DREISSIG

DREISSIG

„Wollt ihr dann nicht wirklich mal ins Bett gehen?", fragte Louis. Er stand in der Tür des Büros und ließ den Blick über den Raum streifen. „Wir wollen hier endlich fertig werden", antwortete seine Schwester, die gar nicht von den Papierstapeln aufsah. „Ihr habt euer Abendessen in Rekordzeit verschlungen, damit ihr hier weiterarbeiten könnt?"

Louis schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr habt zwar Ferien, aber es ist schon zwei Uhr morgens." „Du kannst doch gerne schlagen gehen, wenn du das willst", sagte Dorothea. „Du musst uns nicht beaufsichtigen. Wir sind alt genug."

„Das glaube ich euch gerne, aber um Schlaf ist es bei der Jugend heute ja eh nicht mehr so gut gestellt", erklärte Louis. „Vor allem bei dir nicht, Dorothea." Er seufzte. „Wie dem auch sei. Ich versuche, noch eine Mütze voll Schlaf abzubekommen. Gute Nacht. Guten Morgen. Wie ihr wollt." Die drei murmelten ein kaum verständliches „Gute Nacht", dann waren sie wieder allein. „Dein Bruder weiß von deinen Problemen?", fragte Benno alarmiert, als Louis' Schritte auf dem Flur verklungen waren.

„Wenn ich träume, dann ist es genauso, als wenn ich wach wäre", erklärte das Mädchen. „Ich finde einfach keine Ruhe, schlafe spät ein, träume und wache am Morgen total aufgewühlt auf. Irgendwann fällt es dann auf, wenn ich immer halbschlafend beim Frühstück sitze und früh nicht aus dem Gang komme." „Aber er weiß nichts von der Traumwelt?", versicherte sich Lasse.

„Nein, natürlich nicht!", antwortete Dorothea fauchend. „Denkt ihr, ich erzähle ihm das?" Sie sackte wieder in sich zusammen. „Entschuldigt, aber das macht mich einfach irre. Ich war immer so froh, wenn ich aufwachen konnte. Und jetzt sind sie in meiner Welt, ein paar Kilometer entfernt. Sie werden mich ganz bestimmt finden."

„Keine Angst, wir sind ja bei dir", versprach Lasse. „Jedenfalls habe ich weder Louis, noch Giorgio oder Ludmilla davon erzählt", stellte das Mädchen noch einmal klar. „Ich habe es einfach darauf geschoben, dass ich so viel für die Schule zu tun hatte und zum Glück haben sie mir das abgekauft."

„Ich habe sie!", rief Benno auf einmal, worauf von drei Seiten ein eindringliches „Pssst!" kam. „Nicht so laut!", sagte Avli. „Du weißt nie, wer zuhört." „Welche Geschichte hast du gefunden?", fragte Lasse. „Ich bin mir sicher, dass es die Geschichte der Männer in Schwarz ist. Auch wenn sie nur aus drei Kapiteln besteht", erklärte Benno.

„Immerhin etwas", seufzte Dorothea und legte die beschriebenen Seiten auf das Schaubild auf dem Boden. „Jetzt fehlt nur noch die Geschichte von Quintessa und Joris", stellte sie fest. „Die finden wir auch noch", war sich Lasse sicher. Die drei waren, mit Avlis Hilfe, schneller vorangekommen als gedacht. Wobei sie jetzt nicht nur das Ziel vor Augen hatten, weitere Bücher für den Verlag zu finden, sondern das Rätsel um die Entdeckungen zu lösen, was in Bennos Augen ein weitaus größerer Ansporn war. Inzwischen hatten sie nur noch zwei kleinere Stapel vor sich. Die Listen waren schon fast vervollständigt.

„Da soll der Verlag dann einfach selbst auswählen, was sie nehmen wollen", hatte Lasse entschieden. Sie überflogen die beschriebenen Seiten und wenn nicht das richtige dabei war, machten sie einen Vermerk in die Liste und nahmen sich das nächste Werk vor. „Hier ist es!" Aufgeregt durchblätterte Dorothea ein paar beschriebene Blätter.

