FÜNFUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
Es rumorte etwas. Benno öffnete die Augen und brauchte einen Moment zu realisieren, was ihn geweckt hatte. Er hörte ein Geräusch, konnte jedoch nicht deuten, woher es kam. Der Junge setzte sich auf, schaltet die Lampe neben dem Bett ein und sah auf den Wecker. Es war zwei Uhr, mitten in der Nacht. Avli, der vorhin auf dem Teppich vor dem Bett eingeschlafen war, war verschwunden. Vielleicht saß der kleine Drache nur wieder in einer Ecke und griff im Sekundentakt in eine Tüte Erdnüsse.
Das Geräusch klang jedoch weder nach Erdnuss-Tüte noch nach Avli selbst. Es musste also etwas Anderes sein. Er schlug die Decke zur Seite und schlüpfte in die Hausschuhe. Ludmilla hatte ihm und Lasse ein Paar gegeben und ihnen somit ausdrücklich verboten, nachts barfuß herum zu laufen. Zuerst sah er sich um Zimmer um.
Die Heizung gab kein Geräusch von sich. Auch im Bad fand Benno nichts Verdächtiges. Im Fenster spiegelte sich nur der Schein der Lampe, ein paar dunkle Umrisse von Bäumen konnte er erkennen, die sich im Wind hin und her wiegten. Bestimmt würde es bald wieder ein Gewitter geben. Das Geräusch erklang schon wieder.
Langsam öffnete Benno die Tür und sah hinaus auf den Flur. Dieser lag im Dunkeln und schien nicht die Ursache für das Geräusch zu sein. Da bemerkte der Junge die offene Tür zum Büro des Grafen. Sie war nur angelehnt, ein dünner Streifen Licht schien hervor. Wer mochte wohl zu dieser Zeit im Büro sein? Vor allem, was hatte diese Person dann dort zu suchen. Einbrecher konnten es bestimmt nicht sein. Louis schloss vor dem Schlafen gehen sorgfältig alle Türen ab.
Abgeschlossene Türen stellten jedoch nicht immer eine Hürde für Einbrecher dar, trotzdem redete sich Benno ein, dass es unwahrscheinlich war, sie hier anzutreffen. Bemüht, keinen Laut beim Auftreten zu verursachen, lief er die wenigen Schritte bis zum Büro. Langsam drückte er die Tür weiter auf, bis er einen Blick hineinwerfen konnte.
Die Schreibtischbeleuchtung hüllte das Zimmer in ein dämmriges Licht. Benno erkannte den Schatten einer Person, die anscheinend mitten im Raum stand und ein Blatt Papier in der Hand hielt. Er betrat den Raum und sofort ertönte ein spitzer Schrei. „Dorothea?", fragte Benno. Das Mädchen stand zwischen den Stapeln von Manuskripten auf dem Boden und sah ihn mit schreck geweiteten Augen an. „Keine Angst, ich bin es nur", sagte er.
„Das hättest du mir auch ruhig eher sagen können", beschwerte sich Dorothea. Sie bückte sich, um die Blätter aufzuheben, die sie vor Schreck hatte fallen lassen. „Was machst du hier?", fragte der Junge. „Ich habe eine Vermutung", erklärte Dorothea. „Die da wäre?", wollte Benno wissen. „Du erklärst mich für verrückt, wenn ich dir das sage", erwiderte sie. „Ich halte mich selbst schon für verrückt, viel schlimmer kann es also nicht werden", meinte er. Dorothea setze sich mit einem schweren Seufzer auf den Boden und sortierte die Blätter wieder in die richtige Reihenfolge. Benno setzte sich ihr gegenüber und wartete auf ihre Erklärung.
„Ich bin mir sicher, dass meine Vermutung dem noch die Krone aufsetzen wird", vermutete Dorothea. „Da bin ich jetzt aber gespannt." Benno ließ den Blick über das viele Papier im Raum schweifen. Das Mädchen strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Vor ein paar Jahren hat mich der Graf gefragt, was ich von seiner Idee für eine Geschichte halte", erklärte sie. „Ich war damals sieben oder acht Jahre alt, auf jeden Fall freute ich mich immer, wenn mich der Graf an seinen Ideen teilhaben ließ.
Er erzählte sonst nie jemandem etwas davon, wenn er nicht gerade ein Manuskript beendet hatte. Damals rief er mich zu sich und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, wie ein Freizeitpark aussieht, den schon seit Jahren keiner besucht hat. Ich habe ihn dann gefragt, warum es denn einen Freizeitpark gibt, den niemand besucht. Der Graf meinte dann, wenn vielleicht ein böser Zauber über dem Park liegt, der für das alles verantwortlich ist."
