V I E R.S E C H S
"Du willst dich doch rächen", sagte die Stimme zu ihr. Dorothea murrte. Sie drehte sich und zog die Bettdecke über den Kopf, in der Hoffnung, dass die Stimme sie dann in Ruhe lassen würde, aber sie redete unterbrochen weiter auf sie ein. "Was willst du denn von mir?", fragte sie genervt. Im Halbschlaf bekam sie nicht einmal mit, was sie eigentlich zu ihr sagte. "Mach die Augen auf, dann wirst du es sehen", erklärte die Stimme und klang zum ersten Mal klar und deutlich. Dorothea öffnete die Augen, aber sie befand sich nicht mehr in ihrem Zimmer.
"Wo bin ich?", fragte sie erschrocken und setzte sich auf. Sie war hellwach. Das Mädchen sah sich in dem Raum um. Es war nicht ihr Zimmer, aber auch kein anderes im Schloss. Der Raum war nur schlecht beleuchtet. Von der Decke hing eine nackte Glühlampe. So konnte sie erkennen, dass sich von dem Raum zwei Türen ausgingen. Eine nach links, eine nach rechts. "Wo bist du?", fragte sie gereizt. "Wenn du mich schon mitten in der Nacht aufwecken musst, dann hoffe ich, dass du auch einen guten Grund dafür hast. Zeig dich!"
Die Person, die zu der Stimme gehörte, trat aus dem Schatten heraus. Obwohl er jetzt im Licht stand, konnte sie ihn nicht erkennen. Er trug eine Kapuze, tief ins Gesicht gezogen. "Können wir jetzt reden?", fragte er ruhig. "Ich wüsste nicht, warum ich mitten in der Nacht mit Ihnen reden sollte", erwiderte Dorothea bissig. "Wie komme ich überhaupt hierher? Ich schwöre Ihnen, wenn Sie auch nur.." "Du brauchst dich doch nicht vor jemandem zu fürchten, der nur mit dir reden will", erklärte der Mann.
"Wenn ich denjenigen, der mit mir redet, nicht sehen kann, kann ich ihn auch nicht ernst nehmen", widersprach das Mädchen trotzig. "Wenn du mich nicht ernst nehmen würdest, warum hockst du dann da und zitterst fast? Sicherlich nicht, weil es hier drin kalt ist", sagte der Mann. Dorothea erwiderte darauf nichts. In dem Raum war es zwar ungemütlich, aber nicht kalt, trotzdem bekam sie eine Gänsehaut. Das lag aber vor allem daran, dass sie wirklich Angst hatte.
"Können Sie jetzt vielleicht mit dem Reden anfangen?", fragte Dorothea ungeduldig. "Wir reden doch schon die ganze Zeit", antwortete der Mann und grinste. "Mehr oder weniger."
"Machen Sie es kurz", forderte sie. "Ich will nicht länger hierbleiben." Das Mädchen war selbst über sich erstaunt, dass ihre Stimme in einer solchen Situation noch so kraftvoll war. Nur mit Mühe konnte sie unterdrücken, dass sie zitterte. Worüber wollte der Mann mit ihr reden? Ihr Unterbewusstsein erinnerte sie daran, dass sie erst vor Kurzem das Wort "rächen" vernommen hatte. Was wollte man ihr damit sagen? "Weißt du es jetzt?", fragte der Mann. Dorothea zuckte zusammen. War es Zufall oder konnte er wirklich Gedanken gelesen? "Sie können mir ja sagen, was ich wissen soll", schlug sie vor. "Dann weiß ich es."
"Du bist ziemlich frech, hat dir das schon mal jemand gesagt?", fragte der Mann. "Immerhin besser als sich als Erwachsener im Halbschatten zu verstecken und sein Gesicht nicht zu zeigen", antwortete das Mädchen. Die andere Person machte jedoch keine Anstalten, sich aus dem Halbschatten heraus zu bewegen. "Was passiert, wenn ich jetzt einfach aufstehe und durch eine der beiden Türen gehe?", fragte sie. "Dann hast du die Wahl: zurück in dein Bett oder in das Land der Herzkönigin zurück. In beiden Fällen habe ich dir aber nicht das gesagt, was ich eigentlich sagen wollte", antwortete der Mann.
"Das Land der Herzkönigin?", fragte Dorothea erschrocken. "Woher wissen sie davon?" Misstrauisch musterte sie den Mann, konnte aber nach wie vor sein Gesicht nicht erkennen. Sie wollte am liebsten nur noch flüchten, aber irgendetwas hielt sie dort fest. Zwar war nicht gefesselt, bewegen konnte sie sich dennoch nicht. "Ich weiß so vieles, Dorothea", antwortete der Mann vage. "Was ich mit dir bereden möchte, hängt mit ihr zusammen, der Herzkönigin. Deswegen finde ich die Frage gut, so kommen wir endlich ins Gespräch." "Wir reden doch schon die ganze Zeit", meinte Dorothea. So langsam bildeten sich die ersten Schweißtropfen auf ihrer Stirn.
"Ein Gespräch mit dir zu führen, ist nicht einfach", seufzte der Mann. "Du musst immer das letzte Wort haben." "Woher soll ich denn auch wissen, dass Sie nichts mehr zu sagen haben?", fragte Dorothea. "Inhaltlich kam bisher nicht viel!" Der Mann lachte kurz auf. "Du gefällst mir", meinte er. "Versteh' das jetzt nicht bitte nicht falsch. Du weißt, wie ich es meine." "Auslegungssache", erwiderte Dorothea. "Könnten Sie mir jetzt vielleicht erklären, was es hiermit auf sich hat? Und was die Herzkönigin damit zu tun hat? Und warum ich mich rächen soll?" "Also hast du mir vorhin doch zugehört", stellte der Mann fest.
