V I E R.F Ü N F

"Darf ich fragen, was Sie dorthin führt?", fragte der Taxifahrer. "Reines Interesse", antwortete die Frau auf der Rückbank. Sie starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Der Fahrer warf einen Blick in den Innenspiegel und stellte fest, dass es unmöglich war, mit dieser Frau eine Unterhaltung zu beginnen. Schon mehrmals hatte er es versucht, aber die Antworten waren immer sehr knapp ausgefallen, wenn sie überhaupt gesprochen hatte.

Das Auto ruckelte auf einmal ungewöhnlich und der Motor gab Geräusche von sich, die überhaupt nicht gesund klangen. Verwundert bemerkte der Fahrer, dass eine rote Kontrollleuchte am Armaturenbrett blinkte. Er brachte das Auto am Fahrbahnrand zum Stehen. Qualm kam unter der Motorhaube hervor. Leise vor sich hin fluchend stieg er aus und öffnete die Motorhaube, die glühend heiß war. Noch mehr Qualm schlug ihm entgegen und es dauerte einige Momente, bis er sich verzogen hatte, sodass überhaupt etwas zu erkennen war. "Was stimmt denn nicht?", fragte die Frau.

Sie stand plötzlich neben ihm und betrachtete den Motorraum. Wenigstens fragte sie nicht, ob etwas nicht stimme, wie so viele andere Fahrgäste es in dieser Situation getan hätten. "Wenn ich das wüsste", antwortete er. "So wie es aussieht, ist der Motor total überhitzt, da kann ich jetzt nicht weiterfahren." Er sah die Frau zum ersten Mal richtig an. Sie war an die siebzig, schätze er. Trotzdem funkelten ihre Augen lebenslustig. Die abwesende Art passte so gar nicht zu ihrem Äußeren. "Wenn sie möchten, kann ich Ihnen aber gerne einen Kollegen rufen", schlug er vor und wendete den Blick wieder ab. Es war unhöflich, die Leute so anzustarren. "Das brauchen Sie nicht", entgegnete die Dame. "Kümmern Sie sich lieber um das Auto, bevor Sie noch Ärger mit Ihrem Chef bekommen."

Sie lächelte leicht. "Den bekomme ich auch so schon", meinte der Fahrer. "Ich verstehe das nicht. Die Fahrzeuge werden ständig überprüft. Es kann gar nicht sein, dass die Kühlerflüssigkeit alle ist." Die Frau legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Wahrscheinlich wurde es einfach nur übersehen", überlegte sie. "Es wird schon nicht so schlimm werden mit Ihrem Chef. Er kann froh sein, dass es nicht zu einem Unfall gekommen ist." "Wahrscheinlich haben Sie da recht", seufzte der Mann. "Wollen Sie warten oder warum soll ich keinen Kollegen anrufen?" "Es würde dauern, bis ein Kollege hier raus gefahren ist", antwortete die Frau. "Außerdem haben wir schönes Wetter. Da kann ich auch das Stück noch laufen."

"Das Stück ist ziemlich groß", grübelte der Fahrer. "Je größer das Stück, das ich laufen muss, desto mehr frische Luft kriege ich. Wahrscheinlich werde ich da mal richtig munter. Ich war jetzt mehrere Jahre in den USA und jetzt verschiebt sich mein Tagesrhythmus einfach um ein paar Stunden", erklärte die Frau. "Das verstehe ich", meinte der Fahrer. "Ich kann aber nicht verantworten, dass Sie ihre Koffer jetzt hinter sich herziehen. Sobald das Auto wieder fahrtüchtig ist, liefere ich Ihr Gepäck nach."

