NEUN
NEUN
"Das viele Papier", staunte Lasse. "So viel würde ich im Leben nicht beschreiben." "Das ist ja gerade mal sein Arbeitszimmer", meinte Benno. "Ich bin mir sicher, über das gesamte Schloss verteilt gibt es noch Unmengen von Papier." "Die armen Bäume", sagte Avli mitleidig. "Was sucht ihr hier? Etwas Bestimmtes?"
"Eigentlich wollte ich mir hier nur einmal umsehen", antwortete Benno. "Na wenn das so ist", überlegte Avli, "dann störe ich euch nicht weiter. Unten in der Speisekammer warten neue Erdnuss-Vorräte auf mich." "Dann lass sie mal nicht zu lange warten", stimme ihm Lasse zu, "sonst sind sie weg."
"Ich bin schon verschwunden", verabschiedete sich der kleine Drache. Die beiden Jungen blieben alleine im Schreibzimmer des Grafen zurück. "Ob hier noch alles so aussieht, wie der Graf es zurück gelassen hat?", fragte Lasse. "Kann gut möglich sein", überlegte Benno. "Ludmilla hatte jedoch nichts dagegen, dass wir uns umsehen. Also wird es schon in Ordnung sein." "Der Graf kann ja auch nichts mehr dagegen unternehmen", meinte Lasse. "Oder soll er einen Blitz schicken als Zeichen, dass wir seine Arbeit in Ruhe lassen sollen?"
"Hör mir auf mit Blitzen, ich bin froh, dass es im Moment mal nicht nach Gewitter aussieht", erwiderte Benno. "Und wir haben ja auch nicht vor, seine Arbeit zu verunstalten. Was soll schon Schlimmes daran sein?" "Vielleicht finden wir ein unveröffentlichtes Manuskript", vermutete Lasse. "Dein Onkel hat doch erzählt, dass der Verlag sehr am Nachlass des Grafen interessiert sei." "Alles Menschen, die nur das Geld sehen", winkte Benno ab. Der Junge ging zum Schreibtisch und öffnete eine der Schubladen.
"Der Graf hat in seinem Testament verfügt, dass nur ausgewählte Werke noch veröffentlicht werden könnten. Die Liste dieser Werke ist nicht sehr lang und ich glaube nicht, dass der Verlag damit zufrieden wäre." "Vielleicht ist es auch besser so", stimme Lasse zu. "Immerhin hat der Graf lange an diesen Büchern geschrieben. Jetzt ist er nicht mehr hier und der Verlag würde das Geld in die eigenen Taschen stecken."
"Ich sag doch, das sind alles nur Menschen, die auf das Geld aus sind", wiederholte sich Benno. Er nahm einen Stapel Blätter und Hefte aus der Schublade. "Woran ist der Graf eigentlich gestorben?", fragte Lasse. "Herzinfarkt", antwortete Benno. "Eine ganz natürliche Todesursache. Das wäre jetzt die Krönung für Onkel Mattse, wenn die Polizei auch noch hier herum stromern würde, weil der Graf ermordet wurde. Er hat geraucht und war krank, seine Medikamente hat er laut Ludmilla nur sehr unregelmäßig genommen. Da war es, so traurig wie es vielleicht sein mag, abzusehen."
"Der Aschebecher steht noch auf der Fensterbank", stellte Lasse fest. Er öffnete eine der Fenstertüren und trat heraus auf den Balkon. Die kühle Morgenluft kam herein. "Gibt es draußen was zu sehen?", fragte Benno. "Wenn du heute schon mal aus dem Fenster geguckt hättest, würdest du wissen, dass es sehr neblig draußen ist", antwortete Lasse von draußen.
Die aufgehende Sonne konnte den Nebel nicht durchdringen, stattdessen erleuchtete sie ihn in orangenen Farbtönen. Die beiden knorrigen Bäume vom Vorplatz des Schlosses ragten als Silhouette in die Szenerie herein. Vom rosenbegrenzten Weg waren nur wenige Meter zu sehen, bevor ihn die farbige Nebelwand verschlang. Die Luft war angenehm, nicht so drückend wie am Abend zuvor. "Sieht so aus, als würden wir heute einmal von Regen verschont", vermutete Lasse und stütze sich auf das Geländer. Es knarrte, aber es hielt dem Gewicht des Jungen dennoch stand. "Wenn der Nebel sich verzieht, könnte es vielleicht ein sonniger Tag werden."
"Ludmilla würde sich freuen", vermutete Benno, der im Zimmer immer noch den Stapel aus der Schublade durchwühlte. "Du wirst es nicht glauben, was hier alles für Schriftstücke liegen." Lasse ging wieder nach drinnen, um Bennos Entdeckungen anzusehen. "Teilweise sind hier seitenlange Exposés, zwei fast fertige Manuskripte sind auch dabei. Der Rest sind Blätter, die eine Idee anscheinend nur kurz umreißen."
"Und das alles in einer Schublade?", fragte Lasse. " Ich vermute, dass wir in den anderen nicht viel anderes Material finden werden." "Vielleicht finden wir ja sogar Avlis Geschichte", vermutete Benno. "Meinst du?", zweifelte Lasse. "Er hat doch erzählt, dass er die Hauptfigur einer Geschichte des Grafen war", erklärte Benno.
