ACHTZEHN
ACHTZEHN
„Ich will ja jetzt nichts gegen deinen Großvater sagen", stellte Lasse fest, „aber der hatte doch wirklich sehr viel Langeweile, oder?" Das Büro war inzwischen nicht mehr wieder zu erkennen. Die beiden Jungen hatten die Geschichten eigentlich schon sortieren wollen, aber sie entdeckten immer noch Fächer in den Schränken, wo ebenfalls noch beschriebenes Papier lag. Um irgendwie ein bisschen Ordnung hinein zu kriegen, begann Benno, das Papier zu stapeln.
„Wie kommst du darauf?", erwiderte Benno sarkastisch. „Wir müssen doch sehr viel Langeweile haben, wenn wir uns das hier zumuten." Mit das hier meinte er die- inzwischen ein Dutzend- Stapel. „Hast du die jetzt einfach nur wild durcheinander gestapelt oder steckt da ein System dahinter?", wollte Lasse wissen.
„Wenn ein System dahinter steckt, dann habe ich es mir nicht ausgedacht", antwortete Benno. „Inzwischen sind wir aber schon mal so weit, dass wir alle Schränke ausgeräumt haben. Ich hoffe nicht, dass der Graf noch irgendwo anders seine Werke gelagert hat." „Dein Onkel hat ja gesagt, dass wirklich alles hier untergebracht ist", erinnerte ihn Lasse. „Wir glauben einfach mal daran. Dann können wir vielleicht jetzt mit unserem eigentlichen Auftrag anfangen." Die Tür ging auf und Ludmilla kam herein.
„Bei welchen Wichteln muss ich mich denn bedanken, die über Nacht die Küche aufgeräumt haben?", fragte sie. „Mich hat fast der Schlag getroffen." „Na zum Glück nicht", erwiderte Benno. „Es war Dorotheas Idee", erklärte Lasse. „Wir haben nur mitgeholfen." „Ich bedanke mich trotzdem", sagte Ludmilla und strahlte fröhlich. „Das Aufräumen hätte mich heute den ganzen Tag gekostet, somit kann ich die Zeit für etwas anderes nutzen."
Sie ließ den Blick über die Papierstapel schweifen. „Braucht ihr vielleicht Hilfe?" „Wir bräuchten nur mehr Ablageplatz", überlegte Lasse. „Dorothea will uns auch schon helfen. Wenn dann vier Leute nach vier Systemen sortieren wollen, schaffen wir das nie. Der Graf hat vollste Arbeit geleistet." „Da kann ich Abhilfe schaffen", meinte Ludmilla. „Ich hab da was. Wartet mal einen Moment." Sie ging wieder. Lasse seufzte. „Irgendwie habe ich mir meine Ferien anders vorgestellt", meinte er. „Irgendwie... weniger aufwandreich."
„Also bis Freitag werden wir das nicht schaffen", stimmte ihm Benno zu. „Ich schlage vor, dass wir einfach Stapel für Stapel abarbeiten. Wenn wir es einmal in den Computer eingegeben haben, dann können wir es immer noch anders ordnen." „Eine andere Möglichkeit würde mich auch erstmal nicht einfallen", sagte Lasse. „Dann lass uns mal anfangen."
Die Haushälterin kam wieder in das Büro. Sie trug einen Stapel voller leerer, in einander gestapelter Kisten. „Da könnt ihr euch das Sortieren erleichtern", sagte sie. „In die eine Kiste legt ihr die fertigen Manuskripte, in die andere die angefangenen und so weiter. Und hiermit...", sie griff in eine der Kisten und holte Klarsichtfolien und Büroklammern heraus, „...könnt ihr die einzelnen Manuskripte zusammen halten. Da wird es bestimmt übersichtlicher." Sie gab alles Lasse, der es erst einmal auf den Schreibtisch, neben den Laptop stellte. „
Dankeschön", bedankte sich Benno. „Damit geht es vielleicht wirklich besser." „Wenn ihr Hilfe braucht", bot Ludmilla noch einmal ihre Unterstützung an, „ihr wisst ja, wo ihr mich findet." „Mach du lieber deine Arbeit", erwiderte Benno. „Du hast doch sicherlich genug zu tun, oder?" Ludmilla seufzte. „Leider ja...", antwortete sie. „Es gibt da noch so einige Räume hier, die müssten mal wieder sauber gemacht werden." Mit diesen Worten verschwand sie wieder. „Wie motiviert man sich am besten vor so einer Aufgabe?", fragte Lasse. „Am besten damit, dass man es irgendwann geschafft hat", antwortete Benno. „Oder fällt dir jetzt was besseres ein?"
***
Es klopfte. Langsam ging die Tür auf und Dorothea trat zaghaft ein. „Na, wie weit seid ihr?", fragte sie. Die beiden Jungen, die sich nach einer kurzen Mittagspause wieder in die Arbeit vertieft hatten, sahen erstaunt auf. „Schule schon vorbei?", fragte Lasse. „Es ist fünfzehn Uhr", erwiderte Dorothea. „Da machen sogar die Schulen in Nordirland Feierabend."