"Das ist sehr freundlich von Ihnen", freute sich die Frau. "Ich nehme nur meine Handtasche mit." Sie ging wieder um das Auto herum, um ihre Tasche von der Rückbank zu nehmen. Dann drückte sie dem Fahrer schon einen Schein in die Hand. "Stimmt so", sagte sie. "Bis nachher!" Damit marschierte sie los. Vor ihr lag die Straße, die brüchig und verlassen vor ihr lag. Das Villenviertel wirkte gar nicht mehr so weit. Außerdem schien die Sonne, sie würde also trockenen Fußes ankommen. Nur eben etwas später, aber das war ihr gerade recht. So brauchte sie ihnen nicht gleich zu begegnen, sondern konnte sich noch etwas Zeit lassen. Jetzt war sie also wieder hier. Nach über einem Jahrzehnt. Was würden die anderen sagen, wenn sie jetzt wie aus dem Nichts vor der Tür stand?

Freuen würden sie sich garantiert nicht. Immerhin hatte sie alle jahrelang alleine gelassen. Ihre Familie hatte auch ohne sie zusammengehalten, irgendwie. Sie fürchtete sich davor, dem nun wieder zu begegnen. Eigentlich hatte sie doch alles kaputt gemacht. Nicht erst, dass sie plötzlich nach Amerika abgehauen war, sondern eher. Schon viel eher. Diese Entscheidungen brauchte sie jetzt aber nicht zu bereuen, sie waren schon zu lange her und hatten seitdem ihre Kreise gezogen.

Dass sie jetzt reumütig ihrer Erinnerung nachhing, brachte sie nicht weiter. Sie hatte ihre Fehler eingesehen, wenn auch zu spät, aber sie war bereit, sich ihnen zu stellen. Ob sie es nun Mut nennen konnte, wusste sie selbst nicht. Wie würden sie reagieren? Würde man sie überhaupt hereinlassen oder gleich wieder fortschicken? Sie würde sich nicht abwimmeln lassen, schwor sie sich. Es war an der Zeit, dass die Dinge, die schon so lange im Raum standen, endlich geklärt wurden. Besser ganz spät als nie. Und sie würde die Dinge klären, auch, wenn es unangenehm für sie werden würde. Nur so konnte es nicht weitergehen. Sie sah glücklich auf die letzten Jahre zurück, die sie in den Staaten, in Australien, in Japan verbracht hatte. Immer auf Achse, jeden Abend in ihrer Rolle. Sie hatte nun lange genug in ihrer eigenen Welt gelebt.

Er genauso. Sie hatten beide ihre eigenen Welten und hatten krampfhaft versucht, sie zu verbinden. Es hatte nicht geklappt und damit war keiner glücklich geworden. Sie wusste, dass er genauso Schuld an der ganzen Situation trug, wie sie jetzt war. Nur hätte sie vielleicht Schlimmeres verhindern können, aber sie war ja selbst nicht damit zurecht gekommen. Die eigene Welt funktionierte eben nicht nach Wünschen und Träumen. Es gab immer noch etwas wie eine Realität und der musste sie sich jetzt stellen. Die Realität hatte ihr so oft Angst eingejagt und gerade deswegen kam es ihr gerade recht, dass sie Abend für Abend in ihre Welt hatte schlüpfen können.

Eine Rolle hatte sie gespielt, mit der sie glücklich war, in der sie ihre Leidenschaft ausleben konnte, die sie nie hatte mit ihm teilen konnten. Zwar war diese Rolle wenig heldenhaft, sondern eher böse gewesen, so hatte es doch Spaß gemacht, die Böse zu sein und Unheil zu stiften. Es war aber eben doch nur eine Rolle gewesen, sie hatte sie nur gespielt. Nichts von dem, was sie und die anderen Darsteller vorgaben zu sein, stimmte. Wie sie jetzt feststellte, war ihr das Spielen einer Rolle leichter gefallen als im richtigen Leben die Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen. Sie blieb stehen und richtete den Träger der Handtasche, der ihr von der Schulter rutschte. Dann sah sie sich um. Nur noch dreihundert Meter, schätze sie, dann hätte sie das Villenviertel erreicht und dann dauerte es nicht mehr lange bis zum Schluss. Hinter ihr konnte sie Belfast erkennen.