"Ich glaube nicht alles, was diese Kreatur erzählt", meinte Lasse nachdenklich. "Hast du vorher schon einmal einen Drachen getroffen, der behauptet, einem unfertigen Buch entsprungen zu sein?" "Ich bin vorher überhaupt noch keinem Drachen begegnet", antwortete Benno. "Gerade das ist es ja!", behauptete Lasse. "Bisher kannten wir sowas nur aus Büchern und Filmen. Dann kommen wir hierher und auf einmal steht so ein Drache vor uns. Zwar einer, der weder wirklich fliegen, noch wahrscheinlich Feuer speien kann, aber ein Drache. Ich fasse das nicht, das übersteigt meine geistigen Möglichkeiten."
"Ich denke gar nicht erst darüber nach", meinte Benno. "Manchmal muss man die Dinge so akzeptieren wie sie sind. Und wenn hier halt ein erdnussliebender Drache herumspaziert, dann ist es eben so. Das Schloss verbirgt noch mehr Geheimnisse, du wirst sehen." Es klopfte an die Tür. "Ich dachte mir schon, dass ihr hier seid."
Onkel Mattse betrat den Raum. "Wie ich sehe, seid ihr schon dabei, das Werk meines Vaters zu durchstöbern." "Ludmilla hat es erlaubt", erklärte Benno entschuldigend. "Das meinte ich nicht so", widersprach Onkel Mattse. "Der Verlag hat mich darauf angesprochen, ob ich ihm ein paar fertige Manuskripte übergeben könnte. Er möchte gerne noch diese Werke ins Programm aufnehmen, da der Graf ein bedeutender Autor des Verlags gewesen sei." "Das ist doch nur eine weniger offensichtlichere Ausdrucksweise, dass sie eine Möglichkeit gefunden haben, den Nachlass zu Geld zu machen, oder?", wollte Benno wissen.
"So drastisch wollte ich es nicht ausdrücken, aber du hast Recht", stimme ihm Onkel Mattse zu. Er lehnte sich in den Türrahmen und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Einen Moment schien er in Erinnerungen zu schwelgen, dann richtete er den Blick wieder auf die beiden Jungen, die noch immer am Schreibtisch standen. "Nichtsdestotrotz, wir brauchen das Geld zur Renovierung. Ich möchte ungern einen Kredit aufnehmen, denn der wird sehr schwierig wieder abzuzahlen sein. Der Verlag bietet eine nicht gerade geringe Summe für sieben Werke des Grafen. Ich bin sicher, dass hier noch weitaus mehr fertige Bücher herumliegen. Meint ihr nicht auch?", erzählte er.
"Zwei haben wir schon gefunden", sagte Benno. "Ich möcht euch darum bitten, alle Fächer in diesem Raum zu durchstöbern", erklärte Onkel Mattse. "Ich habe leider keine Zeit dafür. Gleich treffe ich mich mit einem Architekten, der sich den Ostflügel des Schlosses mal ansehen soll. Mein Anliegen wäre, dass ihr alles sortiert, was ihr hier findet. Ideenblätter, angefangene Geschichten, Exposés, fertige Manuskripte. Dann könntet ihr Listen erstellen, mit dem Titel des jeweiligen Projektes und ob es sich lohnt, dieses zu veröffentlichen."
Die beiden Jungen sahen Onkel Mattse an, unwissend, ob er es ernst meinte oder nicht. "Sicher, das ist viel Arbeit", lenkte dieser ein, "und auch nicht an einem Tag zu erledigen. Ihr könnt ja jeden Tag einen Teil machen, dann habt ihr immer noch genug Freizeit. Und ich verspreche euch, dass ihr einen Teil des Geldes bekommt, immerhin ist es eine ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe."
"Du willst uns also damit beauftragen, die Werke für den Verlag auszusuchen und somit zu entscheiden, welche veröffentlicht werden?", fasste Benno zusammen. "So ist es. Ich möchte nicht, dass hier Menschen vom Verlag herumstöbern. Und ihr könnt doch lesen, das sollte kein Problem sein."
Onkel Mattse grinste. Lasse blies die Backen auf und ließ die Luft langsam entweichen. "Ihr habt doch vier Wochen Zeit", meinte Onkel Mattse. "Und ich bin sicher, diese Aufgabe ist wesentlich interessanter als mit dem Architekten über das Trägerwerk der Zwischendecke zu sprechen, habe ich Recht?"
"Und ob", stimmte ihm Benno zu. "Ihr könnt zum Erstellen der Listen auch den Laptop des Grafen benutzen. Ludmilla hat ihn unten im Speisesaal. Übrigens: sie hat unten in der Speisekammer Schokolade und anderen Süßkram bereitgestellt. Da geht die Arbeit doch gleich leichter von der Hand, oder?" Damit verließ Onkel Mattse den Raum. Seine Schritte auf dem Flur waren nach wenigen Sekunden verklungen.
"Wenn sie nicht vorher von einem kleinen hungrigen Drachen verputzt werden", sagte Lasse und kratzte sich am Kopf. "Also, ich inspiziere erstmal die Speisekammer und schaue nach unserem kleinen Hausdrachen und du räumst erstmal alle Schubladen aus. Dann arbeiten wir uns Stück für Stück durch, einverstanden?"
Was sollte der Junge auch erwidern. Er zog eine weitere Schublade des Schreibtisches auf und nahm seufzend den Stapel Papier heraus. Einige der Blätter waren schon mächtig vergilbt, andere schienen erst vor wenigen Wochen beschrieben worden zu sein. Benno war schon gespannt, welche Geschichten in den Schubladen und Schränken warteten.
Doch nicht nur dort sollte er in nächster Zeit Entdeckungen machen...
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