Z W E I.Z W E I

"Dir geht es wieder besser, wie schön", seufzte Avli, als sie das Schreibzimmer betraten. Das kleine Drachenmädchen war aufgestanden und saß nun auf dem Schreibtisch, vor sich einen Stapel Blätter. "Was machen deine Verletzungen?", fragte Benno. "Alles wieder gut", antwortete Xenia. "Mir tut nichts mehr weh."

"Das sollte es auch, nachdem du uns letzte Nacht den Schlaf geraubt hast", meinte Lasse. "Tut mir leid", murmelte Xenia traurig. "Das wollte ich nicht, aber wir waren eben unvorsichtig und da ist es passiert."

"Als ob ihr letzte Nacht tief und fest geschlafen hättet", schmunzelte Dorothea. "Jetzt habt euch nicht so!"

"Was machst du da eigentlich?", fragte Avli. Das Drachenmädchen hielt immer noch zwei Blätter in der Hand, die im Vergleich zu ihr riesig wirkten.

"Ich lese", antwortete Xenia. "Allerdings sind die Geschichten alle nicht fertig. Das nervt mich, weil ich so gerne wissen möchte, wie sie weitergehen. Was mich allerdings am meisten wundert..." Sie durchblätterte den Stapel und zog schließlich die gewünschten Seiten hervor. "Da hat wohl jemand eine Geschichte über Avli und mich geschrieben", sagte sie und wollte Benno die Blätter reichen, doch der wehrte ab. "Die Geschichten liegen nicht ohne Grund dort", erklärte er. "Welcher Grund ist das denn?", wollte das Drachenmädchen wissen.

"Das ist nicht so einfach zu erklären", meinte Lasse ausweichend. "Ziemlich viel, ziemlich verwirrend und ziemlich schwer zu verstehen." "Zeit habe ich und dumm bin ich auch nicht, also könnt ihr es mir ruhig erzählen", forderte Xenia. "Dann musst du uns aber versprechen, dass du uns auch glaubst", wendete Avli ein. "Es ist nämlich ziemlich unglaublich."

"Unglaubliche Geschichten sind immer schwer zu glauben, deswegen sind sie ja unglaublich", erklärte das Drachenmädchen und kletterte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Dort machte sie es sich bequem. "Ihr könnt anfangen. Worauf wartet ihr noch? Ich will eine Geschichte hören."

***

Der Fußboden war kalt. Ihre Füße waren kalt. Die Kälte kroch ihr durch den ganzen Körper und sie verwünschte sich, dass sie nicht wenigstens etwas Wärmeres angezogen hatte, statt nur in ihrem dünnen Nachtgewand loszulaufen, das hinter ihr her wehte. Sie war jedoch so entschlossen gewesen, dass sie an etwas so Einfaches nicht gedacht hatte.

Irgendwas musste passieren, das wollte sie ganz bestimmt. Wenn sie sich dabei eine Erkältung holte oder sich die Füße abfror- sei es drum, sagte sie sich. Sie bemerkte jedoch, dass es immer kälter wurde, je mehr sie sich von ihrem Zimmer entfernte. Die Kälte schien sie zurück drücken zu wollen, zurück in ihr Zimmer, in das warme Bett, wo sie bisher jede Nacht geschlafen hatte. Jede? Sie konnte sich nicht dran erinnern, dass es einmal anders gewesen war. Es musste jedoch einmal anders gewesen sein.

Was war gewesen, bevor sie ihr Leben hier begonnen hatte? Wer waren ihre Eltern? Wer hatte dafür gesorgt, dass sie hier lebte? Wer war sie selbst eigentlich? Sie konnte keine der Fragen beantworten und das machte sie fertig. Irgendwann hatte sie angefangen, darüber nachzudenken. Manchmal vergaß sie auch wieder, dass sie darüber nachgedacht hatte. Es wurde jedoch immer mehr, dass sie sich solche Fragen stellte. Wer bin ich?

Mehr als einen Namen hatte sie nicht. Sie war nicht mehr als eine Figur, die einen Namen verkörperte. Tagein und tagaus, zu jeder Zeit. Genau wie alle anderen. War sie denn die einzige, die endlich mehr über sich selbst wissen wollte? Die endlich diesen Trott verlassen wollte? Heute Nacht war sie das erste Mal wach geworden. Sonst hatte sie immer durchgeschlafen, bis es hell war. Auch jetzt, wo sie über den endlosen Flur lief, war es noch dunkel. Der Mond warf von draußen die Schatten von knorrigen Bäumen an die Wand.

