EINS

EINS

„Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?", fragte der Junge und sah den Fahrer zweifelnd an. „Es wirkt abschreckend", stimme er ihm zu. „Aber du bist ja nicht alleine hier." Der Junge nickte stumm und gab dem Taxifahrer einen Geldschein. Dann stieg er aus, nahm seine Koffer aus dem Kofferraum und verabschiedete sich.

Der Fußweg, falls es mal einer gewesen sein sollte, war von Unkraut überwuchert, das aus den Ritzen emporschoss und Moos bedeckte die meisten Steinplatten. Keine schöne Gegend. Die Villen rund herum sahen genauso aus wie der Fußweg, der sie alle verband. Eingeschlagene Fenster, verwahrloste Gärten, Tore, die entweder verrostet und schief in den Angeln hingen oder gar nicht mehr vorhanden waren. Früher war es sicher mal eine schöne Gegend gewesen. Genauso verhielt es sich mit dem Schloss, vor dem der Junge stand.

Er drehte sich um und betrachtete den verbogenen Gartenzaun. Das Tor quietschte erbärmlich, als er es öffnete. Der Kiesweg verbot es ihm, seine Koffer zu ziehen, also nahm er einen in jede Hand und schleppte sie bis vor das Portal. Die Rosenbeete, die den Weg säumten, sahen verwahrlost aus. Blüten hatten die Pflanzen anscheinend schon lange nicht mehr getrieben. Der Rasen war kniehoch und garantiert ein Paradies für sämtliches Ungeziefer.

Vor der Villa standen zwei hohe Bäume, die Schatten auf das Gebäude warfen. Von der Fassade bröckelte der Putz, der Stuck war vermoost und kaum noch zu erkennen, die Fenster machten ebenfalls keinen stabilen Eindruck. Die Betontreppe hatte Risse und kleine Teile bröckelten ab, als der Junge die drei Stufen hinaufging, um zu läuten. Falls die Elektrik in diesem Haus noch funktionierte, würde jemand die Tür öffnen und er würde nicht mehr so alleine sein.

Tatsächlich öffnete sich die Tür und eine kleine, rundlichere Frau lächelte ihn an. „Benno! Schön, dass du da bist, komm doch rein", sagte sie freudestrahlend. „Ich nehme dir die Koffer ab." „Kein Problem, das krieg ich schon alleine hin", erwiderte der Junge, Benno. Die Frau lächelte immer noch, als er die Koffer in der großen Eingangshalle abstellte.

Sie musste ihn erstmal umarmen und der Junge ließ es sich gefallen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich hier zu haben", sagte sie. „Ist ja gut Ludmilla", wehrte der Junge lachend ab. „Ich habe dich auch vermisst." Plötzlich erhellte sich die Eingangshalle. War der Himmel eben noch grau und wolkenverhangen gewesen, so kam jetzt die Sonne hindurch und tauchte das Gebäude in warmes, goldenes Licht.

„Kaum dass du da bist, schon geht die Sonne auf", freute sich Ludmilla. „Das liegt wohl eher an dir", gab Benno zurück. „Schleimer", kommentierte die Frau. „Was willst du zuerst machen? Soll ich dir das Schloss zeigen? Soll ich dir dein Zimmer zeigen, dass du dich ausruhen kannst? Oder willst du nicht lieber erstmal etwas essen? Wenn ich dich so angucke, könnte man meinen, dass dich der nächste Windstoß umhaut, so dünn wie du bist. Hier oben ist es oft stürmisch, das kann ich nicht verantworten. Also, zuerst wird etwas gegessen. Alles andere kann warten." Und damit hatte Benno sich entschieden, ohne sich entschieden zu haben.

***

„Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue, mal wieder Nudeln und Tomatensauce für dich kochen zu können", verkündete Ludmilla und wuchtete einen großen Topf voller roter Sauce auf den Tisch. „Der alte Graf wollte ja immer nur britisches Essen, da er ja zwei Jahrzehnte in Birmingham und Manchester verbracht hat."

„Ich kann bis heute nicht verstehen, warum er nicht auch nach London gegangen ist", überlegte Benno. „Die Klassenfahrt war so toll. Irgendwann reise ich nochmal nach London." „Der Graf mochte London nicht. London ist Allerweltsstadt, zwar besonders, aber nicht außergewöhnlich", erklärte Ludmilla. „In seinen Augen zumindest."

Sie brachte einen weiteren Topf voller Nudeln. „Was glaubst du, warum er sein Anwesen hier draußen, soweit ab vom Schuss, behalten hat? Die großen Zeiten für dieses Viertel sind vorbei. Früher war hier Schiffsbau als die vielen Villen in dieser Gegend gebaut wurden. Du siehst ja, was daraus geworden ist. Die meisten Funktionäre, Werftbetreiber und was nicht alles eine Villa hier besaß, waren alt geworden als der Graf hierherzog.

An einer Villa weitab vom Zentrum Belfasts hat keiner Interesse. Dieses Gebäude ist eines von zweien, das noch bewohnt wird. Alle anderen stehen bereits seit Jahrzehnten leer. Alle anderen, die nach Belfast ziehen, nehmen sich natürlich eine Wohnung in der Stadt. Zwischen der City und diesem Viertel hier liegen Welten. Der Graf aber mochte es hier, weil er in Ruhe schreiben konnte, aber für seine Bediensteten, also uns, ist es überhaupt nicht schön. Sicher, dem Trubel von Belfast kann man sich hier entziehen, doch um einkaufen zu fahren, braucht es eine halbe Stunde, bis man erstmal am Stadtrand ist."

Sie seufzte. „Aber was will man machen. Der Graf ist tot und jetzt mit deinem Onkel Mattse, also seinem Sohn, wird hier garantiert vieles anders." Noch einmal seufzte sie. „Willst du Nachschlag? Noch ist genug da. Du bist der erste, der hier isst. Die anderen Bediensteten und Onkel Mattse essen nachher erst", bot sie Benno an.

„Gerne", willigte der Junge ein und reichte Ludmilla seinen Teller. „Hat Onkel Mattse schon von seinen Plänen etwas erzählt?", wollte er wissen. „Pläne hat er", antwortete Ludmilla vage. „Aber die ändert er immer wieder um. Wenn er sagt, der Rittersaal soll renoviert werden, kommt fünf Minuten später heraus, dass die Elektrik im Eimer ist und erneuert werden muss. Wenn man aber die Wände anbohrt, könnte es sein, dass größere Brocken herausbrechen. Egal was er sagt, es kommt immer wieder etwas ans Licht, das seine Pläne über den Haufen wirft."

„Also eigentlich von Grund auf neu renovieren, oder?", schlug Benno vor. „Wie denn? Dein Onkel hat seine Weltreise-Pläne aufgegeben, um sich um das Schloss kümmern zu können", antwortete Ludmilla. „Und dann ist ja da noch das Testament. Das macht die ganze Sache noch schwieriger."

Wenn Ludmilla an dieser Stelle gewusst hätte, dass das Vermächtnis des Grafen noch viel weitreichendere Folgen mit sich bringen würde...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top