ACHT

ACHT

Inzwischen war es Abend geworden. Den Sonnenuntergang hatte man nicht mitbekommen. Der schwarze, wolkenverhangene Himmel ging unbemerkt in eine dunkle, sternenlose Nacht über. Benno, Lasse und Onkel Mattse saßen im Wohnzimmer, bis Ludmilla zum Abendessen rief. Als Benno in die hell erleuchtete Eingangshalle trat, musste er blinzeln.

Die letzten zwei Stunden hatte er im Wohnzimmer verbracht, das von Kaminfeuer und Kerzenlicht erleuchtet worden war. Der Kronleuchter war unendlich hell, doch seine Augen gewöhnten sich schnell an das Licht. Als sie im Speisesaal ankamen, saßen bereits zwei Männer an der Tafel. „Darf ich vorstellen?", fragte Onkel Mattse. Er deutete auf den jüngeren Mann. „Das ist Louis." „Eigentlich müsste ich James heißen", lachte dieser. „Als wäre es mir vorausbestimmt worden."

„Daneben sitzt der Gärtner Giorgio", stelle Onkel Mattse den älteren Mann vor. „Mamma Mia! Matthias, sinde das deine Neffe und seine Freund, von dene du schon so viel haste erzählt?", rief Giorgio erfreut und sprang auf, um Benno und Lasse per Handschlag zu begrüßen. Jetzt erhob sich auch James, um den beiden Jungen die Hand zu geben.

„Wenn ihr dann fertig seid, könnte mir mal bitte jemand beim Tragen helfen?", rief Ludmilla aus der Küche. Benno und Lasse antworteten und gingen in die angrenzende Küche. Sie schien wie die Küche eines großen Restaurants. Weiß, kalt und steril. Ludmilla wirkte fast ein bisschen verloren in dem riesigen Raum.

„Jaja, vor hundert Jahren hat man immer ein bisschen größer gedacht", meinte sie. „Da war aber auch, zugegeben, noch deutlich mehr los." „Was sollen wir helfen?", fragte Benno. Ludmilla deutete auf zwei Tabletts, die auf einer der metallenen Ablagen standen. Auf dem einen war ein Stapel Teller und Besteck, auf dem anderen Gläser und Schälchen. „Das könnt ihr schon mal nach draußen tragen und verteilen. Ich bringe dann gleich den Rest."

Jeder der Jungen nahm eines der Tabletts und trug es in den Speisesaal. Kurz darauf erschien Ludmilla mit einem weiteren Tablett. „Was hast du heute schönes gekocht?", fragte James. „Baguette in verschiedenen Variationen", erklärte Ludmilla. „Ich habe übrigens nicht gekocht, sondern gebacken."

„Egal. Hauptsache esse schmeckt", verkündete Giorgio. „Kommen Sie aus Italien?", fragte Lasse. „Meine Akzente ise nicht zu überhöre, richtig?", erwiderte Giorgio. „Unde bitte sagt auch du zu mir." „Dann stelle ich meine Frage nochmal, Giorgio. Kommst du aus Italien?", wiederholte Lasse seine Frage. „Certo! Iche wurde geboren in Turino, wunderschöne Stadt in Bella Italia!" „Ich verstehe bis heute nicht, was ihn dann nach Bella Belfast verschlagen hat", meinte Louis und schnitt eine Scheibe vom Kräuterbaguette ab.

„Meine Frau wurde hier geboren, wire haben uns kennen gelernt, als sie im Urlaub in Bella Italia war. Danach iche mit ihr nach Belfaste gezogen. Und iche bin dageblieben", erklärte Giorgio. „Hast du da nicht manchmal Heimweh?", fragte Benno. „Ich meine, Turin und Belfast liegen ja nicht gerade um die Ecke." „Inzwischen habe iche mich an regnerische Wetter in Belfast gewöhnt. Obwohl iche manchmal vermisse Sonnenschein und warme Temperature."

„Ich habe dir schon oft angeboten, dass du Urlaub nehmen kannst, solange du willst, um zurück nach Turin zu gehen", erinnerte ihn Onkel Mattse. „Ache, lasse wir das Thema. Wir schon so oft habe darüber gesprochen", erwiderte Giorgio. Damit war das Thema für ihn erledigt.

***

Nach dem Abendessen wollten die beiden Jungen der Haushälterin eigentlich noch beim Abräumen helfen, aber Ludmilla hatte verkündet, dass sie das Geschirr nur in die Küche räumen und dann sofort nach Hause zu ihren Kindern fahren würde. „Die arme Frau ist doch total überarbeitet", meinte Lasse. „So gesehen führt sie ja gleich zwei Haushalte."

