und bin drauf gesprungen. Aber heute Morgen hat Ludmilla ja aufgeräumt." Benno lief noch einmal zum Bett, hielt Avli die Hand hin und der Drachen kletterte darauf. „Puh, du bist ganz schön schwer", meinte Benno und hob und senkte die Hand wie beim Gewichtheben.

„Du bist doch sportlich", erwiderte Avli unbeeindruckt. „Wie man es nimmt", meinte Benno und ging, mit Avli auf der Hand, zur Tür. Auf dem Flur setzte er den Drachen wieder ab. „Warte kurz, sonst kriegt Lasse den Schreck seines Lebens", vermutete der Junge. „Du hast ihn ja erstaunlich locker weggesteckt", sagte Avli anerkennend.

„Nun ja, ich hatte schon mit irgendwas Verrücktem gerechnet", gab Benno zu. „Wenn es nun ein kleiner, dicker Drache ist, bin ich beruhigt." „Das ‚dicker' habe ich überhört", beschwerte sich Avli und stemmte die kleinen Arme in die Hüfte. Benno klopfte an und als Lasse „Kannst reinkommen!" rief, drückte er die Klinke nach unten und trat ein. Lasse saß auf einem Stuhl an einem runden Tisch und tippte auf seinem Handy herum.

„Wem schreibst du?", wollte Benno wissen. Er versuchte einen Blick auf das Display zu werfen, aber Lasse schaltete den Bildschirm schnell schwarz. Viel mehr als einen Namen hatte Benno nicht erkennen können. „Wer ist denn Alicia?", fragte Benno. „Das fragt er noch!", stöhnt Avli theatralisch auf und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ist doch klar, wenn er das Handy so schnell ausschaltet, dass du nichts sehen kannst."

„Jaja, ist ja gut", meinte Benno. Lasse starrte den Drachen an und wusste anscheinend nicht, was er denken sollte. „Darf ich vorstellen? Das ist AvliAmil", verkündete Benno. „Du bist doch verrückt", rief Lasse. „Soll das ein schlechter Scherz sein? Du kommst hier mit einem Drachen an?" Es dauerte eine Weile, bis Avli und Benno erklärt hatten, dass sie sich zufällig begegnet waren und bis vor zehn Minuten der eine mit dem anderen nichts zu tun hatte.

„Naja, eigentlich ist so ein Drachen ja ziemlich cool", meinte Lasse. Er hatte Avli ein paar Gummibärchen gegeben, die der kleine Drache dankbar angenommen hatte. „Das dürfen wir dann aber keinem erzählen", flüsterte Lasse Benno zu, als Avli genüsslich an einem Gummibärchen kaute. „Sonst halten sie uns für verrückt."

„Seid ihr das nicht?", fragte Avli, ohne aufzublicken. Einen Moment lang starrten die beiden Jungen ihn fassungslos an. „Der Graf hat uns Drachen ein feines Gehör verpasst. Euer Flüstern ist so laut wie Schreien, also macht es keinen Unterschied. Ich höre euch trotzdem", erklärte er. „Aber warum sollt ihr denn nicht verrückt sein? Man muss verrückt sein, um vier Wochen im verregneten Belfast in einem herunter gekommen Schloss, in dem es kleine Drachen gibt, zu verbringen. Warum seid ihr nicht am Meer so wie alle eure anderen Freunde auch? Weil ihr verrückt seid."

„Du könntest Recht haben", stimmte ihm Lasse grinsend zu. „Aber ich habe ebenso Recht, wenn ich sage, dass du nicht alle meine Gummibärchen essen solltest. Eigentlich waren die für mich bestimmt. Und du wirst nur noch dicker." „Danke", meinte Avli gekränkt. „Ihr beiden habt es ja nötig, uns kleine, dicke Drachen zu diskriminieren."

„Das war allerhöchstens ein wenig necken", lenkte Benno versöhnend ein. „Die große und die kleine Bohnenstange", erwiderte Avli und musste plötzlich lachen. „Ich glaube, ich habe Spitznahmen für euch gefunden." Er spitzte die Ohren. „Ich glaube, da rollt gerade ein Auto über den Kiesweg zum Schloss", verkündete er. „Vielleicht ist das Matthias."

„Ludmilla sagte ja, dass Onkel Mattse jeden Moment zurückkommen müsste", meinte Benno. „Vielleicht ist er das!" Die beiden Jungen machten sich auf den Weg zur Eingangshalle. Da Avli sich aber beschwerte, dass er mit den großen Schritten nicht mithalten konnte, nahm Benno ihn wieder auf den Arm.

Doch sobald sie sich der Eingangshalle näherten, verwandelte sich Avli in Bennos Hand zu einer Statue aus Stein. Jetzt sah sie so aus wie eine der Abbildungen auf der Holztafel in Bennos Zimmer. Der Junge fragte sich, ob der Graf wirklich so verrückt gewesen war, ein ganzes Zimmer mit Figuren aus einer seiner Geschichten zu schmücken. Sie würden es herausfinden. „Ich bin gespannt, deinen Onkel Mattse kennen zu lernen", meinte Lasse, als sie die Treppe hinunterliefen.

Der Junge sollte gespannt bleiben, wen er in den nächsten Wochen noch alles so kennen lernen würde...

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