Sie lief immer weiter. Der Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Kälte wurde immer stärker und sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte es schaffen, sich gegen dieses unsichtbare System wehren. Das, was sie bisher erlebt hatte, konnte nicht ihr ganzes Leben sein. Es musste noch mehr geben. Sie würde einen Weg finden, dieses System zu verlassen. Ihr fiel es schwerer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber sie stemmte ihre ganze Kraft dagegen. Jedes Mal, wenn einer ihrer Füße auf den Boden aufsetzte, durchfuhr sie ein kalter Schock, der ihr bis ins Gehirn ging.

Verbissen konzentrierte sie sich auf das nicht zu sehende Ende des Ganges und lief weiter. Die Kälte machte ihre Füße blau. Jedes Mal, wenn sie auftrat, wurde das Blau stärker. Es pulsierte. Die Schatten an der Wand nahmen einen bläulichen Schimmer an, der über die ebene Fläche wanderte und verschwand. Sie wurden größer, liefen über den Boden, an der Fensterseite wieder nach oben. Die Schimmer formierten sich zu Formen, die immer größer wurden, je weiter sie den Gang entlang lief. Die Kälte und die unsichtbare Kraft verloren an Wirkung.

Sie lief weiter, die Mächte, die an ihr zerrten, ignorierend. Es konnte so nicht weitergehen. Sie konnte wieder schneller laufen, das Auftreten fiel ihr leichter. Die Schimmer umgaben sie nun fast vollständig. Vor ihr lag ein Tunnel aus blauen Farbtönen, die ineinander übergingen und sich wieder trennten. Leichtfüßig konnte sie rennen, immer weiter. Immer weiter geradeaus. Sie fühlte es, dass sie dem System entkommen war.

Vor ihr wurde das Ende des Ganges sichtbar. In der Querwand war eine Tür, die einzige, die sie bisher auf dem Gang gesehen hatte. Sie blieb stehen. Sie blickte zurück auf den Gang. Die blauen Schimmer lagen hinter ihr und verzogen sich, wurden schwächer. Sie hob die Hand und legte sie auf die Klinke. Ohne vorher noch einmal tief durchzuatmen, drückte sie sie hinunter und öffnete die Tür. Dann trat sie ein. Vor ihr lag ein weiterer Raum, in totale Dunkelheit gehüllt.

Ein leises Krachen ertönte und von der Decke fiel ein Lichtstrahl. Sie schaute nach oben, konnte die Lichtquelle aber nicht erkennen. Die Decke war verdeckt von verschiedenen Metallgerüsten und irgendwo zwischen ihnen kam der Lichtstrahl hervor. Aus dem Boden kamen ein Stuhl und ein Tisch gefahren. Ein Mann saß auf dem Tisch, die Füße auf dem Stuhl abgestellt.

„Willkommen in der realen Welt, Quintessa", sagte er. Sie musterte ihn und brachte noch keinen Ton heraus. „Die reale Welt?", fragte sie schließlich. „Die Welt, in der du auf alle deine Fragen Antworten finden wirst. In der du dich finden wirst", erklärte der Mann. „Hab nur keine Scheu und tritt ein. Es wird sich alles klären."

Das Lächeln wirkte gequält auf Quintessa. Ehe sie noch etwas sagen konnte, verschwand der Tisch samt dem Mann wieder im Boden. Die kleine Falltür verschluckte ihn langsam, bis er nicht mehr zu sehen war. Der Lichtstrahl verschwand und schlagartig wurde es etwas heller in dem Raum, sodass sie besser sehen konnte.

Sie lief um das Loch, in das der Mann gerade wieder verschwunden war. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick hinein, konnte aber nichts mehr sehen. Eine Treppe führte ein paar Stufen nach unten direkt auf eine weitere Tür zu. War das die Tür zur realen Welt? Der Mann hatte ihr gesagt, dass sich dort alles klären würde. Das wollte sie unbedingt und deswegen glaubte sie ihm. Und trat ein in die reale Welt.

***

Mal eine kleine Bemerkung von mir: wir haben jetzt die 350 Reads und 100 Votes erreicht. Avli sagt im Namen aller Buchfiguren danke und verteilt freie Erdnüsse an alle (wahlweise auch Gummibärchen).

Das Lied da oben habe ich neulich in einem Kino-Trailer gesehen. Den Film würde ich mir zwar nicht unbedingt angucken, aber der Trailer hat mich zum zweiten Teil dieses Kapitels inspiriert und die Musik passt auch dazu.

Bis zum nächsten Mal!

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