„Wir können ihr ja helfen, dass sie mehr Zeit für ihre Kinder hat. Oder hattest du vor, die nächsten Wochen tatenlos hier rumzusitzen?", schlug Benno vor. „Nee, ich sitze schon in den USA genug rum. Wenn ich zum Beispiel im Flugzeug hocke oder so", stimme Lasse zu. „Du klingst nicht gerade begeistert", bemerkte Benno. „Würde es dir gefallen, wenn du nicht mal zur Schule gehen kannst und stattdessen von einem Hauslehrer unterrichtet wirst? Sicherlich, die Amerikaner pflegen einen anderen Lebensstil als ihr Europäer, aber ich hatte mich gerade in Chicago eingelebt, da mussten wir schon wieder umziehen. Wir haben in Chicago, Pittsburgh, Raleigh, Atlanta, Houston und New York Wohnungen und wir sind fast jedes Wochenende woanders. Ich kann kaum Freunde treffen. Zwar kenne ich in jeder Stadt ein paar Leute, aber mehr als Bekannte kann man das bei weitem nicht nennen. Wenn ich nächstes Jahr sechszehn werde, bitte ich meine Eltern, dass ich, zumindest in der Schulzeit, alleine in Chicago bleiben darf. In den USA ist das alles ein bisschen lockerer geregelt, deswegen dürfte das kein Problem sein."

„Mit sechzehn alleine in Chicago", staunte Benno. „Bemerkenswert." „Kannst mich ja dann besuchen kommen", sagte Lasse. „Dann machen wir Blockparty mit all meinen Freunden dort." „Als ob meine Eltern mich alleine nach Chicago lassen", lenkte Benno ein. „Da müsste ich ihnen schon literweise Alkohol einflößen, damit sie mir das erlauben. Belfast hat ja schon viel Überredung gekostet."

„Da kannst du ja an Belfast schon mal üben wie es ist, sich in einer Großstadt zurecht zu finden", meinte Lasse. „Wir steigern uns dann allmählich." „Ich würde trotzdem nicht schon alleine in Chicago wohnen wollen", überlegte Benno. „Ich will zwar auch nicht für immer zu Hause wohnen, aber ein paar Jahre sollte das schon noch dauern."

„Wenn du erst einmal in Chicago warst, wirst du das schon verstehen. Ich stehe täglich mit meinen Eltern in Kontakt, da werde ich nicht groß dazu kommen, Dummheiten zu machen", erklärte Lasse. „Was planen deine Eltern als nächstes?", wollte Benno wissen. „Wenn die Standpunkte in Raleigh und Pittsburgh stehen, sind dann noch ein paar Städte in Planung", antwortete Lasse. „ Zum Beispiel Miami, Orlando, Boston, Indianapolis... Irgendwann haben meine Eltern die ganze USA eingenommen, wirst du schon sehen. Kanada ist auch im Gespräch."

„Ich bleibe gespannt", versicherte Benno. „Habt ihr das Thema jetzt ausdiskutiert?", fragte auf einmal eine quengelnde Stimme. Auf dem Pfosten des Treppengeländers in der Eingangshalle stand Avli. „Ihr seid mir welche! Schleppt mich mit hier runter und vergesst mich dann eiskalt. Ich hätte mir meine zarten Flügelchen brechen können, beim Versuch das Sofa herunter zu klettern. Und dann steht ihr hier rum und diskutiert, welche Städte die Eltern der Bohnenstange als nächstes einnahmen wollen. Hallo? Das kauft euch doch keiner ab. Die großen Metropolen der USA, dass ich nicht lache!" Benno hielt dem Drachen den Mund zu.

„Dein Blutdruck ist schon ziemlich hoch, komm runter!", sagte er zu Avli und nahm die Hand wieder weg. „Worunter? Vom Treppenpfosten?", wollte Avli wissen. „Wie bist du da hochgekommen? Du hättest dir beim Klettern deine zarten Flügelchen brechen können", erwiderte Lasse. „Das ist Stein, das bricht schon nicht", meinte Benno trocken. „Danke für dein Mitleid!", bedankte sich Avli genauso trocken und verschränkte die Ärmchen vor der Brust.

„Die nächsten vier Wochen können was werden", meinte Benno. „Der Großstadt-Amerikaner, die gutmütige Haushälterin, der nordirische Italiener, ein Schlosserbe und ich mittendrin." „Den kleinen, fetten Drachen nicht zu vergessen", ergänzte Lasse, nahm Avli auf die Hand und ging mit ihm nach oben. „Richtig, den hätte ich fast vergessen", meinte Benno. „Wieder einmal", kam es aus Avlis Richtung.

Die nächsten vier Wochen konnten wirklich was werden, doch hing das nicht nur mit den multikulturellen Bewohnern des Schlosses zusammen...

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