V I E R.D R E I

Benno starrte die Decke an. Er konnte nicht schlafen, obwohl die Temperaturen in dieser Nacht sogar angenehm waren. Das Fenster war angekippt und die abgekühlte Nachtluft zog herein. Gewitter würde es in den nächsten Stunden nicht geben. Der Wetterbericht hatte angekündigt, dass es in den folgenden Tagen deutlich kühler werden sollte. Wenigstens würde sie dann das Wetter nicht mehr um den Schlaf bringen, dachte er.

Jetzt waren es jedoch die Erlebnisse der vergangenen Stunden, die ihn nicht schlafen ließen. Der Junge hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Seit einer halben Stunde lag er so da, die Gedanken in seinem Kopf kreisten wild umher. Noch immer konnte er nicht glauben, dass ein normaler Satz, geschrieben auf Papier, plötzlich real werden konnte. Die Szene vorhin, aus dem Büro, hätte in jeden guten Fantasy-Film gepasst. Vor der grünen Wand gedreht und mit viel Computer-Technik nachbearbeitet, sodass es am Ende spektakulär aussah.

Benno war sich aber sicher, dass es weder ein Film war, noch dass es Nachbearbeitungen gegeben hatte. Es war einfach real gewesen, aber trotzdem genauso spektakulär. Oder doch eher unheimlich? Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Es jagte ihm irgendwie Angst ein, welche Veränderungen sie damit bewirken konnten. Selbst, wenn es erst einmal nur bedeutete, dass Quintessa wusste, was die Hauptstadt von Australien war oder dass Avli plötzlich keinen Hunger mehr auf Erdnüsse hatte.

Diese Veränderungen waren nichtig, aber wenn man weiterdachte, dann konnte man auch ganz leicht große Veränderungen bewirken. Im Prinzip konnten sie alles machen, was sie wollten. Sie brauchten es nur aufschreiben. Heute hätten sie dafür sorgen können, dass Quintessas Eltern, die schon so lange verschwunden waren, plötzlich zur Tür reinkamen. Sie hätten genauso gut aufschreiben können, warum die Prinzessin Abend für Abend zum Ball einlud, aber selbst nie erschien. Dann wäre alles geklärt gewesen, nach dem Quintessa schon lange suchte. Sie hätte Antworten auf alle ihre Fragen gehabt, die sie in diese Welt getrieben hatten. Benno erschien es falsch, das Problem so zu lösen.

Es wären keine fünf Minuten gewesen, ein paar erklärende Sätze zu Papier zu bringen. Die richtige Lösung gab es bestimmt irgendwo, sie würde sich aus den Zusammenhängen ergeben oder einfach im Laufe der Zeit ans Licht kommen. Sie würden dem vorgreifen, wenn sie die Sache heute einfach vorzeitig beendet hätten. Dann wäre Quintessa zwar im Moment geholfen, aber wer sagte denn, dass das nicht später zu Problemen führen würde? Der Graf hatte sich etwas dabei gedacht, einige Dinge nicht sofort aufzuklären, nur war er an dieser Stelle stehen geblieben, weil er nicht weiterschrieb. Benno war sich sicher, dass der Graf genau gewusst hatte, wie er die Geschichte zu Ende bringen und alles aufklären wollte.

Es war sicherlich wesentlich einfacher, etwas über eine Figur zu schreiben, die nur in den Gedanken existierte, die man auf ein Blatt niederschrieb. Dadurch jedoch eine lebende Person zu beeinflussen, die sich im selben Raum aufhielt, die mit ihnen redete und genauso Mensch war wie sie alle, verursachte Benno eine Gänsehaut. Stellte man sich damit nicht über alles andere, was es je gegeben hatte? Das war wie Gott spielen.

Sie könnten nicht nur die Identitäten von Menschen verändern, sie könnten ihre Gedanken lenken und sie könnten schließlich ganz neue Lebewesen erschaffen. Alles, was die Evolution im Laufe der Geschichte hervorgebracht hatte, könnte mit einem Satz dahin sein. Sie könnten sich zu den Herrschern der Welt machen, wenn sie es nur geschickt anstellten. Benno wusste, dass das nur entfernt möglich war, aber wer sagte denn, dass sie diese Entfernung nicht bald überwinden konnten? Heute mochte Avli keine Erdnüsse mehr, morgen machte er sich zum Herrscher über Belfast, übermorgen über die irische Insel und nächste Woche dann die ganze Welt. Sie brauchten einfach nur jemanden, der das alles aufschrieb und eine Geschichte daraus bastelte, so wie es der Graf Jahrzehnte lang getan hatte.