"Unbewusst", sagte Dorothea daraufhin. "Und ungewollt!" "Damit wir hier endlich vorankommen", sprach der Mann nun, "will ich dir erklären, was die Herzkönigin für eine Rolle spielt. Eine ziemlich große sogar." Dorothea wollte etwas sagen, aber der Mann ließ sie nicht zu Wort kommen. "Lass mich bitte ausreden", bat er. "Also: frag mich bitte nicht, woher ich das alles weiß, aber ich kenne deine Geschichte in der, nennen wir sie so wie du es immer tust, Traumwelt. Am Anfang schien doch alles in Ordnung, oder? Dann kam aber die Herzkönigin und alles nahm seinen Lauf. Du solltest eine von ihnen sein, unter denen der Prinz seine Braut auswählt. Entgegen aller Erwartungen, vor allem gegen die der Herzkönigin, der du irgendwie unsympathisch warst, wählte er dich. Das geplante Fest wurde von den Rebellen unterbrochen, die die Herzkönigin stürzen wollten. Sie ging fest davon aus, dass du die Anführerin der Rebellen bist und sie vom Thon stoßen wolltest. Habe ich recht?"
Dorothea nickte nur, weil ihre Kehle plötzlich wie abgeschnürt war. "An dieser Stelle brach die Traumwelt zusammen. Tausende kleine, bläulich schimmernde Scherben", sprach der Mann weiter. "Plötzlich tauchte die Herzkönigin dann in deiner Welt auf. Deine eigene Welt, von der du glaubtest, sie sei sicher. Die gesamte Traumwelt verlagerte sich immer mehr in deine eigene, du hast ja selbst mit der Herzkönigin gesprochen. Die Rebellen haben ihr Ziel noch nicht erreicht. Im Moment steht noch alles beim Alten, aber die Herzkönigin will die Verantwortlichen finden. Dass sie das nicht in ihrer eigenen Welt kann, erschwert und verlangsamt die Sache natürlich." "Sie... sie hat mich u... um Hilfe gebeten", sagte Dorothea. Ihre Kehle fühlte sich trocken an und immer noch wie zugeschnürt. Sie bekam kaum Luft.
"Sie benutzt dich nur", erklärte der Mann. "Wenn du ihr hilfst, in ihre eigene Welt zurückzukehren, wird sie dir das Messer in den Rücken rammen, sobald sie am Ziel ist. Du bist in ihren Augen immer noch die Anführerin der Rebellen und die gilt es umzubringen. Alles, was sie dir vorspielt, ist erstunken und erlogen. Sie braucht dich nur, um endlich an ihr Ziel zu kommen, den Aufstand zu verhindern und um ihre Macht zu sichern." "Aber wenn sie... in ihre eigene Welt zurückkehrt, ist das doch für alle das Beste", wandte Dorothea ein. "Das wäre es, ja ", stimmte der Mann zu, "aber gleichzeitig wäre es dein Ende. Nicht sehr schön." Für einen Moment herrschte angespanntes Schweigen. "Aber ich habe eine Idee. Du wirst ihr nicht nur helfen, deine Welt zu verlassen, sondern dich im gleichen Zuge auch noch an ihr rächen. Für all das, was sie dir angetan hat. Die schrecklichen Träume, ihre Schikanen, die falschen Verdächtigungen..." Dorothea spürte die Wut in sich aufsteigen. Der Mann hatte recht. Wenn sie es im Nachhinein betrachtete, war es ein Fehler gewesen, der Herzkönigin Hilfe anzubieten. Sie hätte gar nicht erst zusagen dürfen.
"Was... was soll ich tun?", fragte sie. "Sorg' dafür, dass sie die Hochzeit so bald wie möglich nachholt", antwortete er. "Das wird nicht so schwer sein. Die Hochzeit war auch die Stelle, an der ihre Welt zusammenbrach. Sag ihr, wenn man genau da ansetzt. wo man aufgehört hat, wird alles gut. Der Prinz wird dich zu seiner Frau nehmen. Sobald ihr vermählt seid, wird man dich zur neuen Königin krönen. Und dann kannst du dich an ihr rächen. Verbanne sie, verurteile sie zum Tode, egal, es wird dir schon etwas einfallen."
"Aber, das ist doch grausam", erwiderte Dorothea. "Ich verurteile doch nicht meine Schwiegermutter zum Tode! Das kann ich einfach nicht." "Glaub' mir, nichts ist grausamer als das, was die Herzkönigin dir antun wird, wenn sie dich erst einmal als Anführerin der Rebellen enttarnt hat. Du musst ihr zuvorkommen!", schwor der Mann ihr ein. "Verstehst du? Damit könntest du dem ganzen Reich helfen, wenn du sie von ihrer Königin befreist. Es ist das Beste für alle, denn sie leiden mehr unter den Machenschaften der Herzkönigin als sie zugeben wollen." Er seufzte.
"Du hast es in der Hand. Ein ganzes Königreich retten oder riskieren, dass die Träume schlimmer denn ja wiederkommen und die Herzkönigin mit dir tun und lassen kann, was sie will. Bis du eines Tages nicht wieder aufwachst." Dorothea zuckte bei diesen Worten zusammen. "Denk daran, Dorothea. Du hast es in der Hand." Der Raum verschwand, es wurde dunkler. Schließlich wachte Dorothea wieder in ihrem Bett auf, in ihrem Zimmer, im Schloss. Schweißgebadet wurde ihr erst jetzt bewusst, was sie gerade erlebt hatte.
"Du hast es in der Hand", hallten die Worte des Mannes in ihrem Kopf nach. Sie starrte ihren Wecker an. Sie hatte es in der Hand. Sie allein.
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