Vor der Kulisse der Stadt der Taxifahrer, der inzwischen wahrscheinlich auf den Pannendienst wartete. Hier draußen, weit ab vom Schuss, mochte es sich zwar schön leben, aber man schottete sich auch ab. Gut, abschotten ging auch auf so viele andere Weisen, sie hatte es ja selbst bewiesen. Sie hob den Fuß und zog ihre Schuhe aus. Morgen würde sie Blasen an den Füßen haben. Barfuß laufen war gesund.

Der Asphalt war schon warm, wenn sie auch aufpassen musste, sich nicht an einem von den Rissen zu schneiden. Das war aber eher das kleinere Problem. Die beiden Schuhe in der Hand lief sie weiter. Eigentlich könnte es doch so schön sein. Sonnenschein, ein Schloss mit Park, alles, was das Herz begehrte. Die Idylle log aber längst. Das erste Haus sah heruntergekommen aus, fast schon als würde es jeden Moment zusammenbrechen. Sah das Schloss auch so aus? Erschrocken war sie.

Damals hatte das alles so anders ausgesehen. Damals war noch alles schön gewesen. Aber lag Schönheit nicht im Auge des Betrachters? Ihr Herz schlug schneller, als sie sich daran erinnerte, wie sie damals mit dem Kinderwagen hier entlang gefahren war. Der kleine Junge, der sie aus ihm heraus angelächelt hatte. Zu der Zeit waren im Fußweg noch keine Risse gewesen und das Unkraut war auch nicht so hoch aus den Ritzen emporgewachsen. Gleich würde sie ihren Sohn wiedersehen. Jahrelang war ihr Kontakt nur sporadisch gewesen, in den letzten Jahren komplett abgebrochen.

Sie hatte immer wieder gehofft, dass er sich melden würde, aber er hatte es nie getan. Im Gegensatz konnte sie aber auch nie den Mut aufbringen, sich bei ihm zu melden. Schon oft hatte sie seine Nummer auf ihrem Display gehabt, sie aber immer wieder weggedrückt und sich vertröstet. Nun konnte sie nicht einfach mehr den roten Hörer drücken und vor der Wahrheit fliehen. Im nächsten Moment blieb sie erschrocken stehen. In ihrem Kopf sah sie das Bild des altehrwürdigen Schlosses. Wie lange hatte sie geglaubt, hier glücklich werden zu können. Damals hatte es schon etwas Verwunschenes, etwas Märchenhaftes an sich gehabt, aber der Zauber war längst verflogen. Wie lange war sie nicht hier gewesen? So wie das Schloss aussah, musste ein Jahrhundert vergangen sein.

Alt und heruntergekommen hätte es jetzt eher aus einem Horrorfilm kommen. Ihr lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Das Bild vor ihr übertraf ihre Befürchtungen. Matthias war mit den Renovierungen bestimmt überfordert, wenn er sie überhaupt durchführen konnte. Sie wollte ihnen ihre Hilfe nicht aufzwängen, sie bezweifelte ja sogar, dass man sie annehmen würde. Aber sie wollte zumindest versuchen, eine Baustelle in ihrem Leben fertigzustellen. Das Tor stand offen. Langsam setzte sie einen Fuß auf den Kies. Er kitzelte und sie schob in Gedanken ein paar Steinchen mit dem Zeh hin und her. Der Garten war ungepflegt, die Rosen gaben ein einziges Trauerbild ab.

Was war hier nur passiert? An der Treppe angekommen, atmete sie noch einmal tief durch, bevor sie die drei Stufen hinaufging. Ohne lange zu überlegen, klingelte sie. Es dauerte einen Moment, bis sich die Tür öffnete. Mit großen Augen starrte Matthias seine Mutter an. Obwohl sie sich darauf vorbereitet hatte, ihm wieder gegenüber zu stehen, wusste sie nun nicht, was sie tun sollte. "Matthias, ich", setzte sie an, doch sie konnte nicht weitersprechen. "Du bist wieder da, ich sehe es", sagte ihr Sohn. Sie schloss ihn in die Arme und zumindest für diesen einen Moment war alles gut.

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