Das war gefährlich, was sie heute entdeckt hatten, wurde sich Benno bewusst. Er bezweifelte zwar, dass sie damit einen kleinen, verfressenen Drachen zum Herrscher über die Welt machen konnten, aber es war dennoch eine große Macht, die dieser Zauber ausübte. Konnte man es Zauber nennen? Oder doch eher Fluch? Benno drehte sich seufzend wieder auf die Seite. Sein ganzer Arm war eingeschlafen, kribbelte von der Schulter bis zu den Fingerspitzen. Warum konnten seine Ferien nicht einfach normal verlaufen?

Einfach seinen Onkel in Belfast besuchen, ab und zu mal einen Tagesausflug nach Belfast machen und die restliche Zeit im Schloss verbringen. Mit Lasse und Dorothea hätte es auch so eine schöne Zeit werden können, aber im Moment waren die Ferien alles andere als Ferien in dem Sinne, wie er es sich vorgestellt hatte. Egal, was sie taten, jedes Mal, wenn sie glaubten, sie wären einen Schritt weiter, trat die nächste Entdeckung zu Tage und stellte sie fast immer vor ein neues Rätsel. Nur mühsam kamen sie voran, das alles aufzuklären.

Selbst, wenn der Zauber ziemlich gefährlich sein konnte, so wäre es doch auch möglich, ihn für ihre Zwecke zu nutzen? Sie durften es nicht übertreiben, sonst würde es irgendwann auffallen und dann mochte Benno nicht an die Probleme denken, die sie dann mit der realen Welt bekamen. Benno schlug das Laken zurück, das er seit Tagen als Decke benutzte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Wieder einmal war es mitten in der Nacht. Es kam ihm so vor als wären er und die anderen in den letzten Tagen eher zu nachtaktiven Lebewesen mutiert.

Die letzten Nächte hatten sie fast immer bis zum Morgengrauen im Büro gesessen, geredet und überlegt. Schlaf war wenn dann nur am Tag möglich, aber selbst da gab es immer was, das sie davon abhielt. Zum Glück dauerten die Ferien noch ein paar Wochen, sie befanden sich noch relativ am Anfang, stellte der Junge erleichtert fest. Schlafen konnte er also noch genug. Im Moment gab es aber wichtige Probleme. Irgendwie kam er sich vor wie in einem Abenteuer-Roman, von denen es so viele gab.

Ein paar Freunde, die in den Ferien zusammen ein Abenteuer erlebten, Kriminalfälle lösten oder sonst etwas Spannendes miteinander durchmachten. Genau genommen war es ja auch so, nur dass es eben echt war. Ein Abenteuer-Roman in der Realität, zum Mitmachen, echter als es jede Verfilmung je sein könnte. Benno musste grinsen, wenn er seinen Gedanken so zuhörte. Es klang fast so als wäre das hier ein Kinderbuch. Dabei war es wesentlich spannender und deutlich besser als den ganzen Tag nur herumzusitzen und nicht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Zwar konnte er niemandem davon erzählen, die es nicht direkt miterlebt hatten, aber das brauchte er auch nicht.

Das würde ihm eh keiner glauben, was er hier erlebte. So realitätsfern das alles war, würden sie ihn eher für einen Wichtigtuer halten. Darauf konnte er gut verzichten. Lasse, Dorothea und er würden sich auch noch in vielen Jahren daran erinnern. Jetzt klang er schon fast so, als wäre alles schon überstanden. Dabei waren sie gerade erst mittendrin. Benno hatte endlich seine Hausschuhe gefunden. Seine Gedanken waren immer verwirrender, wahrscheinlich litten sie am meisten an dem Schlafentzug. Wenn er schon wach war, wollte er die Zeit wenigstens sinnvoll nutzen und nicht nur mit wirren Gedanken verschwenden.

Er zog die Zimmertür auf und trat auf den Flur. Hier war alles ruhig. Nicht einmal ein Holzbalken knarzte vor sich hin. Kein Sturm donnerte um die Hausecken und Regen klatschte auch nicht gegen die Fensterscheiben. Es war fast zu ruhig im Vergleich der letzten Tage. War Ruhe nicht immer ein Zeichen, dass etwas im Gange war oder etwas bevorstand? So verdächtig ruhig, wie es gerade der Fall war, musste es so sein. In dem Moment fiel ihm der schwache Lichtschein auf, der unter der Tür des Büros hervorkroch.

Konnte Lasse auch nicht schlafen? Oder war doch jemand anderes im Büro und machte sich an den Manuskripten zu schaffen? Benno legte schon eine Hand auf die Klinke, aber wusste nicht, ob er wirklich aufmachen sollte. Was, wenn jetzt ein Einbrecher vor ihm stand? So lange es nur einer war, würde er schon mit ihm fertig werden, sprach der Junge zu sich. Dann drückte er die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Die Lampe auf dem Schreibtisch brannte und in ihrem Schein durchwühlte jemand tatsächlich die Manuskripte.


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