„Das ist Quintessas und Joris' Geschichte!" „Lies' vor", forderte Lasse sie auf. Dorothea las das Kapitel vor. „Die beiden werden doch aber nur mal kurz erwähnt und dann auch nur ihre Namen", stellte Benno fest. „Aber die Rahmenhandlung ist doch genau dieselbe! Der Ball, den der Graf beschreibt, den Saal, die Gäste, die Kostüme, das Orchester...", erwiderte Dorothea. „Eine andere Geschichte haben wir doch bisher nicht gefunden. Und wer sagt denn, dass wir immer nur die Hauptfiguren treffen müssen? Vielleicht war es Zufall, dass wir Quintessa und Joris begegnet sind?"

„Dann hätten wir jetzt alle Geschichten komplett", stellte Lasse fest. „Wir haben Avlis Kapitel, Sylvains Geschichte, ein paar Kapitel für die Geschichte der Männer in Schwarz, einige Ausschnitte des Buches, in dem Quintessa und Joris mitspielten und schließlich ein halbfertiges Manuskript über Dorotheas Traumwelt.

„Und was schlussfolgern wir daraus?", fragte Benno. „Keine der Geschichten wurde je fertig geschrieben", meinte Dorothea Gedanken verloren. „Es sind alles angefangene Werke, keines davon hat ein richtiges Ende, einige ja nicht einmal einen richtigen Anfang." Die drei Jugendlichen und der kleine Drache schwiegen. „Die Menschen und die Orte, die wir kennen gelernt haben, entsprechen genau dem, was der Graf geschrieben hat", sagte Benno. „Sie sind also wirklich die realgewordenen Geschichten."

„Dabei haben sie wirklich alles übernommen, wie es der Graf sich ausgedacht hat", staunte Dorothea. „Die ersten Kapitel über die Traumwelt gleichen genau dem, was ich damals erlebt habe. Auch die Handlung ist exakt dieselbe." „Die Geschichten werden also Stück für Stück real." Nachdenklich betrachtete Lasse die Manuskripte, als würden sie etwas Schädliches darstellen. „Fragt sich nur, wie es mit ihnen jetzt weitergeht", überlegte Benno. „Wenn die Geschichten auf dem Papier einfach enden, gehen sie ja auch in Wirklichkeit nicht weiter. Die Figuren wissen ja gar nicht, wie sie handeln sollen, wenn es keine Vorlage dafür gibt."

„Das wird wahrscheinlich der springende Punkt sein", führte Dorothea die Überlegung fort. „Quintessa dreht langsam aber sicher durch, weil es einfach nicht mehr weitergeht. Jetzt übertragen wir das mal auf andere Figuren. Was würden beispielsweise gefährliche, bewaffnete Menschen in schwarzer Kleidung machen, wenn sie nicht mehr weiterkommen?" „Sich ihren eigenen Weg suchen", schlug Avli vor. „Ich würde auch nicht einsehen, immer nur ein und dasselbe zu machen. Das wäre mir zu langweilig."

„Also entwickeln die Figuren, die bereits erkannt haben, dass es in ihrem Leben als Buchcharakter nicht mehr weitergeht, ein Eigenleben", meinte Lasse. „Der Graf hat ihnen ein Ziel vor Augen geschrieben und das wollen sie jetzt erreichen. Nur eben auf ihre Art und Weise." „Das könnte doch aber auch mächtig schiefgehen", zweifelte Benno. „Denn wenn ich mir manche Geschichten so angucke, dürften es die Figuren in unserer Welt ziemlich schwer haben. In Dorotheas Welt kennt man keine Computer oder Handys. Oder geht man dort auch anders mit Menschen um."

„Wenn der Graf den Figuren Tiefe verpasst hat, sprich einen Charakter und etwas Intelligenz, dürfte es kein Problem darstellen, sich an unserer Welt anzupassen und unseren Fortschritt zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen", überlegte das Mädchen. „Und spätestens dann wird es brenzlig", sprach Avli.

Zusammen mit dem Donner, der in einiger Ferne wieder grollte, klangen die Worte wie eine düstere Prophezeiung, die nichts Gutes verhieß...

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