„Es ist schon fünfzehn Uhr?", wiederholte Benno. „Warum? Sitzt ihr hier oben schon so lange, dass ihr die Zeit vergessen habt?", fragte das Mädchen. „Wir haben die Zeit nicht wirklich vergessen, nur etwas aus den Augen verloren", erklärte Lasse. „Wenn man sich mal so umsieht, sieht man unseren Fortschritt nicht wirklich."
Einen der Stapel hatten sie inzwischen abgearbeitet, doch da es sich größtenteils Geschichten handelte, die nur aus den ersten Kapiteln bestanden und bei weitem noch nicht beendet waren, ging es relativ schnell voran. Benno hatte Lasse den Titel des Werkes diktiert und der hatte es in den Computer eingegeben. Danach hatten die beiden eine kurze Inhaltsangabe verfasst. „Schon irgendwas dabei, was für den Verlag sein könnte?", fragte Dorothea.
„Nicht wirklich", antwortete Benno. „Ein paar interessante Ansätze, aber da bräuchte man einen Ghostwriter, um die Geschichten fertig zu schreiben." „Ghostwriter hört sich doch interessant an", meinte sie. „Der Verlag möchte ja Werke, die er möglichst schnell auf den Markt bringen kann", erklärte Lasse. Dorothea nickte. „Ist eigentlich schändlich, wie mit der Arbeit eines Toten umgegangen wird", sagte sie. „Ich hätte kein gutes Gewissen, wenn ich selbst nach dem Tot eines Autors noch mit seinem Namen Geld verdienen würde."
„Die Verleger sind gerissene Geschäftsleute", erklärte Benno. „Da kann man leider nichts machen." „Was war eigentlich in deiner Traumwelt?", fragte Lasse und wechselte plötzlich das Thema. „Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?" Dorothea sah ihn einen Moment verwirrt an und brauchte eine Weile, um wieder reagieren zu können. Die Frage traf sie unvorbereitet und schien etwas in ihr auszulösen.
„Das... es war... ganz komisch", antwortete sie. „Ich bin an der Stelle aufgewacht, an der ich euch gesehen habe. Sogar das Kleid habe ich wieder getragen." Ihre Augen hatten einen glasigen Schimmer angenommen. „Aber es war keiner da. Ich war alleine. Es war alles so still. Nicht einmal die Vögel haben gezwitschert. Als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt." Dorothea lief auf den Balkon des Büros zu. Um frische Luft in das muffige Zimmer herein zu lassen, hatte Benno die Tür geöffnet. „Ich lief los, um irgendjemanden zu finden. Es machte mir Angst, dass ich so einsam war. Die Stille. Es war so ruhig." Langsam schritt sie auf den Balkon.
„Aber ich kam nicht weit. Die Stellen, auf die ich trat, lösten sich auf, sobald ich den Fuß wieder hob. Alles, was ich berührte, zerfiel zu nichts. Als würde sich die Welt auflösen. Je tiefer ich in den Wald lief, desto schlechter konnte ich sehen. Es wurde nicht dunkler, aber irgendwie wurde alles unscharf, kantiger und gröber. Die Bäume schienen nur noch aus Scherben zu bestehen. Alles schien nur noch zerbrochen und kaputt zu sein."
Sie blieb am Geländer des Balkons stehen und umfasste es mit einer Hand. Ihr Blick schweifte ziellos über die Landschaft. „Ich konnte nicht mehr zurück. Der Raum, in dem ich mich bewegen konnte, wurde immer enger. Ich... ich bekam Panik. Wollte aufwachen. Aber es ging nicht. Alles stand still." Benno und Lasse waren Dorothea auf den Balkon gefolgt. Ihnen war nicht wohl zu Mute. Dorothea sprach wie in Trance, als wäre sie nicht sie selbst. Die Augen starrten ins Leere. „Und plötzlich stürzte alles ein.
Nichts gab einen Laut von sich. Die Blätter schwebten tonlos zu Boden, die Bäume krachten zusammen, ohne dass man etwas hörte. Alles, was den Boden berührte, löste sich auf. Irgendwann, da war es, als wäre ich in einem unendlichen Raum aus Farben gefangen. Sie wechselten ständig und ich hatte das Gefühl verrückt zu werden."
Dorothea zitterte. Sie umfasste das Geländer jetzt so fest, dass sich ihre Finger weiß färbten. „Dann wurde alles blau. Als würde ich das Portal durchschreiten. Das Blau wurde immer heller. Kräftiger. Und dann gab es einen grellen Blitz und alles war weg. Alles." Lasse legte ihr die Hand auf die Schulter. Dorothea drehte sich langsam wieder um. Das Schimmern in ihren Augen war verschwunden. Sie sah Lasse verwirrt ins Gesicht, der sie ernst und besorgt betrachtete. „Alles in Ordnung?", fragte Benno. Dorothea nickte. „Alles in Ordnung!"
Doch sowohl Benno als auch Lasse wussten, dass sehr viel eben nicht in Ordnung schien...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top