„Wieso erinnerst du dich so genau an dieses Gespräch?", wollte Benno wissen. „Ich habe es schon danach fast wieder vergessen gehabt. Der Graf hat danach nie wieder etwas von der Geschichte erwähnt. Ein paar Wochen lang hatte ich gehofft, dass er mit der Nachricht kommt, dass er dieses Buch fertig hat. Ich weiß nicht warum, aber mir gefiel die Idee mit dem Zauber und dem Freizeitpark. Da er sie aber nie wieder erwähnt hat, habe ich sie auch irgendwann vergessen. Bis heute. Ich habe auf einmal geträumt, wie mir der Graf damals die Idee ins Ohr geflüstert hat."
„Du hast geträumt?", fragte Benno. „Zum ersten Mal seit Jahren war ich nicht in meiner Traumwelt", antwortete Dorothea und lächelte. „Es war so schön, endlich mal nicht in dieser scheinbar heilen Welt aufzuwachen. Nachdem sie vor zwei Nächten abgestürzt ist, habe ich sie nicht wieder betreten können. Es ist einfach nur schwarz. Bis heute auf einmal dieser Traum da war."
„Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum du wegen diesem Gespräch jetzt mitten in der Nacht hier im Büro sitzt", sagte Benno. „Ich suche diese Geschichte. Ich bin mir ganz sicher, dass der Graf sie aufgeschrieben hat. Selbst wenn es nur ein Exposé oder nur ein Kapitel oder etwas ist, aber ich glaube fest, dass diese Idee auf irgendeine Art und Weise ihren Weg aufs Papier gefunden hat", erklärte Dorothea.
„Welche Geschichte?", fragte in dem Moment Lasse. Verschlafen stand er in der Tür und musterte die beiden, wie sie da auf dem Boden saßen. „Könnt ihr euch nicht irgendwie am Tag oder so unterhalten? Zu Zeiten, wo man anderen Menschen nicht gerade den Schlaf raubt?" „Entschuldige", sagte Dorothe lächelnd. „Setz dich doch zu uns."
„Geht es um etwas Wichtiges?", wollte Lasse wissen. „Sonst würden wir auch nicht hier sitzen, wenn es nicht wichtig wäre", erklärte Dorothea. „Na, dann lasst mal hören", sagte Lasse und ließ sich auf den Boden fallen. In Kurzform erklärte das Mädchen noch einmal das, was sie Benno bisher erzählt hatte. „Ihr habt ja schon einen Teil der Geschichten sortiert, war da sowas schon dabei?", wollte sie dann wissen.
Benno und Lasse verneinten gleichzeitig. Zur Sicherheit ging Lasse noch einmal die Liste durch, auf dem sie den Titel und die kurze Inhaltsangabe notiert hatten. „Dann müssen wir wohl weiter suchen", sagte das Mädchen. „Ich will diese Geschichte unbedingt finden. Vielleicht bestätigt sich meine Vermutung dann." „Welche Vermutung denn?", fragte Lasse. „Wenn wir sie finden, dann kann ich euch das sagen", antwortete Dorothea. Sie griff sich den nächsten Stapel und fing an, Blatt für Blatt durchzugehen.
„Wir wollten ja eigentlich bis Freitag fertig sein", meinte Benno. „Freitag ist seit zweieinhalb Stunden vorbei und wir haben gerade mal die Hälfte." „Wenn wir einmal dabei sind, können wir auch gleich mit der Arbeit weiter machen", erklärte Lasse. Eine Stunde verging, in der sie kurze Inhaltsangaben und Exposés durcharbeiteten, die der Graf irgendwann wahrscheinlich hatte zu ganzen Geschichten verarbeiten wollen.
Bis jetzt stellten sie jedoch nur eine knappe Zusammenfassung von dem dar, was später in tausenden von Worten geschehen sollte. Während die drei Jugendlichen auf dem Boden des Büros saßen, braute sich draußen ein weiteres Gewitter zusammen. Das bemerkten sie jedoch erst, als das Licht kurz zu flackern begann. „Stromschwankungen", erkläret Dorothea. „Das haben wir öfter bei Gewittern. Die Elektrik wird das leider nicht mehr lange mitmachen." Benno und Lasse sahen die Lampe skeptisch an, doch bis auf den kurzen Aussetzer verrichtete sie weiter ihren Dienst. Es war schon gegen halb vier, als Dorothea plötzlich aufschrie.
„Ich habe sie!", rief sie laut und sprang auf. In der Hand hielt sie zwei Blätter kariertem Papiers. „Sicher, dass das die Geschichte ist?", fragte Benno. Dorothea nickte eifrig, während sie die ersten Zeilen las. „Lass uns doch bitte auch an deinem Fund teilhaben", beschwerte sich Lasse. „Dann können wir vielleicht umso schneller wieder schlafen." Er gähnte. Dorothea las die ersten Worte laut vor. Es war eine Inhaltsangabe der Geschichte mit dem Titel „Sylvain und die Rache des Zauberers".
Von diesem Moment an war die Müdigkeit bei allen drei wie verflogen...
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